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DIE ZEITZEUGIN

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SEPTEMBER 2010

Eine halbe Stunde Verspätung zeigte die Anzeigetafel für den Flug Kiew–Nürnberg an. Der Rentner und die junge Pfarrerin saßen in der Halle des Flughafens und vertrieben sich die Wartezeit bei einem Cappuccino. Sie gehörten zu einem Arbeitskreis, der die verschwiegenen und verdrängten Geschehnisse im „Arbeitserziehungslager“ Langenzenn aufarbeiten und für die Opfer ein Mahnmal schaffen wollte.

Die beiden waren aufgeregt, denn sie erwarteten eine Frau, die vor siebenundsechzig Jahren mit dem Viehwaggon nach Deutschland deportiert worden war. Nun bezahlte ihr das Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung in Nürnberg den Flug, um sie nach so langer Zeit als Zeitzeugin zu hören. Man wusste nichts von ihr außer dem, was sie in einem langen Brief erzählt hatte.

Die Aufregung der Wartenden wuchs, nachdem das Flugzeug gelandet war und die ersten Fluggäste durch die Passkontrolle drängten. Eine schlanke, weißhaarige Frau stand am Schalter der Fluglinie und kramte in ihrer Handtasche. Von den beiden Trageriemen gehalten lag die Jacke ihres grauen Hosenanzuges auf der Reisetasche zwischen ihren Beinen. Die weiße Bluse war tief ausgeschnitten, ein silbernes Ketthen mit einem Kreuz schimmerte an ihrem Hals. In den kurz geschnittenen Haaren steckte eine Sonnenbrille.

„Das ist sie“, sagte der Mann.

„Nein“, widersprach die Pfarrerin, „die ist zu jung. Unsere Frau ist steinalt, die läuft nicht kerzengerade. Die trägt gewiss nicht Hosenanzug und Sonnenbrille.“

Sie waren verblüfft, als die Frau auf sie zukam und in akzentfreiem Deutsch fragte: „Entschuldigung, kennen Sie Langenzenn?“

„Ja, und Sie sind Valentina Bosek aus Dnpr… Entschuldigung, ich kann das nicht aussprechen.“

Valentina lächelte. Ihre Augen glänzten, die schmale Unterlippe schob sich hinter die obere Zahnreihe. Ihre sehnige Hand winkte verlegen ab. „Ach je“, meinte sie etwas verlegen. „Hab Äbiernbobbäli auch nie sagen können. Ich weiß noch, dass der Bub auf dem Hof, wo man mich versteckte … Sie kennen meine Geschichte?“

Die beiden nickten. „… haben Ihre Briefe gelesen, Frau Bosek.“

„Sie wissen, was Äbiernbobbäli sind?“

Die beiden schüttelten den Kopf. „Die kleinen Kartoffeln, die daumengroßen. Tagelang haben wir im Erdreich nach ihnen gewühlt.“

Der Rentner nahm ihr die Reisetasche ab, dann gingen sie zum Auto. Die beiden Frauen setzten sich auf die Rückbank.

„Ihr Land hat sich verändert“, sagte die alte Dame. „Hab nur noch Trümmer in Erinnerung.“

Die Unterhaltung geriet während der Fahrt ins Stocken. Valentinas Augen wanderten hin und her, der Glanz in ihnen verriet Erstaunen.

Am Rathaus wurde sie vom Bürgermeister, vom katholischen Pfarrer und von den anderen Mitgliedern des Arbeitskreises erwartet. Im Foyer gab es einen kurzen Empfang, Begrüßungsreden wurden gehalten, der Metzger servierte Bratwürste mit Sauerkraut, die örtlichen Pressevertreter fotografierten und notierten.

Noch am selben Abend begleitete die Gruppe ihren Gast zum Standort des ehemaligen Straflagers.

Ein frischer Wind blies ihnen ins Gesicht, als sie aus den Autos stiegen. Die Bäume begannen schon ihre Blätter abzuwerfen, das Laub raschelte, tanzte im Wind. Valentina ging zum Gedenkstein, überflog die Gravur auf der Stahltafel, dann lief sie ein Stück die Straße hoch. Sie tastete sich an den Rand der Böschung heran, während sich die Gruppe im Hintergrund hielt und fast ehrfürchtig schwieg.

Lange verharrte sie still. Die Frau blickte hinunter in eine Grube, groß wie ein Fußballfeld, von steilen Hängen gesäumt. Gras und Brennnesseln überwucherten einen Teil des Bodens. An der Nordseite trennte ein niederer Zaun das Areal von einem Industrielager ab. Gegen das Ufer eines kleinen Baggersees, auf der Südseite des ehemaligen Lagers, trieben zarte Wellenkämme.

Die Menschen im Hintergrund hatten Tränen, zumindest Emotionen erwartet, doch Valentinas Augen waren trocken, als sie zurückkehrte. „Viele Jahre sind vergangen“, sagte sie leise. „Nichts ist mehr so, wie es war. Aber hier“, sie deutete auf ihre Stirn, „hier ist nichts vergessen …“

Valentina

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