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I. DAS INTERVIEW 2. Die Bedeutung der Therapie / Kontextklärung / Die Neutralität des Therapeuten (Familie Schneider)

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Wer als Psychotherapeut arbeitet, hat im allgemeinen ziemlich klare Vorstellungen davon, was unter „Therapie“ zu verstehen ist. Schließlich hat er Jahre seines Lebens damit zugebracht, therapeutische Theorien und Techniken zu erlernen. Für seine Patienten oder Klienten stellt sich die Situation ganz anders dar: Es beginnt damit, daß es eine Reihe von Berufen und Berufsbezeichnungen gibt, die alle ziemlich ähnlich klingen und für den Laien kaum zu unterscheiden sind (Psychotherapeut, Physiotherapeut, Psychologe, Psychopath, Psychiater, Psychotiker usw.), so daß bereits hier die Verwirrung beträchtlich sein kann. Aber selbst wenn klar ist, daß von Psychotherapie die Rede ist, weiß eigentlich keiner genau, was sich hinter dieser magischen Formel verbirgt. Zwischen dem, was Therapeuten unterschiedlicher Schulen über die Entstehung von Symptomen denken, was sie für therapeutisch nützlich oder schädlich halten, und dem, was sie im Umgang mit ihren Kunden tun, gibt es nur begrenzte Übereinstimmung.

Eine der Konsequenzen solcher Unklarheiten ist, daß Patienten eigentlich nie wissen, was sie in der Therapie erwartet, und Therapeuten eigentlich nie wissen, was Patienten oder Familien in der Therapie erwarten. Die Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten beginnt nicht erst in dem Moment, in dem sie sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht begegnen, sondern sie hat eine Vorgeschichte, die sich in Hoffnungen, Befürchtungen und Vorurteilen der Klienten zeigen. Sie bilden den Ausgangspunkt einer jeden Psychotherapie.

Bei der Paar- und Familientherapie zeigt sich im Vergleich zur Einzeltherapie eine Besonderheit: Wo der Therapeut es mit mehreren Personen zu tun hat, findet er sich eigentlich immer in einer Situation, in der seine Klienten der „Therapie“ ganz unterschiedliche Bedeutungen zuweisen; verbunden damit sind verschiedene, manchmal gar widersprüchliche Erwartungen an den Therapeuten und sein Handeln.

Die Ausschnitte aus dem folgenden Erstgespräch sollen zeigen, wie wichtig die Klärung dieses Kontextes der Therapie für die Entwicklung der therapeutischen Beziehung ist.

In die Therapie kommt ein Ehepaar, beide etwa gleich alt (Mitte 40); er arbeitet als Ingenieur in leitender Stellung in einem international tätigen Großunternehmen; sie hat bis zur Geburt der Kinder als Sozialpädagogin gearbeitet. Die beiden haben drei Kinder im Alter zwischen 12 und 5 Jahren. Identifizierte Patientin ist die Ehefrau, die schon mehrfach in stationärer psychiatrischer Behandlung war. Vor dem Gespräch haben beide einen Fragebogen ausgefüllt, aus dem die wenigen hier genannten Daten ersichtlich sind. Das Gespräch findet in einem Raum mit Einwegscheibe und Videokameras statt. Die Therapeuten in dieser Sitzung sind Fritz B. Simon und Gunthard Weber. Die Kommentare des Transkriptes sind durch Kursivdruck hervorgehoben.


Das Paar und die Therapeuten nehmen Platz. Die beiden schauen sich um.

FRITZ SIMONJa, Sie schauen sich um. Ich möchte Ihnen zuerst einmal diesen Raum und unsere Arbeitsweise erklären. Ich weiß nicht, ob Sie unseren Brief bekommen haben? Normalerweise schicken wir einen Brief, in dem wir schreiben, wie wir arbeiten.

Da unsere Arbeitsweise – Teamarbeit, Videoaufzeichnung, Beobachter hinter einer Einwegscheibe – von dem abweicht, was üblicherweise bei einem Arztbesuch zu erwarten ist, informieren wir unsere Patienten im voraus, um ein Gefühl der Überrumpelung zu vermeiden. Das heißt, eigentlich senden wir solch einen Brief … Da dies hier – warum auch immer – offenbar nicht geschehen ist, bedarf es längerer Erklärungen.

HERR SCHNEIDER(hastig, ins Wort fallend) Nein, überhaupt nicht. Da gab’s also überhaupt einige Unklarheiten, und wir würden das auch erstmals als Vorgespräch auffassen.

FRITZ SIMONDas wollte ich Ihnen auch gerade sagen, daß wir das wollen. Aber bevor wir überhaupt über irgend etwas reden, muß ich Ihnen den Raum erklären, damit Sie wissen, ob Sie überhaupt den Mund aufmachen wollen … Sie sehen, wir haben hier einige Apparate. Wir arbeiten hier im Rahmen eines Forschungsprojektes in einem Viererteam. Das heißt, zu dem Viererteam gehört noch der Herr Weber, den sehen Sie hier neben mir, der Herr Stierlin, der hinter dieser Scheibe sitzt, und der Herr Retzer, der auch hinter der Scheibe sitzt.

Solch eine Teamzusammensetzung mit zwei Personen im Raum und zwei Personen hinter einer Einwegscheibe ist natürlich ein Luxus, der im allgemeinen nur im Rahmen von Forschungsprojekten finanziert werden kann. Im Alltagsbetrieb einer Klinik oder Praxis ist ein derartiger Aufwand sicher nicht nötig, manchmal auch nicht sinnvoll. Auch als einzelner Therapeut kann man Familientherapie betreiben. Dennoch besteht kein Zweifel, daß sich durch Teamarbeit – mit oder ohne Einwegscheibe – therapeutische Optionen ergeben, die einem einzelnen Therapeuten verschlossen bleiben. Dazu später mehr …

FRITZ SIMONWir machen von solchen Sitzungen immer Videoaufnahmen, damit wir es uns noch einmal anschauen können und damit Sie es sich noch einmal anschauen können – wenn Sie wollen. Das hat sich bewährt. Das ist etwas, was häufig vorkommt, daß Familien sagen: Wir wollen uns das gern noch einmal anschauen. Wenn Sie am Ende so einer Sitzung, dieser Sitzung, dieses Vorgesprächs, das Gefühl haben sollten, da ist irgend etwas gesagt worden, was Sie auf gar keinen Fall auf Band haben wollen, dann sagen Sie es. Dann löschen wir das gleich.

Hier stellt sich natürlich die Frage nach der Vertraulichkeit und Intimität psychotherapeutischer Sitzungen. In der Familientherapie entsteht von Beginn an eine andere Situation als in der Einzeltherapie, da die Zweierbeziehung zwischen Patient und Therapeut die Ausnahme darstellt. Wer sich in der Sitzung äußert, weiß, daß mehrere Personen zuhören. Er wird daher von Anbeginn vorsichtiger und zurückhaltender sein, manches nicht sagen, was er in der Intimität und Vertraulichkeit einer Zwei-Personen-Situation offenbart hätte. Das hat weitreichende Folgen für die therapeutische Beziehung: Jeder Teilnehmer an solch einer Sitzung behält die Verantwortung für die Bewahrung seiner Geheimnisse. Der Therapeut wird nicht in gleichem Maße wie in der Einzeltherapie zum Vertrauten einer einzigen Person. Seine Verantwortung gilt allen, den beiden Partnern, der ganzen Familie. Sie ist daher sowohl umfassender als auch begrenzter als in der Einzeltherapie.

Einwegscheibe und Videokamera haben aber noch eine andere Wirkung: Es wird stillschweigend und ohne Worte eine Außenperspektive eingeführt. Wer sich beobachtet weiß, verhält sich anders, als wenn er sich unbeobachtet fühlt. Das mag einer der Gründe sein, warum Therapeuten sich häufig scheuen, sich filmen zu lassen. Ihre Arbeit würde dann auf einmal überprüfbar, mehr oder auch weniger wohlmeinende Kollegen oder gar die Öffentlichkeit könnten die Videobänder anschauen und ihr Urteil über die Qualität der Therapeut-Patienten-Beziehung oder die Arbeitsweise des Therapeuten abgeben. Traditionellerweise ist die Einstellung von Psychotherapeuten zur Kontrolle ihrer Arbeit seltsam gespalten: Auf der einen Seite wird die Wichtigkeit regelmäßiger Supervision und einer ausführlichen Reflexion der Therapeut-Patienten-Beziehung betont und daher zu einem wichtigen Bestandteil der Ausbildung gemacht, auf der anderen Seite hat aber jeder Therapeut das Privileg, vollkommen unbeobachtet zu arbeiten. Was er macht, findet hinter gepolsterten Türen statt, so daß kein Kollege zufällig hören kann, was tatsächlich in der Sitzung geschieht. Die Kontrolle seiner Arbeit beschränkt sich darauf, daß er selbst erzählt, was er meint, was wer wie gesagt hat, was passiert ist, was wichtig war usw. Der Patient ist daher immer irgendwie dem Therapeuten ausgeliefert: Ein anerkannter Experte steht jemandem gegenüber, der psychische Probleme hat. Das ist ein wenig so, als wenn sich Geschwindigkeitskontrollen darauf beschränkten, Autofahrer zu befragen, wie schnell sie denn gefahren seien. Um solch einer Situation zu entgehen, kommen gelegentlich Patienten gerade deswegen zu uns, weil sie wissen, daß jemand zuschaut bzw. Video-aufnahmen gemacht werden. Die Frage des Schutzes der Intimität und Vertraulichkeit ist also doppelbödig, und die Schweigepflicht schützt erfahrungsgemäß nicht nur die Patienten, sondern auch die Therapeuten.

Das Mit-nach-Hause-Geben der Videobänder hat aber noch eine andere Wirkung. Werden die Bänder von Familien später noch einmal betrachtet, so entfalten sie eine über den Augenblick hinausgehende, längerfristige Wirkung. Oft werden dadurch zu Hause weitere Diskussionen und Auseinandersetzungen ausgelöst, die keinerlei Kontrolle durch die Therapeuten unterworfen sind. Wer dies nicht möchte, sollte keine Videobänder nach Hause mitgeben. In jedem Fall ist für die Entwicklung einer vertrauensvollen Beziehung wichtig, von Beginn an ganz deutlich zu machen, daß die Patienten das Recht haben, die Aufnahme zu verweigern oder sie löschen zu lassen.

GUNTHARD WEBEREs kann sein, daß die Kollegen hinter dem Spiegel mal vorkommen und mal an die Tür klopfen – wenn wir zum Beispiel parteilich werden und einen besonders berücksichtigen und den anderen vernachlässigen –, daß die dann kommen und uns zur Ordnung rufen. Es kann sein, daß wir mal eine Pause machen. Auf alle Fälle machen wir nach so einem Gespräch von etwa einer bis anderthalb Stunden auf alle Fälle eine Pause, wo wir uns noch einmal zusammensetzen, sehen, was ist im Gespräch gelaufen, was können wir Ihnen raten angesichts der Situation, in der Sie im Augenblick stehen.

Die hinter der Scheibe sitzenden Kollegen haben zwangsläufig eine andere Perspektive auf den Sitzungsverlauf, die Therapeut-Patienten-Beziehung oder die geäußerten Inhalte als die Therapeuten in der Sitzung. Wann immer sie denken, die Einführung dieser Außenperspektive könnte für den Verlauf der Therapie von Nutzen sein, so unterbrechen sie die Sitzung, geben Kommentare oder diskutieren die Situation mit den Kollegen vor der Scheibe. Vor Abschluß der Sitzung empfiehlt es sich immer, eine Pause zu machen – auch wenn man allein arbeitet –, da häufig erst ein gewisser Abstand vom Handlungsdruck während der Sitzung ermöglicht, in Ruhe das Gehörte und Gesehene zu überdenken. Ohne Pause fällt den meisten Therapeuten erst auf dem Weg nach Hause ein, was sie noch hätten fragen oder sagen sollen. Mit Pause kann dies noch unmittelbar in der Sitzung getan werden.

FRITZ SIMONWir verstehen das Ganze erst einmal als ein klärendes Vorgespräch, um herauszufinden, ob Sie hier überhaupt an der richtigen Adresse sind, ob wir Ihnen überhaupt behilflich sein können, in der einen oder anderen Art. Da sind wir offenbar einer Meinung. Sie verstehen es auch so …

Ist dieser äußere Rahmen, den ich, den wir Ihnen erklärt haben, ist der für Sie klar, und ist das so akzeptabel für Sie? Das ist die erste Frage. Weil … es ist etwas ungewohnt, und deswegen erklären wir es am Anfang ausführlich; damit Sie nicht das Gefühl haben, Sie stolpern da in irgendwas hinein, was Sie gar nicht wollen.

FRAU SCHNEIDERDoch, das ist soweit, glaube ich, klar.

HERR SCHNEIDERIch meine, wir sollten mal sagen, wie die augenblickliche Situation ist, und ob man nicht vielleicht noch was warten sollte, weil …

FRAU SCHNEIDER(unterbricht ihn) Also im Moment bin ich ja in einer psychiatrischen Klinik … wegen einer Depression, ja. So daß es im Moment sicher auch nicht günstig wäre, damit anzufangen.

HERR SCHNEIDERJa, wir haben diesen Termin jetzt mal angeboten bekommen und uns gesagt, wir können mal zu dem Vorgespräch gehen. Aber die Ärzte dort meinten auch, man sollte doch warten.

FRITZ SIMONAlso, der richtige Zeitpunkt für dieses Vorgespräch ist es nicht, oder für die Therapie ist es nicht …?

HERR SCHNEIDERNein, also das Vorgespräch kann man durchaus machen!

FRITZ SIMONAh ja! Das war mir nur jetzt nicht klar. Ja, Sie sprachen es eben schon an, der Termin wurde angeboten … Das denke ich ist der Punkt, wo wir am Anfang mal anfangen sollten. Wie sind Sie denn überhaupt hierher gekommen? Wie war der Weg hierher?

FRAU SCHNEIDERÜber meine Psychotherapeutin. Ja, und die sagte eben, daß hier im Institut an einem Projekt mit Manisch-Depressiven gearbeitet wird, und ich hab, ja, manische Phasen gehabt … (einige Sekunden Zögern) … nach Meinung anderer.

(Bei der letzten Bemerkung lächelt sie, ihr Mann lächelt dann – wenn auch etwas verzögert und etwas gequält – auch.)

FRITZ SIMONNach Meinung anderer … Sie meinen, wir sollten auf die Formulierung, die Sie eben gewählt haben, achten?

FRAU SCHNEIDERJa, ich bin mir da nicht sicher, … also ich bin da nicht mehr so sicher.

FRITZ SIMONHm, hm.

GUNTHARD WEBERIhre Psychotherapeutin, denkt die denn, wenn sie Sie zu unserem Projekt schickt, bei dem wir uns ja gerade mit solchem Verhalten beschäftigen, denkt die denn, Sie haben …

FRAU SCHNEIDERDeshalb sagte sie, sollten wir mal hierherkommen.

FRITZ SIMONHeißt das, daß Ihre Therapeutin denkt, daß das manisches Verhalten war? Gehört die zu den anderen, die meinen, das sei eine manische Phase … ?

FRAU SCHNEIDERNein, ich hab sie, glaub ich, angerufen, weil ich merkte, daß ich in eine Depression kam. Und ich wollte von ihr gerne wissen, welchen Psychiater sie mir empfehlen könnte, und daß für mich die Frage offen ist, ob es eine manische Depression ist. Und dann hat sie uns hierher verwiesen.

Interessant ist hier der Gebrauch des Begriffs „manische Depression“. In der medizinischen Terminologie gibt es zwar die manisch-depressive Erkrankung, bei der manische Phasen und depressive Phasen in zeitlich gegeneinander abgegrenzten Phasen auftreten, aber es gibt keine manische Depression – das wäre ein Widerspruch in sich selbst. Es handelt sich hier also um eine Art privatsprachlicher Verwendung eines aus dem Kontext gelösten medizinischen Fachausdrucks, der im familiären Gebrauch eine spezifische Bedeutung erhalten hat.

FRITZ SIMONWie waren Sie zu Ihrer Therapeutin gekommen?

FRAU SCHNEIDERNa ja, wegen Eheproblemen. Ich hatte mehrere Depressionen und ich meinte … also, ich war halt der Meinung nach längeren eigenen Überlegungen, daß das … also, daß ein Grund dafür eben Eheprobleme sein könnten.

FRITZ SIMONUnd wie waren Sie gerade auf diese Therapeutin gekommen?

FRAU SCHNEIDERAch so, die war mir vom Hausarzt empfohlen worden.

Die Frage nach dem Überweisungsweg kann sehr aufschlußreich sein, da manchmal Empfehlungen mit Kommentaren versehen werden. Frühere Patienten berichten darüber, was ein bestimmter Therapeut oder eine bestimmte Therapeutin in ihrer eigenen Therapie gemacht haben, was geholfen hat usw. Auf diese Weise werden Erwartungen geschaffen, die immer irgendwie den Auftrag an den Therapeuten mitbestimmen. Und es ist immer gut zu wissen, welche „Versprechen“ andere gegeben haben, die man dann selbst zu erfüllen hat. In diesem Fall scheint der Überweisungsweg allerdings nicht sehr bedeutungsträchtig.

GUNTHARD WEBERUnd dann waren Sie allein bei der Therapeutin?

FRAU SCHNEIDERDann war ich allein bei ihr, und mein Mann auch.

HERR SCHNEIDERIch war einmal auch da!

GUNTHARD WEBERUnabhängig voneinander?

BEIDE EHELEUTE(gleichzeitig) Ja, unabhängig voneinander.

GUNTHARD WEBERAh ja! Wie kam’s, daß Sie nicht zusammen hingegangen sind?

HERR SCHNEIDERJa, die Situation war damals etwas schlimm, und wir hielten es eigentlich alle für gut, erst einmal einzeln zu reden. Dann war natürlich auch ein gemeinsames Gespräch geplant, aber dann kam jetzt die Depression dazwischen.

„Die Depression kam dazwischen“ – eine Formulierung, die so klingt, als ob die Depression ein handelndes Subjekt oder ein Ding wäre, das autonom – unabhängig von dem, was interaktionell geschieht – kommt oder geht, wann immer es will.

GUNTHARD WEBERAh ja, Sie hatten grundsätzlich vor, später auch gemeinsame Gespräche …

HERR SCHNEIDERJa, das war erst einmal auf Eis gelegt. Es war schon grundsätzlich geplant, aber das haben wir jetzt erst einmal alles verschoben.

FRITZ SIMONHat Ihnen Ihre Therapeutin gleich am Anfang empfohlen, hierher zu gehen, oder erst nach diesen Gesprächen?

FRAU SCHNEIDERNein, nein, erst nachdem ich sie angerufen hatte wegen der Depression.

FRITZ SIMONAh ja. Was denken Sie, wieso Ihre Therapeutin Sie hierher weiter empfohlen hat?

FRAU SCHNEIDERJa, weil ich ihr gesagt hatte, daß es offen wäre, ob das eine manische Depression ist.

GUNTHARD WEBERHieße das, daß der Auftrag an uns auch ein bißchen wäre zu sagen: Wer hat nun recht? Ist es nun eine manische Depression oder nicht?

Da es in diesem Gespräch nicht um die Klärung medizinischer Diagnosen geht, sondern um die Bedeutung solcher Diagnosen für die familiäre Interaktion, wird der angebotene Begriff „manische Depression“ aufgenommen; es bleibt zu klären, was er für wen bedeutet.

FRAU SCHNEIDER(lacht) Na ja, das wird ja wohl in der Klinik auch noch abgeklärt werden.

GUNTHARD WEBERWas denken die denn? Auf welcher Seite stehen die denn da?

Die nonverbalen Reaktionen des Mannes auf die Erwähnung von Eheschwierigkeiten und die in der Klinik zu klärende Frage, ob es eine „manische Depression“ sei oder nicht, legen die Hypothese nahe, daß hier unterschiedliche Erklärungsmodelle miteinander konkurrieren, die mit unterschiedlichen therapeutischen Konsequenzen verbunden werden. Falls es darüber einen Konflikt zwischen den Partnern gibt, laufen die Therapeuten Gefahr, vom einen oder anderen als parteilich erlebt zu werden.

FRAU SCHNEIDERAlso Seite? Ja, gut. Der mich aufnehmende Arzt war schon der Meinung, daß es wohl sein könnte, als ich jetzt mit ihm geredet habe, ja gut …

GUNTHARD WEBERZu welcher Seite zählen Sie Ihren Mann dabei?

FRAU SCHNEIDERJa, mein Mann ist eindeutig sicher, daß es eine manische Depression ist … war. Nach Gesprächen, die er mit anderen hatte.

GUNTHARD WEBERAh ja!

FRITZ SIMONWas denken Sie, wie die Therapeutin das einschätzt?

FRAU SCHNEIDER(schweigt, nestelt an ihrem Taschenriemen)

HERR SCHNEIDERSie hat sich dazu nicht geäußert. Ich glaub, aus gutem Grund, nicht? Sie hat zwar … ich hab zwar offen mit ihr darüber geredet, wie ich es sehe. Aber sie hat weder ja noch nein gesagt.

FRITZ SIMONVermuten Sie mal!

Da das Verhalten von Menschen nicht von dem bestimmt wird, was andere Leute tatsächlich denken, sondern von dem, was sie denken, was die anderen denken, empfiehlt es sich, ganz direkt und ungeniert nach Vermutungen und Spekulationen über andere zu fragen. Wenn die dann auch noch im Raum sind, so erhalten sie eine einzigartige Rückmeldung darüber, was andere über sie denken, wie sie wahrgenommen werden, welches Bild sich die anderen von ihnen machen usw. Aber – das sollte klar sein – solche Fragen widersprechen den Regeln guten Benehmens. Auf Cocktailparties sollte man solche Fragen besser nicht stellen …

HERR SCHNEIDERDas ist, glaube ich, auch gut so. Denn sie wollte ja erst einmal mit beiden reden und nicht gleich einen vor den Kopf stoßen. Sie hätte entweder … Na, ja, sie wollte halt nicht sagen: Der hat recht oder der! Das wäre in der Situation …

FRITZ SIMONAber was schätzen Sie, was sie denkt?

HERR SCHNEIDERJa, wenn ich jetzt sage, sie denkt, daß ich da schon recht habe, wäre es vielleicht auch nicht gut, denn ich finde auch, daß sie das sehr schön macht; und ich möchte auch nicht (mit unsicherem Seitenblick zu seiner Frau), daß du jetzt zu ihr das Vertrauen irgendwie verlierst, wenn du meinst, daß sie auch so …

FRITZ SIMON(unterbricht) Meinen Sie denn, daß Ihre Frau das einfach übernehmen würde, wenn Sie sagen, die Therapeutin denkt so und so?

HERR SCHNEIDERDa haben Sie auch wieder recht. Das bestimmt nicht!

FRAU SCHNEIDERNa ja, ich hab das ja von dem aufnehmenden Arzt in der Klinik schon übernommen … Jetzt bin ich da eigentlich nicht mehr so sicher. Wo hört normal auf, wo fängt manisch an? Kann man das wirklich als manische Phasen sehen? Oder waren das in gewisser Weise Verzweiflungsphasen meinerseits? Gut, ich mein, ich bin da im Moment für mich selber sehr unsicher.

HERR SCHNEIDERDu solltest dir auch klar sein, daß du schon mehrfach Ärzte gewechselt hast, die dir was gesagt haben, was dir nicht gefiel, nicht? Da mußt du auch mal auf Leute hören!

GUNTHARD WEBERWie ist das weiter mit den Kontakten mit Ihrer Therapeutin geplant? Haben Sie da mit ihr irgendwelche Vereinbarungen?

Es kommt gar nicht so selten vor, daß mehrere Therapeuten oder Helfer mit einer Familie oder gar einem Patienten zu tun haben. In solch einem Fall ist es wichtig zu wissen, welche Position er vertritt, welche Sichtweisen er propagiert, wessen Partei er einnimmt usw. Er kann dann wie ein weiteres Familienmitglied betrachtet werden, das sein fachliches Gewicht in die Waagschale wirft. Es ist unserer Erfahrung nach nützlich, stets davon auszugehen, daß die Kollegen – auch wenn sie vielleicht ganz andere Ansichten als wir vertreten – ihre guten Gründe dafür haben. Diese Gründe lassen sich ebenfalls erfragen. Auf jeden Fall sollte vermieden werden, andere Therapeuten oder Methoden abzuwerten, da dies die Familienmitglieder in Loyalitätskonflikte bringen könnte. Außerdem erweist sich immer wieder, daß derjenige, der heute abwertet, morgen selbst abgewertet wird. Aus diesem Grund erscheint es auch nicht sinnvoll, die Patienten oder Familien vor die Alternative „Entweder der andere Therapeut oder ich/wir“ zu stellen. Statt dessen gilt es herauszufinden, welche unterschiedlichen, sich ergänzenden oder konkurrierenden Funktionen beiden zugedacht sind.

FRAU SCHNEIDERNein, an sich hatten wir ja vor, ein Gespräch zu dritt zu führen. Aber das würde jetzt wohl auch von der Situation hier abhängen. Ich weiß nicht, ob sich das dann erübrigt oder …

GUNTHARD WEBERAh ja. Weil das sich so anhörte, was Ihr Mann sagte, daß Sie ja auch eine Vertrauensbeziehung zu Ihrer Therapeutin haben … Also würden Sie eher davon ausgehen, daß die Gespräche mit Ihrer Therapeutin weitergehen, daß sie Ihnen weiter zur Verfügung steht, oder wie?

FRAU SCHNEIDERNein, eigentlich nicht. Sie sagte eben nur, wenn es manisch-depressiv ist, dann könnte ich mich eventuell diesem Projekt hier anschließen. So in etwa hab ich das verstanden.

Hier ist von der Überweiserin eine Markierung des Kontextes vorgenommen worden: Wenn es manisch-depressiv ist … Zumindest ist sie so von der Patientin verstanden worden. Das könnte für die Therapeuten ein Problem schaffen, da die Eheleute offenbar nicht einig sind, wie das Verhalten von Frau Schneider einzuordnen ist. Da Herr Schneider ganz eindeutig der Meinung ist, daß seine Frau manisch-depressiv ist, und die Therapeuten in einem Projekt arbeiten, das sich dieser Erkrankung widmet, besteht die Gefahr, daß die Therapeuten als parteilich für die Sichtweise des Mannes („Meine Frau ist krank“) erlebt werden. Dem stehen zwei Faktoren entgegen: Zum ersten ist die Überweisung durch die Psychotherapeutin von Frau Schneider erfolgt, und sie genießt das Vertrauen der Patientin; zum zweiten findet das Projekt in einem Institut für Familientherapie statt; dadurch ist ein Kontext markiert, der mehr der Sichtweise von Frau Schneider entspricht („Meine Verhaltensweisen sind das Resultat von Eheproblemen“). Das Zusammentreffen dieser gegensätzlichen Zuschreibungen macht es für die beiden unent-scheidbar, auf wessen Seite die Therapeuten stehen.

FRITZ SIMONHm, hm. Das heißt also wenn …

FRAU SCHNEIDER(unterbricht) Ich meine, als ich in der Depression war, sehr stark, ja gut, da war ich selber dann irgendwo überzeugt: Das wird wohl stimmen, dann werden wohl alle recht haben, und es ist manisch-depressiv.

FRITZ SIMONAlso, wenn wir zu dem Schluß kämen, es wäre nicht manisch-depressiv, dann würden Sie wieder zu Ihrer Therapeutin zurückgehen? Heißt es das?

FRAU SCHNEIDERNein, nicht unbedingt.

FRITZ SIMONHm, ja. Was macht denn für Ihre Frau diesen Unterschied aus zwischen manisch-depressiv und nicht manisch-depressiv? Das ist ja offensichtlich eine Frage, die im Raume steht, die wichtig zu sein scheint. Was wäre, wenn das so etikettiert werden würde: Es ist manischdepressiv? Was ist der Unterschied zu: Es ist nicht manisch-depressiv?

Nur wenn man nach Unterschieden fragt, gewinnt man Informationen. Gerade wenn Begriffe verwendet werden, die scheinbar klar in ihrer Bedeutung sind, besteht die Gefahr, daß man seine Patienten zu schnell zu verstehen glaubt. Was für einen biologischen Psychiater manisch-depressiv bedeutet, muß überhaupt nichts mit dem zu tun haben, was es für Frau Schneider oder ihren Mann bedeutet.

Hier wird nun Herr Schneider über die Sichtweise seiner Frau befragt. Mit solch einem Fragetyp sind zwei Absichten verbunden: Auf der einen Seite soll das häusliche Muster der Kommunikation über dieses Thema gestört werden; Herr Schneider dürfte seine persönliche Sichtweise zu Hause schon tausendmal geäußert haben, und da sie von seiner Frau nicht geteilt wird, dürfte es wahrscheinlich über dieses Thema zu Auseinandersetzungen gekommen sein; die Wiederholung dieses Musters in der Therapiesitzung hätte keinen Neuigkeitswert, sie würde nichts verändern und obendrein die Therapeuten in die Rolle des Richters bringen. Beide Protagonisten würden um die Durchsetzung ihrer „Wahrheit“ kämpfen. Wird Herr Schneider hingegen über die Sichtweise seiner Frau befragt, wird seine Fähigkeit, sich in ihre Position einzufühlen, genutzt. Er mag zwar nicht mit seiner Frau übereinstimmen, aber er weiß aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich genau, was sie meint, wie sie es sieht, ja, meist sogar, wie es ihr geht. Wenn er die Perspektive wechselt und sagt, was seine Frau meint, kann sie überprüfen, wie sie von außen gesehen wird, und eventuell Korrekturen vornehmen. Allerdings werden solche Fragen nicht immer gleich beantwortet, da sie den gewohnten Mustern zuwiderlaufen. Dann bedarf es beharrlichen Nachfragens.

HERR SCHNEIDERNa, der Unterschied ist: Wenn es manisch-depressiv ist, kann man es behandeln. Das haben uns die Ärzte versichert.

FRITZ SIMONIst das jetzt Ihre Meinung oder die Ihrer Frau?

HERR SCHNEIDERDas ist auch die Meinung der Ärzte in der Psychiatrie …

FRITZ SIMONWas denken Sie, was für Ihre Frau den Unterschied macht?

HERR SCHNEIDERJa, meine Frau hat vielleicht zu viele Bücher auch gelesen, und fällt dann (zu seiner Frau gewandt) – ich sag dir ja nichts Neues – von einem Extrem ins andere. Nachdem sie ein halbes Jahr überhaupt nie gehört hat oder wissen wollte, wie ich die Sache sehe, ist sie jetzt teilweise ins andere Extrem gefallen und sagt dann: „Ich bin halt verrückt oder irre.“ Was sonst kein Mensch verwendet. Weil sie der Meinung ist, das wäre eine Geisteskrankheit, statt zu sagen, das ist eine psychische Krankheit, die man behandeln kann.

FRITZ SIMONAlso manisch-depressiv hieße für Ihre Frau, sie ist geisteskrank?

HERR SCHNEIDERJa, sie sieht es jetzt halt so …

FRAU SCHNEIDERJa, psychische Krankheit oder Geisteskrankheit ist im Grunde nur eine andere Übersetzung!

HERR SCHNEIDERIst eine Krankheit und eine Krankheit, die man behandeln kann.

FRITZ SIMONUnd im anderen Fall? Was hieße es im anderen Fall für Ihre Frau?

herr schneiderJa, im anderen Fall hieße es, daß ich an all den Sachen offenbar Schuld war (zuckt die Achseln, schaut seine Frau an).

frau schneiderNein … also für mich hieße das im anderen Fall, daß du versucht hast … oder daß du meine Versuche – die durchaus aggressiv waren –, in unserer Ehe etwas zu verändern, unter dem Gesichtspunkt manisch-depressiv abgeschoben hast. So würde ich das sehen!

FRITZ SIMONUnd was wäre für Ihren Mann der Unterschied, aus Ihrer Sicht? Wenn Ihr Verhalten manisch-depressiv war, wenn wir das so etikettieren oder diagnostizieren müßten, könnten, sollten …?

FRAU SCHNEIDERNa ja, daß ich dann behandelt werde und daß diese Phasen der Aggression nicht wiederkommen, und dann, ja, ein Eheleben wieder möglich ist.

FRITZ SIMONUnd im anderen Falle, was hieße es im anderen Falle? Wenn es nichts Krankhaftes in diesem Sinne ist?

FRAU SCHNEIDERJa, daß das dann eben unerträglich wäre für ihn.

FRITZ SIMONUnd das hätte welche Konsequenz, langfristig?

FRAU SCHNEIDERDaß man überlegen müßte, ob man überhaupt zusammenbleibt!

FRITZ SIMONDenkt er eher, daß er derjenige wär, der sich trennt, oder daß Sie dann eher diejenige wären, die sich trennt?

FRAU SCHNEIDEREr denkt dann, daß wir uns trennen und er die Kinder kriegt.

FRITZ SIMONHm, hm. Und denkt er denn, daß Sie das so mitmachen würden …?

FRAU SCHNEIDERIch meine, er hofft, daß alles wieder voll behebbar ist und wir wieder ein friedliches Leben führen.

FRITZ SIMONAlso gibt er Ihrer Ehe bessere Chancen, wenn es manisch-depressiv ist.

FRAU SCHNEIDERJa!

FRITZ SIMON(an den Mann gewandt) Wie sieht’s Ihre Frau? Wann sieht sie bessere Chancen für Ihre Ehe? Wenn es manisch-depressiv ist oder wenn es nicht manisch-depressiv ist?

HERR SCHNEIDERIch glaub, das wechselt im Moment alles noch etwas sehr, nicht?

FRAU SCHNEIDERDas kann sein, ja!

HERR SCHNEIDERWir wollen ja auch nicht vergessen, sie steckt noch in der Depression drin. Und ich weiß nicht, ob wir das jetzt alles auf einmal aufarbeiten können. Ich kann klar sehen. Ich seh sehr gute Chancen. Wenn es wirklich krankhaft ist, kann es behandelt werden.

FRITZ SIMONUnd Ihre Frau, denken Sie, sie schwankt eher, ob sie mehr Chancen sieht, wenn es krankhaft ist?

HERR SCHNEIDERDa würde ich im Moment sagen, sie schwankt sehr, ob sie es überhaupt akzeptiert oder nicht.

In diesem Abschnitt zeigt sich, daß die Diagnostizierung einer Krankheit nicht nur vergangenheitsbezogen im Blick auf die Schuld an den gemeinsam durchgestandenen Problemen weitreichende Bedeutung hat, sondern auch zukunftsbezogen. Allerdings sind die beiden in einer Sackgasse: Herr Schneider kann sich nur eine Zukunft für die Ehe vorstellen, wenn seine Frau krank ist. Nur dann hat er die Hoffnung auf eine erfolgreiche Behandlung, das heißt, daß sie ihr Verhalten ändert und das Zusammenleben wieder so wird wie früher. Frau Schneider hingegen will gerade dieses Zusammenleben ändern, das heißt, sie möchte, daß ihr Mann sein Verhalten ändert. Wenn er anerkennen würde, daß ihr Verhalten das Ergebnis von Eheproblemen ist, dann bestünde wieder Hoffnung für die Ehe. Beide miteinander konkurrierenden Diagnosen sind also mit unterschiedlichen Änderungsforderungen an ihn bzw. sie verbunden. Falls aber keiner sich ändert, hat die Diagnose Auswirkungen auf das Schicksal der Kinder. Es könnte „Gewinner“ und „Verlierer“ geben.


In dieser Sequenz wird eine der grundlegenden Fragestellungen deutlich, der sich jeder systemische Therapeut ausgesetzt sieht. Wer mit mehr als nur einem Patienten oder Klienten arbeitet, läuft immer Gefahr, zwischen die Fronten von Konfliktparteien zu geraten. Im Gegensatz zur Einzeltherapie, wo er sich als parteilich für seinen Klienten sehen kann, ist der Therapeut nun mit mehreren Personen konfrontiert, die nicht nur unterschiedliche Weltbilder und Werte haben, sondern auch nur zu oft widersprüchliche Ziele, Wünsche und, eng damit verbunden, unterschiedliche Aufträge an ihn.

In der Geschichte der Familientherapie finden sich unterschiedliche Ansätze, mit diesem Problem technisch umzugehen. Als Allparteilichkeit wird eine Haltung des Therapeuten bezeichnet, bei der er sich mit jedem Familienmitglied verbündet. Wo es um Konflikte geht, ist dies allerdings ein hoher Anspruch, zumal der Therapeut sich dabei sehr widersprüchlichen Forderungen ausgesetzt sehen kann. Daher kann Allparteilichkeit sicher nicht in jedem Moment der Sitzung realisiert werden, sondern lediglich im Laufe der Zeit, wenn nacheinander jeder der Beteiligten sich und sein Anliegen vom Therapeuten vertreten sehen kann.

Weit geringere Forderungen stellt das Konzept der Neutralität an den Therapeuten. Hier wird nicht verlangt, daß sich jeder der Teilnehmer vom Therapeuten vertreten sieht, es reicht, wenn keiner den Eindruck hat, der Therapeut sei parteilich für einen anderen.

Beiden Konzepten, dem der Allparteilichkeit und dem der Neutralität, ist gemeinsam, daß sie sich auf Personen bzw. Koalitionen, Parteien oder Subsysteme beziehen, die aus Personen gebildet werden. In unserer Arbeit hat sich ein anderes, weitergehendes Modell der Neutralität als nützlich erwiesen. Es umfaßt nicht nur die Positionen der Allparteilichkeit und Neutralität im dargestellten personenbezogenen Sinn, sondern es bezieht sich auch auf miteinander in Konflikt stehende Inhalte der Kommunikation. Der Therapeut nimmt auch gegenüber Sichtweisen, Bewertungen, Erklärungen (z. B. der Frage, ob Veränderung gut oder schlecht ist usw.) eine neutrale oder allparteiliche Position ein.

Am Beispiel des Gesprächs mit dem Ehepaar Schneider läßt sich dies verdeutlichen. Beide haben offensichtlich einen persönlichen Konflikt, so daß sich die Frage ergibt, auf wessen Seite der Therapeut steht. Es geht aber nicht nur um die persönliche Beziehung zu Herrn oder Frau Schneider, sondern auch um die Sachfrage, ob das Verhalten von Frau Schneider Symptom einer Erkrankung oder einer Eheschwierigkeit ist. Wenn er keinen der beiden Klienten verlieren will, scheint der Therapeut im Dilemma. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, daß er in einem Tetralemma steckt, das heißt, sein Handlungsspielraum ist nicht auf zwei Optionen begrenzt, sondern er hat vier unterscheidbare Verhaltensmöglichkeiten.

Abb. 1: Tetralemma

Wie die Familienmitglieder steht er vor der Frage, sich auf die Seite der einen Partei (Pro) zu stellen, auf die der anderen Partei (Kontra), eine „neutrale“ Weder-Pro-noch-Kontra-Position einzunehmen oder eine „allparteiliche“ Sowohl-Pro-als-auch-Kontra-Position zu wählen. In unserem Fall hieße Pro beispielsweise, die Partei des Ehemanns zu ergreifen oder, weniger personenbezogen, die Sichtweise zu vertreten, Frau Schneiders Verhalten sei krankheitsbedingt. Kontra hieße dagegen, ihr Verhalten als Ausdruck ehelicher Not zu deuten und/oder ihre Partei zu ergreifen (s. Abb. 1).

Es gibt aber noch die beiden, keiner Partei zuzuordnenden Positionen des Weder-noch (neutral) und des Sowohl-als-auch (allparteilich). Die Sowohl-als-auch-Position ist allerdings damit verbunden, daß sich der Therapeut sehr ambivalent, womöglich auch widersprüchlich oder paradox zeigt. Wenn – wie im vorliegenden Fall – zwei Therapeuten als Team arbeiten, ergibt sich die Möglichkeit des Splitting. Einer vertritt die Auffassung, es handle sich um eine organische Erkrankung, der andere vertritt die Ansicht, alles, was passiert sei, lasse sich durch die Eheprobleme erklären. Wenn beide sich – in Anwesenheit der Klienten – darauf einigen können, daß die Frage, wer recht hat, nicht zu entscheiden ist, eröffnet sich die Chance, einen dritten, pragmatischen Weg zu suchen, jenseits der Parteilinien oder Weltanschauungen des Entweder-oder.

Zirkuläres Fragen

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