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3 Das Mädchen auf dem Monitor

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Vom Bahnhof begab sich Florina durch das Gewühl der Jugendlichen zur Telefonzelle und wartete dort länger als eine halbe Stunde. Doch ihr Freund kam nicht. So ließ sie sich betrübt zwischen Mädchen und Jungen treiben, die außer erfrischenden Plätzen keine bestimmte Richtung zu suchen schienen und wohl nur auf den kühleren Abend mit Feuerwerk und Fackelzug warteten. Der gewittergrünlich gefärbte Himmel schickte vagen Trost auf Linderung der Hitzequa­len.

Florina wurde geschoben von der Menschenmenge, rauchte, nahm mehrere Anläufe, zum Bahnhof hin auszubrechen. Die Unruhe der Stadt jedoch übertrug sich auf sie, hielt sie zurück. So überließ sie sich träumend dem Strom aus selbstversessenen Schritten, Rufen, Gesprächen, Rempeleien, vertrauend auf Zufälligkeiten.

Lachen klang von den Wasserspielen her, die dicht umdrängt, an den Rändern voll besetzt waren. Man lag, saß oder stand, bekleidet in Jeans und Blauhemden, im Wasser oder unter Fontänen. Ihre Körpertemperaturen gesenkt, mischten sich die triefenden Gestalten unter das Gewühl, bis alle Fäden am Körper getrocknet waren. Jede Art von Erfrischung war gefragt, die leiseste Andeutung eines Schat­tens wurde belagert wie eine Oase. Man lehnte an Stämmchen junger Linden, den Kopf unter der winzigen Kugelkrone, oder saß an den Wänden der Marienkirche. Kein Lufthauch. Schwüle. Jeder mühte sich, zu den wenigen Getränkeständen, zur eventuell kühleren Bahnhofshalle, zu den Springbrunnen zu gelangen.

Florina hatte anfangs geglaubt, ihren Freund zu sehen mit einem gewaltigen Strohhut, an der Hand ein Mädchen. Jetzt sah sie ihn im Springbrunnen sitzen, das Mädchen auf seinen Knien. Obwohl sie wusste, dass ihre Fantasie sie belog, stockte ihr mehrmals der Atem. Doch sicher, wie schon häufig, arbeitete er noch schweißgebadet in der Emailliererei, weil ein Kollege der Nachmittagsschicht fehlte.

Unter einem Strebepfeiler des Fernsehturms saßen gedrängt Mädchen und Jungen und sangen Volkslieder, zu denen sie ein junger Mann mit verwegen zottigem Haar aufforderte, der dabei Gitarre spielte. Schonungslos schlug er auf die Saiten und versuchte, die dumpfe Reglosigkeit zu besiegen. Im Takt schlugen seine Zuhörer die Hände auf ihre Schenkel, klatschten, sangen, als spürten auch sie, aus ihren Körpern sei durchaus Begeisterung herauszuklopfen.

Florina war indessen zum Eingang des flachen Glas-Stahl-Baus geschoben worden, vor dem mit Megaphon ein Auktionator unermüdlich kleine Antiquitäten versteigerte. Hier schien sie an der Peripherie des Gewimmels angelangt. Das Drängen hörte auf, man stand. Ein vietnamesischer Chor hatte sich vor den Wasserspielen eingefunden und sang deutsche Volkslieder. Der Auktionator verstummte. Das heitere Lächeln der Vietnamesen, ihr feinstimmiges gebrochenes Deutsch, mit dem sie „Am Brunnen vor dem Tore“ sangen, rührten die Umstehenden, und mit glänzenden Augen klatschten sie, bis das Lied endete.

Florina folgte alsbald einem steten Menschenrinnsal, das in den flachen Bau floss. Die Frau zwischen den Glastüren musterte sie streng durch ihre Brille, als müsste sich das Mädchen erst würdig erweisen, von ihr mit dem Zählwerk registriert zu werden, welches sie mit stolzer Unauffälligkeit in der Hand hielt. Langsam trommelnder Rhythmus empfing sie. Im Sonderpostamt neben der Tür hämmerte ein Sonderstempel Ersttagsbriefe. Dem Postamt gegenüber ein Buchbasar. Hinter einem der Tische kündete eben ein Autor beliebter Schwänke und Volksstücke seine Pfingstmeinung in ein dargereichtes Rundfunkmikrofon und verzierte anschließend Tücher und Bücher seiner Gäste mit seinem Autogramm.

Florina kannte den Namen des Schriftstellers und verharrte. Vor kurzem hatte sie mit ihrem Freund ein Theaterstück von ihm angeschaut. Nun traf sie des Schriftstellers Lächeln. Dieses Lächeln lächelte ganz für sich, galt dem Mikrofon, dem Gedränge vor seinem Tisch und den Ohren, die er vor den Radiogeräten vermutete. Florina aber schien es, als lächelte er nur für sie, dieses Lächeln – mit den großen Zähnen und der unreinen Haut. Sie dachte an den glücklichen Abend nach dem Theaterbesuch. Nun fühlte sie sich betrachtet von diesem Mann, beachtet, angelächelt, und ihr Selbstbewusstsein hob sich. Und so kam es, dass sie dank der gehobenen Stimmung, das schmale Hinweisschild an der Treppe nicht übersah, an der vorüber sie den Raum verlassen wollte. „Wir suchen Fernseh­ansagerinnen. Bewerben Sie sich! Deutscher Fernsehfunk. Außenstudio.“

Zweimal las sie das Schild und fühlte sich angesprochen. Ein wenig erblasste sie bei dem Gedanken der zu erklimmenden Höhe, aber schon begann sie, die ersten Stufen zu überwinden. Blanker geriffelter Stahl. Blauer Teppich, sandig. Orangefarbene Schnipsel. Sie ließ das Gewimmel unter sich und die Gedanken an gestern, und steckte ihren Kopf erwartungsvoll in die erste Etage, eine weite ovale Halle. Ein Ventilator mit Hubschrauberrotoren wehte mit sanfter Frische ein Fluidum großer Entscheidungen entgegen. Flüstern. Gedämpftes Sprechen. Sie fühlte sich angelangt in den Wolken. An der Seite zwischen weiten Fenstern das Studio: Kameras, Scheinwerfer, Tische auf denen Schreibmaschinen standen, begrenzt durch ein locker gespanntes Seil.

„Nummer zweiunddreißig bitte in die Maske!“, rief ein schlanker rotwangiger junger Mann mit Bärtchen. Er winkte mit einem Hefter und verschwand neben der Treppe hinter einer grauen Tür.

Aus der Reihe Mädchen vor dem Studio löste sich eine Blondhaarige und schritt errötend auf das Seil zu. In der Nähe der Treppe auf einem Tisch stand ein Monitor, auf dem bald darauf ihr Gesicht erschien: klein, rundlich, mit unstetem Blick. Die übrigen Bewerberinnen und Neugierige sammelten sich davor und vertieften sich in das Wunder, wie ein Mensch, eben noch schlicht und unbedeutend wie sie selbst, in ein ruhmschaffendes Fernsehporträt verwandelt wurde. Das blasse Gesicht der Blondhaarigen aber hatte keine Chance, das engmaschige Netz der hohen Aufnahmekommission passieren und Anspruch auf dauerhafte Verwandlung anmelden zu können. Schmetterlingsgleich irrte ihr Blick durch die bunte Welt des Ateliers, ohne Kontakt zu dem Auge von Millionen Zuschauern. Des Mädchens Haare waren eine Nuance zu blond gefärbt für ihre Pausbäckchen, ihre Mimik, als ginge es über ihre Würde, zu lächeln, bevor das starre Objektiv ihr diese Freundlichkeit erwiesen hätte.

Florina stand unter den Zuschauern, betrachtete das Gesicht auf dem Bildschirm, sah hinüber zum Studio, las wieder und wieder am Aushang die Bedingungen für eine Bewerbung, rieb sich nervös die Hände, ging hinter den Leuten auf und ab, blickte wieder zum Monitor, hörte den Ruf des jungen Mannes, während die Scheinwerfer verloschen und aufflammten, sah die Maskenbildnerin, die eben der Kandidatin „Nummer dreiunddreißig“ das Gesicht betupfte. Nebenan erhob sich gerade die pausbackige Blondine, ging leicht benommen von der Höhe des Ausblicks aus den Studioseilen, bewundert von den Wartenden als eine Eventuell-oder Beinahe-Ansagerin, ein Minutenfernsehgesicht, hinausgeflimmert, drei Schritte in den Äther.

„Nummer vierunddreißig bitte in die Maske!“, flötete der mit dem Hefter und drückte eine neue Bewerberin auf den Drehstuhl. Indessen saß die nächste Nummer zitternd am Beginn dieser Eintagskarriere und füllte einen Fragebogen aus. Florina wendete sich ab, schlenderte am Studio vorüber ins Rund der Halle, besah sich die dortige Plakatausstellung. Sah die Plakate aber nicht, sah immer nur ihr Gesicht auf dem kleinen Bildschirm.

Fernsehansagerin, dachte sie, und später vielleicht auch Schauspielerin! „Ich werde es versuchen“, hörte sie sich sagen. „Ich versuch’s.“

Hinter einer Plakatwand öffnete sie ihr Handtäschchen, betrachtete sich im winzigen Spiegel, blickte resigniert auf ihre Sommersprossen, hob die Augenlider, lächelte spöttisch, färbte behutsam ihre Lippen nach, durchkämmte ihr Haar.

Hässlich bin ich nicht, dachte sie, doch erinnerte sie sich der hübschen Mädchen vom Bildschirm und der vor den Studioseilen, und ihr Mut sank. Als der Ausstellungsrundgang sie zum Studio zurückführte, schritt sie trotzig, ohne nach links oder rechts zu sehen, auf das Sperrseil zu.

Ein Mann in weißem Kittel und Baskenmütze empfing sie am Tisch und erklärte ihr ausgiebig, er sei für sie nicht zuständig, sondern verkaufe für das Solidaritätskonto originale Programmbilder. Er lächelte dieses Lächeln-für-mich-und-für-jeden und blickte durch sie in die Ferne, als säßen ihre Augen am Kinn. Florina kannte den Mann aus ihrer Kinderzeit. Sonntags hatte er sie zur Märchenstunde vom Bildschirm begrüßt. Nun sah sie, dass es diesen Mann in Wirklichkeit gab, dass dieses Schirmbild lebte, und war verwirrt. Sie legte Geld auf den Tisch, erhielt ein Pappbild und ein Lächeln, das diesmal ihr rechtes Ohr zu treffen schien.

Mit dem Bild in den Händen stand sie schließlich am Start dieses unverhofften Neubeginns und erhielt ein Kärtchen mit einer Zahl. Am Nebentisch empfing sie eine freundliche Dame, die Florinas Namen in eine Liste schrieb und sie dann auf den Stuhl neben sich „in die Maske“ schickte. Hier durfte sie den Kopf zurücklehnen, um von einer gestrengen bleichen Frau mit Haarknoten geschminkt, gepudert und frisiert zu werden. Schließlich nahm sie auf dem Drehstuhl vor der Kamera Platz.

Jetzt tänzelte der Rosawangige heran, setzte sich schräg vor sie auf einen Campingstuhl, wies zum roten Punkt unter dem Objektiv: Dort möge sie bitte beim Sprechen hinschauen. Seitlich von ihr flammte Licht auf und degradierte den hellen Tag ringsum zu Grauschatten. Hinter dem Kamerastativ grätschten sich Beine. Der junge Mann klappte seinen Hefter auf, tauchte darin unter mit seinen Blicken und stellte wohlartikuliert eine Reihe von Fragen zu ihrem Leben. Als er sie übermittelt und schüchterne Antworten erhalten hatte, schloss er seinen Hefter und bat sie, irgendein Erlebnis zu erzählen. Er schlug die Beine übereinander und sah interessiert auf seine Finger, während Florina dem roten Punkt stockend und unsicher eine belanglose Begebenheit erzählte.

Dann erhob sich der junge Mann, reckte sich ein wenig und sagte: „Das war’s schon. Bitte warten Sie einige Minuten.“ Er lächelte durch ihr Haar hindurch ins Rund der Halle, strich seinen Schnurrbart und tänzelte mit seinem Hefter aus dem Studio.

Die gegrätschten Jeans, die angewinkelten Arme hinter der Kamera verschwanden. Die Scheinwerfer hinterließen Augenblicksdämmerung. Florina saß jetzt allein. Ihr Gesicht lächelte blass, von roten Flecken übertupft, und ihr Blick hüpfte unablässig von ihren Händen wie fragend auf den roten Punkt unter dem Objektiv. Ein freudiges Zittern befiel sie, das sie zu unterdrücken suchte, indem sie fest die Hände aneinander rieb. Sie schloss lächelnd die Augen und sah sich auf dem Bildschirm: ihr welliges rotblondes Haar, ihre engstehenden blauen Augen, den kleinen vollen Mund, die unter der Schminke verblassten Sommersprossen, sah sich als Fernsehbild. Dann erblickte sie sich umringt von ihren Freundinnen. Man überreichte ihr Blumen, stellte schüchtern Fragen, maß sie bewundernd, warb um sie.

Sie öffnete die Augen und dachte: Ich darf nicht hochmütig werden, hochnäsig. Ich werde bleiben wie bisher. So, als arbeitete ich noch immer in der Bäckerei. Sie konnte sich die Veränderungen, die mit dem neuen Beruf in ihr Leben kämen, nur unklar vorstellen und fürchtete, sich gänzlich zu verändern, ihre bisherigen Freundinnen und Bekannten zu verlieren.

Das Stimmengewirr der Halle hüllte Florina ein wie Traumnebel, als gehörte sie von jeher dazu, als wäre sie nie etwas anderes gewesen als ein Teil dieser gewichtigen Betriebsamkeit.

„Nummer achtunddreißig bitte in die Maske!“, hörte sie wieder die Stimme des jungen Mannes hinter dem Absperrseil. Er winkte jemandem mit dem Hefter und verschwand hinter einer grauen Tür im Betonzylinder inmitten der ovalen Halle.

Florina löste ihre Finger voneinander, stützte sie auf den Stuhl, drehte sich mit ihm verträumt-lässig und zuckte schmunzelnd mit den Lippen. Sie träumte, ihr Freund müsste sie sehen, und ihre Eltern erst. Und sie stellte sich deren verblüffte Gesichter vor, blickte sie vom Bildschirm direkt in ihr Zimmer.

Meine Kolleginnen, dachte sie, werden sagen: Sie war mal Verkäuferin bei uns. Hier, an diesem Platz, hat sie gestanden. Sie ließ zwar hin und wieder ein Blech voller Kameruner oder Kokostörtchen aus den Händen rutschen, weil sie träumte, hat anfangs auch Zucker- und Geleekuchen übereinandergestapelt, aber pünktlich war sie, und die Kassette mit dem Wechselgeld stimmte bei ihr. Wir sagten immer schon, in dem Mädchen steckt mehr als man sieht.

Die Worte der Frauen aus dem Laden, die sie zu hören glaubte, ermutigten Florina. Ich werde mich bemühen, deutlicher zu sprechen, sagte sie sich. Jede Silbe deutlich artikulieren. Und sie spitzte die Lippen und sprach einige Sätze vor sich hin. Das Rauchen werde ich aufgeben, das schadet der Stimme, tut einer Frau ohnehin nicht gut.

Vom weißen Seil her blickten Zuschauer. Eltern deuteten auf sie, erklärten ihren Kindern etwas. Mädchen tuschelten, hoben fragend die Schultern, nickten. Von Zeit zu Zeit bewegte sich durch das ehrfürchtige Flüstern gewichtig hocherhoben ein bekanntes Fernsehgesicht zur grauen Tür oder kam dort heraus.

Florina blickte wieder fragend zur Kamera. Das Objektiv stierte sie noch immer an, undurchdringlich, humorlos, ohne zu zwinkern, schien sie zu beobachten. Ein Fensterchen, durch welches sie jeder sehen konnte. Sie fühlte sich mit einem Mal nackt, begann trotz der Schwüle zu frösteln.

Wo bin ich da hineingeraten? Sie begann an sich zu zweifeln, an ihren Kräften. Man wird mich auslachen. Vielleicht auch bin ich zu still. Man wird mich nicht nehmen. Weshalb sitze ich überhaupt hier? Ronald wird sagen: Kindergärtnerin zu werden für behinderte Kinder, das war dein Traum. Und nun? Du weißt nicht, was du willst.

Florina fühlte sich plötzlich allen Leuten gegenüber, die es gut gemeint hatten mit ihr, undankbar; fühlte sich unbescheiden, als hätte sie ihre guten Vorsätze aufgegeben, nicht so sehr an sich, mehr an andere zu denken, als würde sie sich besonders wichtig nehmen. Sie erhob sich durchatmend, nahm ihr Täschchen, das über der Stuhllehne hing, wollte gehen, eine Mitteilung nicht abwarten. Die hektischen Flecke auf ihrem Gesicht waren verblasst.

Die graue Tür dem Studio gegenüber öffnete sich, und der junge Mann erschien. Inmitten der Herumstehenden unterhielt er sich lebhaft gestikulierend mit einhereilenden Fernsehmitarbeitern, deren Gesichter eine gewichtige Miene zeigten.

Ach, sagte sich das Mädchen, dann war es eben ein Spaß. Niemand erfährt von meinem Erlebnis. Auch Ronald nicht. Später vielleicht einmal.

Der junge Mann hob die Seilsperre und kam auf sie zu, den Hefter unter dem Arm, die Hände einträchtig auf dem Bauch. Und während sein Daumen seinen Handrücken streichelte, bedankte er sich zum siebenunddreißigsten Mal an diesem Tag für das „interessante Gespräch“, wiederholte sein eingefrostetes Lächeln und den Satz: „Unsere Antwort erhalten Sie schriftlich.“

Veröffentlicht in „Lied der Grasmücke“,

Verlag Neues Leben, Berlin, 1987

Immer den Fluss entlang

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