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1. Vorbemerkung

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Was würde Ihre Tochter sagen, wenn ich sie fragen würde, ob ihre Eltern sich noch lieben? Wenn Sie wollten, daß Ihre Frau sich einen Freund sucht, wie könnten Sie das am ehesten schaffen? Stellen Sie sich vor, eine gute Fee käme und würde Ihnen Ihr Problem wegzaubern, was würden Sie dann morgen früh anders machen als an den Tagen zuvor? Was denkt Ihr Mann, wenn Sie mit Ihrem Sohn gemeinsam in den Judo-Kurs gehen? Wenn Sie so weinen, wie fühlt sich Ihre Schwiegermutter?

Dies sind nur einige – und zudem noch harmlose – Beispiele des Typs von Fragen, mit denen alltäglich systemische Therapeuten oder Berater ihre Klienten oder Patienten überraschen. Ihr Interviewstil scheint vielen Regeln psychotherapeutischer Orthodoxie zu widersprechen. Der Therapeut ist aktiv, übernimmt, ohne daran allzuviel Zweifel zu lassen, die Leitung der Sitzung und fragt seinen Kunden Löcher in den Bauch. Meist hat er mit mehreren Personen zu tun: Familien, Gruppen, manchmal auch mit Einzelnen. Dabei zeigt er wenig Respekt auch gegenüber heiklen oder peinlichen Themen. Er fragt – was den gewohnten Regeln des guten Benimms widerspricht – den einen der Beteiligten über den anderen, das Kind über die Interaktion der Eltern, den Vater über die Beziehung von Mutter und Tochter, den Sohn über den Umgang von Vater und Großmutter usw. –, obwohl oder gerade weil diejenigen, über die hier „geklatscht“ wird, mit im Raum sind. Seine Fragen sind manchmal schamlos, gelegentlich absurd und oft banal.

Diese Methode – das sogenannte Zirkuläre Fragen1 – bildet eines der wichtigsten Instrumente im Handwerkskoffer des systemischen Therapeuten oder Beraters. Sie ist in ihrer Wichtigkeit für die systemische Praxis eigentlich nur mit der Bedeutung der Traumdeutung für die Psychoanalyse vergleichbar. Beides sind Methoden, die den Blick auf einen Bereich von Phänomenen eröffnen, der üblicherweise nicht systematisch beobachtet wird und daher nicht ins Bewußtsein tritt. Beides sind Methoden, die es dem außenstehenden Beobachter erlauben, Ideen über diejenigen Prozesse zu entwickeln, die dafür sorgen, daß ein System so funktioniert, wie es funktioniert. So, wie die Traumdeutung es dem außenstehenden Beobachter ermöglicht, einen Blick auf die Logik intrapsychischer Prozesse zu richten, ermöglicht es das Zirkuläre Fragen, Ideen über die Logik der Spielregeln sozialer Systeme zu entwickeln. Und so, wie die praktische Arbeit mit den Träumen der Patienten zur Weiterentwicklung vielfältiger psychodynamischer Theorien und Methoden geführt hat, hat das Zirkuläre Fragen zur Weiterentwicklung theoretischer und praktischer Konzepte der systemischen Therapie und Beratung geführt.

Dieser Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis ist demjenigen, der nur (etwa durch eine Einwegscheibe) beobachtet, was systemisch arbeitende Therapeuten tun, oder nur ihre Theorien studiert, häufig nicht unmittelbar erkennbar. Beides gehört jedoch untrennbar zusammen: Die Theorie kann nur im harten Praxistest ihre Nützlichkeit erweisen, und die Praxis gerät ohne theoretische Aufarbeitung der Erfahrung früher oder später in einen Entwicklungsstillstand. Diese Überlegungen liefern den sachlichen Hintergrund für das Verfassen dieses Buches.

Es gibt aber noch ein sehr persönliches Motiv: Dieses Buch ist das Gemeinschaftsprodukt eines Koautoren-Paares. Wir beide sind Psychotherapeuten, die eine unterschiedliche theoretische und praktische Orientierung haben. Der eine von uns, Fritz B. Simon (FS), hat seine berufliche Identität als systemischer Therapeut und Berater gefunden; er hat eine ganze Reihe von Büchern und Artikeln veröffentlicht, in denen er seine Erfahrungen theoretisch zu konzeptualisieren versucht hat. Überblickt man das, was er geschrieben hat, so erscheint es vielen Leuten (auch der Koautorin) eher theorielastig. Das ist erstaunlich, denn er sieht sich selbst als Praktiker, für den Theorie nicht mehr (aber auch nicht weniger) als ein Handwerkszeug ist, das dabei helfen kann, die alltägliche praktischtherapeutische Arbeit zu erledigen. Dieser Unterschied zwischen Außenwahrnehmung und Selbstbeschreibung wurde und wird in der nicht zu vermeidenden Auseinandersetzung mit der zweiten Autorin dieses Buches, Christel Rech-Simon (CRS), immer wieder besonders deutlich. Sie selbst ist analytische Kinder- und Jugendlichentherapeutin und verfolgt den „Rummel“ und die „Aufregung“ um die systemische Therapie – häufig auch von ihrem Partner/Ehemann/Ko-autor mitveranstaltet – mit kritischer Distanz. Wenn für sie auch der Reiz des abstrakten systemischen „Theoriegeschwätzes“ immer nur sehr begrenzt war, so konnte sie sich doch einer gewissen Faszination, die von der praktischen systemischen Methodik, wie sie durch die Einwegscheibe oder per Video beobachtbar war, nur schwer entziehen. Auf jeden Fall erschien ihr dieser Teil der systemischen Therapie weit bedeutsamer als all die „sterilen“ theoretischen Erörterungen. (Daß wir hier nicht ganz einer Meinung sind, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung.)

Auf jeden Fall ist so die Idee und die Verfahrensweise für die Herstellung dieses Buches entstanden: CRS hat Video-Bänder von Familientherapien, die in den letzten 15 Jahren von FS (manchmal gemeinsam mit anderen Heidelberger Kollegen) durchgeführt wurden, gesichtet und eine Auswahl von Therapien und Sitzungen bzw. Sitzungsausschnitten gewählt, die aus ihrer Sicht von prinzipiellem Interesse sind; entweder weil sie methodisch aufregend (in welchem Sinne auch immer) sind, oder aber weil die Dynamik der Familie bzw. die Therapeut-Familie-Interaktion spannend (oder auch entspannend) ist. Wo immer sie Fragen, Einwendungen oder Kommentare hatte, wurde über Sinn und Unsinn der Maßnahmen des/der Therapeuten diskutiert. Es ging dabei nicht um die Frage, ob psychoanalytische oder systemische Therapieansätze „besser“ oder „schlechter“ sind, sondern um den Versuch, die häufig überraschend, unorthodox, ja, manchmal ausgesprochen „falsch“ erscheinenden Methoden der systemischen Therapie all denen zu erklären und verständlich zu machen, die ihre Erwartungen an einem traditionell psychotherapeutischen Rollenverständnis orientieren.

Da es nicht Ziel dieses Buchprojektes war, das Protokoll eines ehelichen Selbsterfahrungsexperiments zu liefern, haben wir darauf verzichtet, die Dialoge und Auseinandersetzungen, die sich so ergaben, zu dokumentieren. Statt dessen haben wir uns damit begnügt, ihre Resultate abzudrucken. Ergebnis ist eine Sammlung kommentierter Transkripte. Auf diese Weise kann der Leser der Konversation, dem Frage- und Antwortspiel zwischen Therapeut(en) und Klienten, dem gegenseitigen Drehen und Wenden, folgen und anhand der eingefügten Kommentare nachvollziehen, wie sich das Geschehen aus einer systemischen Perspektive verstehen läßt.

Eines der Merkmale von Theoriebüchern besteht darin, daß in ihnen im allgemeinen versucht wird, einen roten Faden zu spinnen. Das eine Argument führt zu einem anderen, das andere ergibt sich aus dem einen. Auf diese Weise wird ein in sich schlüssiges, im Idealfall logisch widerspruchsfreies Modell konstruiert. Der Weg, den der Leser zu beschreiten hat, folgt der Argumentationslinie des Autors (natürlich nur, wenn er ihm folgen will oder kann). Die Ordnung des Ganzen ist geradlinig: Die einzelnen Themen sind gemäß einem inneren, sachlichen (objektiven) Zusammenhang nacheinander geordnet. Das heißt, die Reihenfolge der behandelten Themen wird von sachlichen Erwägungen des Autors bestimmt.

Wer diese Art der Ordnung sucht, wird beim Lesen dieses Buches verzweifeln. Da es in seiner Struktur weitgehend vom Ablauf von Therapiesitzungen bestimmt wird, hängen die jeweils behandelten Fragen ebenfalls von der Dynamik und Ordnung dieser Sitzungen ab. Das heißt, die Reihenfolge der behandelten Themen wird von persönlichen (subjektiven) Erwägungen der Klienten, Patienten oder Therapeuten bestimmt.

Als Therapeut kann man dabei zwar – je nach Methode – mehr oder weniger direktiv Einfluß auf die Richtung des Gesprächs nehmen, man hat aber keine Kontrolle über das, was die Gesprächspartner sagen. Jede Therapiesitzung entwickelt daher ihre eigene, unverwechselbare Dynamik und Ordnung. Der während der Sitzung unter Handlungsdruck stehende Therapeut braucht – wenn er nicht nur seiner Intuition folgen will – einen anderen, nicht geradlinig hintereinander geordneten Zugang zur Theorie. Wie jeder andere Handwerker auch muß er direkten und schnellen Zugriff auf die Werkzeuge haben, die er aktuell braucht. Und welche er benötigt, kann von Sekunde zu Sekunde wechseln.

Dieser Tatbestand spiegelt sich in der Struktur dieses Buches. Der Ablauf der jeweiligen Sitzungen bestimmt die behandelten Themen und Frageformen, das heißt, die einzelnen Themen werden dann und dort behandelt, wo sie praktisch relevant werden. Da der Abdruck kompletter Sitzungen den Umfang des Buches sprengen würde, haben wir in sich geschlossene Abschnitte ausgewählt. Sie sind so ausführlich, wie es uns zur Illustration einer Fragestrategie oder einer Familiendynamik nötig erschien. Wenn am Beispiel der einen Familie ein Thema abgehandelt wurde, haben wir die Behandlung der analogen Themen bei der nächsten Familie nicht abgedruckt. Wie beim Zusammensetzen eines Puzzles werden von Sitzung zu Sitzung einzelne Bausteine scheinbar ungeordnet aneinander gefügt. Erst im Laufe der Zeit fügt sich dann das Ganze (so hoffen wir zumindest) zu einem Gesamtbild. Die thematische Gliederung des Buches folgt dabei thematisch dem idealtypischen Ablauf einer Therapiesitzung. Um die unvermeidliche Verwirrung des Lesers in erträglichen Grenzen zu halten, haben wir die in den einzelnen Kapiteln behandelten Themen durch die Stichworte und den Namen der jeweiligen Familie gekennzeichnet. Auf diese Weise kann sich der Leser entscheiden, sich entweder an den genannten Inhalten zu orientieren oder aber einer Falldarstellung von Anfang bis Ende zu folgen. Die Transkripte sind redaktionell mit wenigen Einschränkungen die wörtliche Wiedergabe dessen, was Therapeuten und Klienten sagten. Redaktionell wurden sie nur soweit geglättet, wie es der Lesbarkeit wegen nötig erschien (d. h. aus „nö“ wurde „nein“, manche „Ähs“ und „Ohs“ wurden gekürzt). Dennoch sollte klar sein, daß jede rein sprachliche Wiedergabe eine Reduktion der Komplexität menschlicher Kommunikation darstellt, da die non- und paraverbale Kommunikation nicht angemessen dokumentiert werden kann.

Am Ende des Buches haben wir, um die in den Fallbeispielen illustrierten Methoden und Techniken der systemischen Therapie zusammenzufassen, schematisch darzustellen versucht, wie eine idealtypische Sitzung abläuft, welche Frageformen dem Therapeuten zur Verfügung stehen und welche Interventionsmöglichkeiten er hat.

Bleibt zum Schluß noch anzumerken, daß die Namen und persönlichen Daten der Patienten und Familien so geändert wurden, daß ihre Anonymität gesichert ist.

Diejenigen Leser, die sich nach dem Lesen dieses in seiner Form und Entstehung eher experimentellen Buches mit der bewährten akademischen Frage quälen: „In der Praxis funktioniert es, aber tut es das auch in der Theorie?“, seien auf die in ihrer Form traditionelleren Erörterungen der theoretischen Grundlagen des hier dargestellten systemischen Therapieansatzes in den Büchern Unterschiede, die Unterschiede machen und Die andere Seite der Gesundheit2 verwiesen.

1Dieser Begriff wurde ursprünglich vom Mailänder Team um Mara Selvini Palazzoli geprägt, um damit den Typ von Fragen zu bezeichnen, bei dem ein Familienmitglied über zwei andere Auskunft geben soll [vgl. Selvini Palazzoli, M., L. Boscolo, G. Cecchin, G. Prata (1981): Hypothetisieren – Zirkularität – Neutralität: Drei Richtlinien für den Leiter der Sitzung. Familiendynamik 6, S. 123–139]. In der Literatur wird er in uneinheitlicher Weise gebraucht: Neben der genannten Weise wird er auch als Oberbegriff für systemische Interviewtechniken im allgemeinen verwendet [vgl. Penn, P. (1983): Zirkuläres Fragen. Familiendynamik 8, S. 198–220; Tomm, K. (1994): Die Fragen des Beobachters. Heidelberg (Carl-Auer)]. Hier soll er gewissermaßen als Markenzeichen des systemischen Therapeuten genutzt werden, d.h. als umfassende Bezeichnung für systemische Interviewtechniken und nicht nur für einen einzelnen Fragetypus.

2Simon, F. B. (1988/93): Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie – Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik. Frankfurt (Suhrkamp), 5. Aufl. 2011. Simon, F. B. (1995): Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie. Heidelberg (Carl-Auer), 3. Aufl. 2012.

Zirkuläres Fragen

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