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4. Erklärungen / Dekonstruktionen und Konstruktionen / Die „positive Kraft des negativen Denkens“ (Familie Bastian, Teil 2)

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Die Reaktion der Familienmitglieder auf das Verhalten ihrer Angehörigen hängt zu einem guten Teil davon ab, wie sie es erklären und bewerten. Genauer gesagt: Die Art und Weise, wie das Verhalten erklärt wird, bestimmt, wie es bewertet wird, und die Art und Weise, wie es bewertet wird, bestimmt, wie es erklärt wird. Verhaltensweisen, die üblicherweise als „schlecht“, ja, manchmal gar als „kriminell“ bewertet werden, verändern ihre Bedeutung radikal, wenn sie als Ausdruck oder Symptom einer „Krankheit“ erklärt werden. Je nachdem, wie das Verhalten eines Familienmitglieds bewertet und erklärt wird, werden innerhalb der Familie andere Spielregeln angewandt. Von „Kranken“ verlangt man nicht, daß sie in die Schule oder zur Arbeit gehen; ganz im Gegenteil, sie haben – allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Werten entsprechend – Anspruch auf Fürsorge und Rücksichtnahme. Wer hingegen einfach „aus freier Entscheidung“ beschließt, den Tag im Bett zu verbringen, hat mit den (neidischen?) Sanktionen seiner Mitmenschen zu rechnen.

Wann immer ein Verhalten von den familiären Erwartungen abweicht (in der Familie Bastian z. B., wenn Ernst in Streß- und Prüfungssituationen einen Schluck aus der Flasche nimmt), werden von den Familienmitgliedern Hypothesen darüber erstellt, wie dieses Verhalten entsteht. Wenn biologische Mechanismen als ursächlich identifiziert werden, dann wird der Betreffende zum „Patienten“, dem weitgehend die Schuld und Verantwortung für sein Verhalten abgesprochen wird. Will man jemanden von Schuld und Verantwortung entlasten, so empfiehlt es sich also, ihn für „krank“ zu erklären. Er ist dann das „Opfer“ einer höheren Macht, der Krankheit. Ihm gebührt Hilfe. Ist er hingegen „Täter“, so muß er bestraft und irgendwie „erzogen“ werden.

Was für Krankheiten im allgemeinen gesagt werden kann, kann auch für die sogenannten „psychischen Krankheiten“ gesagt werden. Allerdings ist die Unsicherheit, wie auf diese Art von Krankheit zu reagieren ist, viel größer. Schließlich ist auch „gesundes Verhalten“ irgendwie psychisch bedingt, so daß die Grenzziehung zwischen Schuld und Nichtschuld, Verantwortung und Nichtverantwortung, Einflußmöglichkeit und Einflußlosigkeit uneindeutig ist.

Jeder Familie mit einem identifizierten Patienten – und in der Folge jedem Therapeuten – stellt sich die Frage: Wer kann was bewirken? Ist es der Patient selbst, sind es seine Angehörigen oder die Ärzte? Stets geht es um die Zuschreibung von Verantwortung – für die Entstehung des „Problems“ wie für die Entstehung der „Lösung“.

Von den jeweiligen Erklärungen (d. h. der gedanklichen Konstruktion von Mechanismen, die das „Problem“ oder die „Lösung“ entstehen lassen) hängt es ab, wo und mit welchen Mitteln nach einer Lösung gesucht wird. Mutter Bastian hält das Verhalten ihres Sohnes zum Beispiel für eine Sucht oder zumindest eine Art psychischer Krankheit. Das heißt, daß sie ihm keine oder nur wenig Verantwortung für sein Verhalten zuschreibt. Es ist die Sucht, die den Alkohol (irgendwie) in ihn hineinschüttet. Also braucht er Hilfe gegen diese höhere Macht. Als verantwortungsbewußte Mutter fühlt sich Frau Bastian nun aufgerufen, ihm zu helfen. Logischerweise macht sie das, was ihrer Meinung nach eine heilsame Wirkung hat: Sie versucht ihn zu verstehen, in ihn „einzudringen“, mit ihm zu reden. Denn bei psychischen Problemen hilft Vertrauen und Verständnis, so ist offenbar ihre Lösungsidee bzw. die daraus abgeleitete Lösungsstrategie. Ob sie erfolgreich ist, bleibt zu überprüfen.

Aber auch Therapeuten kommen nicht umhin, Hypothesen darüber zu entwickeln, wie ein Problem entsteht oder zumindest, wie eine Lösung entstehen könnte. Auch sie müssen sich Gedanken darüber machen, in welchem Bereich der Wirklichkeit – dem Organismus, der Psyche, dem Kommunikationssystem – sie versuchen sollen, Veränderungen herbeizuführen. Im Gegensatz zu Vertretern manch anderer Therapieschulen richten systemische Therapeuten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf problemerhaltende oder lösungsfördernde Interaktions- und Kommunikationsmuster. Wenn es gelingt, ein Therapieziel positiv zu definieren (z. B. neue Verhaltensweisen oder Kommunikationen, die vor der Therapie nicht gezeigt wurden), dann empfiehlt sich die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die interaktionellen und kommunikativen Mechanismen, die zu solch einer Lösung führen können. Wenn aber – wie bei Familie Bastian – das Ziel negativ definiert ist („Ernst soll nicht mehr zur Flasche greifen“), ist es günstiger, sich auf die Mechanismen zu konzentrieren, die sich mit diesem Verhalten verknüpfen lassen. Auf diese Weise lassen sich eher Ideen entwickeln, wie dieses Muster unterbrochen („gestört“) werden kann und wie alternative Muster an ihre Stelle gesetzt werden können.

Ein weiterer Ausschnitt aus dem Erstinterview mit Familie Bastian soll zeigen, wie sich mit familiären Erklärungen umgehen läßt. Ganz allgemein kann man sich als Therapeut an die Einsicht halten, daß es eine der wichtigsten Wirkungen von Erklärungen ist, weiteres Fragen zu verhindern. Wenn der Therapeut dieselben Erklärungen verwendet wie der Klient oder die Klienten, dann fällt ihm auch nichts Neues mehr ein. Er „weiß“ dann genausoviel (oder -wenig) wie seine Gesprächspartner. Und wer weiß, stellt bekanntlich keine Fragen. Wer weiterfragen will, darf die ihm angebotenen Erklärungen nicht zu schnell verstehen …


FRITZ SIMON(zur Schwester) Wie erklären die beiden sich denn dieses Verhalten? Man sucht ja nach Erklärungen. Warum macht er das? Intelligenter Mensch! Erfolgreich! Warum macht er das? Ihre Mutter denkt, wenn ich das richtig verstanden habe, es ist eher etwas, wo er nicht selber die Verantwortung hat, etwas Psychisches … Denkt sie, er könnte es anders, wenn er wollte?

Die Unterscheidung zwischen „gesund“ und „krank“ hat für die Spielregeln der Interaktion eine ähnliche Bedeutung wie die zwischen „Erwachsener“ und „Kind“. Im einen Fall hat man es mit jemandem zu tun, der für sich selbst sorgen kann und der schuldfähig ist; im anderen Fall mit einem hilfsbedürftigen Wesen, das nicht voll und ganz für sein Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden kann. Dementsprechend bestimmen diese Zuschreibungen, welche Erwartungen von den jeweiligen Interaktionspartnern an den oder die so etikettierte Person gerichtet werden. Kann er etwas ändern oder nicht?

SCHWESTERDaß es überhaupt soweit mit dieser Leberzirrhose gekommen ist, das war für mich eine schleichende Form von Selbstmord. Und da ist die Trennung von einer Freundin vorausgegangen, die er sehr geliebt hat, und diese Trennung war lange nicht bewältigt. Ich weiß nicht, ob sie es jetzt ist. Wir haben heute morgen einmal darüber geredet, (zum Bruder gewandt) da hast du gesagt, daß du das Gefühl hast, du kannst zumindest die Dinge, die ihr gemeinsam angeschafft habt, anschauen.

Die Schwester des Patienten bringt eine neue Hypothese für sein Verhalten zur Sprache: seine selbstzerstörerischen Tendenzen. Betrachtet man die abzusehenden Wirkungen seines Trinkens, so läßt sich solch eine Interpretation sicher nicht von der Hand weisen.

FRITZ SIMONWann war diese Trennung von der Freundin?

ERNSTVor zehn Jahren.

SCHWESTERJa, ungefähr zwei Jahre vor der Transplantation. Und ich hab das Gefühl … was für mich halt immer mitschwingt, ist, daß das so verletzend und zerstörend gewirkt hat, was sein Selbstwertgefühl betrifft, daß der Ernst da nie wirklich rausgekommen ist. Zum Teil hat er Abstand gewonnen, aber er ist nie wirklich rausgekommen.

FRITZ SIMONSehen Sie das immer noch so, daß es jetzt auch noch eine schleichende Form von Selbstmord ist, wenn er mit dem Schlückchen Sekt spielt?

SCHWESTERJa, Ja!

FRITZ SIMONDaß er überlegt: Will ich überhaupt leben?

ERNSTDas ist so!

FRITZ SIMON(zu Ernst) Sie sehen es auch so? Das sieht sie richtig? Kennt sie Sie gut genug?

(Ernst nickt)

FRITZ SIMONAha. (zur Mutter) Sehen Sie es auch so, daß das so ein Stück Spiel mit dem …

MUTTER… mit dem Feuer! Ja, das seh ich auch so!

FRITZ SIMONMehr als mit dem Feuer mit dem Feuerwasser, mit dem Tod. So ein bißchen Selbstmord auf Raten …

MUTTERIch hoffe nicht, daß es diesen ernsthaften Hintergrund hat. Ich meine eher, daß Kleinigkeiten mit dem Alkohol bewältigt werden sollen. Er hat zwar schon manchmal gesagt, er wäre ganz froh, wenn’s irgendwann mal zu Ende wäre. Aber ich meine, daß da noch andere Wege beschritten werden können, bis es soweit ist. Deswegen haben wir ja auch einen psychologischen Rat gesucht, um einen anderen Weg zu finden, denn eine Lösung ist das ja nicht.

Das Mienenspiel der Mutter erweckt den Eindruck, als sei ihr die Thematisierung der unglücklichen Liebe ihres Sohnes nicht angenehm.

FRITZ SIMON(zur Schwester) Wenn ich Ihre Mutter richtig verstanden habe, wäre es ihr lieber, wenn es nicht so etwas Lebensbedrohliches – was die psychologischen Hintergründe angeht – wäre. Diese Trennungsgeschichte würde sie nicht gerne so wichtig nehmen? Habe ich das richtig verstanden? (…)

Hier ist eine Lücke im Transkript. Es wurde eine weitere Schleife gedreht, bei der darüber gesprochen wurde, wie die Familie, speziell die Mutter, mit schwierigen und belastenden Situationen umgeht. Es wird deutlich, daß aggressive Konfrontationen eher vermieden werden und alle Familienmitglieder leicht mit Schuldgefühlen darauf reagieren, wenn es einem anderen schlechtgeht. Die Vermeidung von Schuldgefühlen ist für alle Beteiligten wichtig und ein hoher familiärer Wert. Dies macht es schwierig, Themen anzusprechen, die andere kränken, verletzen oder traurig machen könnten. Das gilt auch für die autoaggressiven Tendenzen des Sohnes. Nach dieser vorübergehenden Fokusverschiebung erfolgt die Rückkehr zu den Erklärungen …

FRITZ SIMON(zu Ernst) Ihre Erklärung für die gegenwärtige Situation ist nun welche genau? Ich verstehe noch nicht, was die Freundin damit zu tun hat, daß Sie jetzt Schwierigkeiten haben. Das ist ja schon lange her!

ERNSTSicher … ich meine, wenn jetzt zum Beispiel meine Mutter meinen Vater verlassen würde, da würde er in 10 Jahren auch noch nicht drüber wegkommen. Die hängen so eng zusammen …

FRITZ SIMONWie lange waren Sie beide denn zusammen?

ERNSTÜber vier Jahre!

FRITZ SIMONUnd wie lange sind Ihre Eltern zusammen?

ERNSTNa ja, 40 Jahre oder so, nicht? Sicher, das ist etwas anderes. Sie haben Familie gehabt und ich nicht.

FRITZ SIMONUnd Sie haben das Modell des Schnellklebers verwirklicht: Nach vier Jahren schon so eng zusammen wie nach vierzig!

Zugegeben: eine despektierliche Metapher.

ERNSTNa ja, wenn man sich mit der Zeit verschiedene Sachen anschafft und auch Pläne macht, daß man zusammenzieht, und nur noch wartet, bis Madame mit dem Studium fertig ist, und auf einmal kriegst du von heute auf morgen gesagt: „Ich habe einen anderen!“

FRITZ SIMONDas kam vollkommen überraschend?

ERNSTDas hat mich vollkommen … und das war drei Tage vor einer sehr, sehr wichtigen Prüfung!

FRITZ SIMONDas ist kombiniert mit diesen Prüfungen?

ERNSTNein, nein, das hat damals keine Relevanz gehabt.

Die Hypothese, daß die Prüfungen möglicherweise durch die zeitliche Verknüpfung mit dem Verlassenwerden ihre traumatische und stressende Bedeutung gewonnen haben könnten, erweist sich als nicht plausibel für den Patienten.

FRITZ SIMONHaben Sie die Prüfung bestanden?

ERNSTNein, ich bin gar nicht erst angetreten. In dem Zustand konnte ich es nicht. Ich habe es halt ein Semester später gemacht. Das war auch nicht tragisch, aber das hat mich so absolut aus der Bahn geworfen. Ich habe dann gemerkt, wie ich mich in diesen mehr als vier Jahren total von den anderen abgekapselt habe. Und plötzlich wollte ich wieder auf die zugehen, und da haben die gesagt: „Nee, ätsch ätsch! Die ganze Zeit wollten wir dorthin und dorthin, und du bist nie mitgegangen!“ Na ja, und so hat sich das dann entwickelt, dann kommst du in einen blöden Kreis.

FRITZ SIMONWas ist denn aus Ihrer Ex-Freundin geworden?

ERNSTDie hat ein halbes Jahr später geheiratet und drei oder vier Monate später ein Kind bekommen.

FRITZ SIMONDas ging schnell. Weiß die, wie es mit Ihnen weitergegangen ist?

ERNSTWeiß ich nicht!

FRITZ SIMONWas schätzen Sie?

ERNSTSie weiß es, mit Sicherheit!

FRITZ SIMONUnd wenn sie es weiß, reagiert sie da eher mit Schuldgefühlen drauf? Oder reagiert sie darauf, indem sie sagt …

(Mutter nickt)

FRITZ SIMON(zur Mutter) Sie nicken?

MUTTERIch meine, ja. Aber nur so ganz im Hintergrund. Ich könnte mir es vorstellen. Ich kann das ja nicht einschätzen, ob sie mit dem Mann glücklich ist oder nicht. Ich kann auch nicht einschätzen, ob sie mit ihm (macht Kopfbewegung Richtung Sohn) glücklich geworden wäre.

FRITZ SIMONEs gibt ja verschiedene Möglichkeiten, wie man reagiert, wenn man so etwas hört. Sie könnte sagen: „Gut, daß ich mich von ihm getrennt habe. Ich wußte ja gleich, daß … oder …“

MUTTERNein, nein, nein, die hatten ein sehr gutes Verhältnis. Sie hat zu mir mehr Vertrauen gehabt als zu ihrer eigenen Mutter. So habe ich es jedenfalls immer von beiden gehört. Ich habe sie sehr gern gemocht. Wir waren genauso überrascht und erschüttert von der Trennung, aber …

Das Kommunikationsmuster der Familie Bastian entspricht dem, was in der Literatur als „bindend“ bezeichnet wird. Harmonie und Nähe sind die alles überragenden Werte. Trennung wird im Erleben mit Tod gleichgesetzt. Der einzelne sieht sich nur als Teil einer Paar- oder Familienbeziehung überlebensfähig. Solche familiären Muster haben üblicherweise eine hohe Anziehungskraft auf Kinder aus Familien, in denen eine eher kühle Atmosphäre vorherrscht und die Eltern-Kind-Beziehung distanziert ist. Man wählt dann gelegentlich den Partner wegen seiner Eltern, um von ihnen zu bekommen, was zu Hause gemangelt hat. So mag es hier auch gewesen sein (aber das ist natürlich Spekulation).

FRITZ SIMON(fällt ihr ins Wort) Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Was glauben Sie denn, was diese Freundin veranlaßt hat, sich zu trennen?

MUTTERSich zu trennen?

FRITZ SIMONJa! Warum ist sie ihm weggelaufen?

ERNSTKann ich Ihnen sagen!

MUTTERIch kann das nur aus ihrem Munde nachsagen. Sie hat damals gesagt: „Er beeinflußt mich zu sehr!“ Er wollte damals nicht, daß sie ins Ausland geht. Die beiden waren vielleicht viel zu eng zusammen, zu verknüpft, als daß einer dem anderen noch eine gewisse Freiheit gelassen hätte.

ERNSTNa ja, ich wollte … Es ist ziemlich klar, wenn sie ins Ausland geht, das wird dann loser. Das wollte ich verhindern.

FRITZ SIMONAh ja. Das war die Sorge vor der vollkommenen Trennung?

ERNSTJa.

FRITZ SIMON(zur Schwester) Ist das so, daß er am liebsten 24 Stunden am Tag mit ihr zusammen gewesen wäre?

ERNSTDas nicht unbedingt!

FRITZ SIMONMich interessiert dabei: Ist das so eine Nähe-Distanz-Kiste? Wieviel Nähe, wieviel Autonomie läßt man sich, wieviel Freiheit läßt man sich, und wie eng bindet man jemanden an sich? Das ist für die meisten Leute in Beziehungen ein wichtiges Thema.

Wenn man sich als Therapeut von Theorien leiten läßt, die auch von den für die Ratgeberspalten der Boulevardpresse verantwortlichen Kollegen oder in Call-in-Sendungen im Fernsehen vertreten werden, kann man sie auch gleich offen thematisieren und gemeinsam „fachsimpeln“. Auf diese Weise nimmt man die Klienten gewissermaßen mit in die Außenperspektive der Experten, die von Kollege zu Kollege über einen Patienten oder eine Familie sprechen, die sich zufälligerweise unter den am Gespräch beteiligten Experten befinden.

ERNSTDie war halt so, die Frau, wenn ich etwas unternehmen wollte, hat sie das große Jammern gekriegt.

FRITZ SIMONWenn Sie etwas unternehmen wollten?

ERNSTWenn ich etwas allein unternehmen wollte. Wenn ich gesagt habe: „Ich gehe jetzt mit dem XY ein Bier trinken!“ Oder: „Ich mach da irgend etwas“, dann sind sofort die Tränen gelaufen: „Ich habe den ganzen Tag auf dich gewartet!“

FRITZ SIMONDas heißt, Sie waren sich sehr ähnlich? Sie wollten sie nicht ins Ausland lassen?

ERNSTZumindest nicht für die Zeit, wo sie hinwollte!

FRITZ SIMONSieht Ihre Mutter das denn richtig, daß das einer der Gründe sein kann, warum sie Sie verlassen hat?

ERNSTNee!

FRITZ SIMONNein? Was denn?

ERNSTIch mein, das vielleicht auch … daß ich da übertrieben hab mit der Fürsorge. Aber ich glaube eher, das war der Kreis, in den sie da reingekommen ist. Sie war mit lauter Medizinern und Juristen zusammen, und das ist ja sowieso ein eigenes Volk. Und da wollte sie dann öfters zu irgendeiner Feier. Und dann bin ich zweimal mit dabei gewesen und auch gefragt worden: „Ja, was machst denn du? Was studierst du denn? – Ach so, nur BWL!“ Absolut die Nase hoch! Und da habe ich gesagt: „Da gehe ich nicht mehr mit! Weil mir das zu blöde ist.“ Du wirst sofort abgekapselt, wenn du nicht Jura oder Medizin studierst. Sie wollte da immer hin, weil das eben Leute waren aus dieser Studentenverbindung. Dann habe ich gesagt: „Da kannst du alleine hin, dann gehe ich halt meiner Wege am Samstagabend!“ Na ja und …

FRITZ SIMONUnd dann hat sie etwas „Besseres“ gefunden – in Anführungsstrichen.

MUTTERAnscheinend …

ERNSTOffensichtlich!

FRITZ SIMONIch kapier immer noch nicht – und es mag ja sein, daß ich da zu blöd bin –, wie da nach der langen Zeit jetzt noch die Zusammenhänge sind. Wie ist das jetzt?

Sich zu seinem Nichtverstehen zu bekennen und als Konsequenz daraus weitere Fragen zu stellen ist eine der nützlicheren Interviewstrategien. Dem steht meist entgegen, daß Therapeuten meinen, sie würden ihre Qualitäten zeigen, wenn sie möglichst schnell – und manchmal gar ohne Worte – verstehen. Doch wenn sie ehrlich sind, tun sie das ja gar nicht, sondern sie tun nur so, als ob …

ERNSTDas ist ganz einfach! Wir haben uns, zum Beispiel, das eine Zimmer zusammen eingerichtet. Jedes Mal, wenn ich da heraufkomme, kommen die Erinnerungen. Also ich gehe sehr selten da rein.

FRITZ SIMONDas gibt es noch, das Zimmer?

ERNSTJa, ich meine, das sind Sachen für fünf-, sechs-, sieben-, achttausend Mark, die schmeiß ich nicht hinaus deswegen!

Was ist mehr wert, fragt sich der außenstehende Beobachter natürlich gleich, Möbel für achttausend Mark oder die Befreiung von unangenehmen Erinnerungen? Aber vielleicht sind die Möbel ja nur der Vorwand, sich immer wieder schmerzlich erinnern zu dürfen …

FRITZ SIMONIch wollte nur wissen: Haben Sie etwas verändert, oder ist es immer noch so wie damals?

ERNSTMan kann nicht so viel verändern. Es ist ein relativ kleines Zimmer.

FRITZ SIMONDas ist wo? In der Wohnung (blickt zur Mutter) bei Ihnen?

(Mutter nickt)

ERNSTJa!

FRITZ SIMONDas ist so etwas wie eine Hauskapelle?

Zugegeben, wieder eine etwas despektierliche Bemerkung angesichts der Gefühle, die mit diesem Ort verbunden sind. Aber Gefühle sind Bewertungen. Wer sie zu sehr respektiert und nicht irgendwie in Frage stellt, läuft Gefahr, diese Bewertungen zu bestätigen.

ERNSTKapelle würde ich das nicht nennen! Eine Kapelle, wo ich die Stereoanlage stehen habe, ist das …

Der Patient nimmt das Spiel mit der Despektierlichkeit an, indem er den Begriff Kapelle „mißversteht“ … Dadurch wird der Ernst (= Gegensatz zu „Spaß“ und = Patient) etwas aus der Situation herausgenommen. Wer humorvoll auf eine Situation blickt, ist emotional immer etwas distanzierter. Auf diese Weise wird es möglich, auch sehr belastende Themen relativ entspannt zu betrachten.

FRITZ SIMONSo meinte ich Kapelle nicht, wo Sie Ihr Schlagzeug stehen haben; … sondern daß das der Reliquienschrein für Ihre frühere, verlorengegangene Beziehung ist.

ERNSTJa, sicher, das ist so. Jetzt beim Aufräumen bin ich an verschiedene Sachen gekommen, die mich da halt wieder total dran erinnert haben.

FRITZ SIMONUnd wie hilft Ihnen da der Alkohol? Das versteh ich noch nicht!

Auch hier zielt das Nichtverstehen des Therapeuten erneut darauf, den Patienten mit in die Außenperspektive gegenüber sich selbst bzw. seinen psychischen Mechanismen zu nehmen. Es unterhalten sich zwei Experten, wobei nur einer von beiden – der Patient – die Prozesse, über die gesprochen wird, direkt beobachten kann. Der andere – der Therapeut – ist auf die Beschreibung des Patienten, d. h. auf Hörensagen, angewiesen. Ein Augen-, Ohren- und Bauchzeuge, der Experte für sein subjektives Erleben, konferiert mit einem Experten für allgemein menschliches Erleben.

ERNSTDann vergesse ich das. Dann wird es leichter. Das ist ja die Wirkung des Alkohols, daß er enthemmt. Dann kommt das Gefühl: die blöde Kuh, die blöde!

FRITZ SIMONAh, das ist eher ein aggressives Gefühl ihr gegenüber?

ERNSTIhr gegenüber, ja.

FRITZ SIMONAh ja.

Die Äußerung aggressiver Gefühle gehört nicht zu den im Rahmen der Spielregeln der Familie Bastian erlaubten oder gar gebotenen Verhaltensweisen. Hier scheint die Funktion des Alkohols darin zu bestehen, etwas ansonsten Verbotenes zu ermöglichen.

ERNSTNormalerweise nicht …

FRITZ SIMONNormalerweise, d. h. ohne Alkohol, haben Sie keine aggressiven Gefühle ihr gegenüber?

ERNSTOhne Alkohol denke ich gar nicht dran. Also nur, wenn ich bestimmte Dinge sehe.

FRITZ SIMONNoch mal anders gefragt. Nehmen wir einmal an, Sie haben überhaupt keine Lust, etwas zu trinken, und Sie wollten die Chance erhöhen, daß Sie Lust dazu bekommen, dann müßten Sie in dieses Zimmer gehen und an Ihre ehemalige Freundin denken?

ERNSTNee, das ist Quatsch. Das ist die falsche Reihenfolge. Absolut falsche Reihenfolge!

Da hat er natürlich recht. In unserem Alltagsdenken, in dem wir zwischen Ursachen und Wirkungen unterscheiden, hat die Ursache zeitlich vor der Wirkung lokalisiert zu sein. Eine der Möglichkeiten, Erklärungen zu dekonstruieren und die Option für die Konstruktion alternativer Erklärungen zu eröffnen, liegt daher in der Veränderung der zeitlichen Reihenfolge. In der vom Therapeuten gestellten Frage ist aber noch eine andere Neukonstruktion enthalten. Es wird – rein hypothetisch – das Erreichen eines negativ bewerteten Verhaltens („Trinken“) als Resultat einer Entscheidung behandelt. Wenn der Patient die Absicht hätte … dann müßte er … Die Beschreibung aus der Außenperspektive führt zu der regelhaften Verknüpfung von In-den-Schrein-Gehen und Trinken. Solch eine Regel läßt sich in vielerlei Hinsicht nutzen, um das Trinken wahrscheinlicher zu machen oder um es unwahrscheinlicher zu machen. Die Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten bleibt beim Patienten.

FRITZ SIMONDas glaube ich Ihnen. Das habe ich aber bewußt so gesagt! Das ist ja nicht zufällig. Mich interessiert: Wie können Sie Einfluß darauf nehmen. Können Sie das so …?

ERNSTNein! Ich muß einfach mehr …

Es widerspricht einfach den üblichen Denkgewohnheiten, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie man ein Symptom oder sonst einen offiziell unerwünschten Zustand herbeiführen kann. Alle Welt schaut immer nur, wie Lösungen gefunden werden können. Daher besteht für lösungsorientierte Therapeuten die Gefahr, nur das zu sagen, was ein wohlmeinender Nachbar auch schon gesagt hat. Kehrt er die Perspektive hingegen um und schaut er darauf, wie das Symptom herbeizuführen oder zu verschlimmern ist, eröffnet er den Blick auf bislang ungeahnte oder zumindest ungenutzte Einflußmöglichkeiten. Aus diesem Grund wird der Versuch des Patienten, zu erzählen, was er eigentlich zur Lösung dieses Problems tun sollte, unterbrochen und erneut der Blick auf seine destruktiven Möglichkeiten gerichtet. Die Botschaft, die implizit gegeben werden soll, lautet: Auch selbstzerstörerische Verhaltensweisen lassen sich als Resultat von Entscheidungen verstehen.

FRITZ SIMONNein, mich interessiert jetzt nicht, wie Sie das Trinken wegkriegen können. Mich interessiert genau das Umgekehrte. Nehmen wir an, Sie haben ein Jahr lang nicht an Alkohol gedacht, überhaupt nicht … Wie könnten Sie dafür sorgen, daß Sie wieder trinken. Nehmen wir an, Sie bekämen 100 000 DM dafür, daß Sie wieder trinken – für ein medizinisches Experiment: Lebertransplantation plus Alkohol vs. Lebertransplantation ohne Alkohol. Die Pharmaindustrie sponsert es. Und die brauchen jemanden, der Alkohol trinkt, auch wenn er weiß, daß es ihm nicht bekömmlich ist. Sie sind in der einen Vergleichsgruppe, die anderen sind in der anderen. Wie könnten Sie sich die Lust auf Alkohol erhöhen, wie können Sie sie herbeiholen, wenn sie eigentlich nicht von sich aus spontan kommt. Was müßten Sie tun?

(Ernst zuckt die Achseln)

Das ist die übliche Antwort, die man zunächst auf solche Fragen erhält. Das ist aber nicht weiter schlimm, weil Fragen ja immer auch dazu dienen, Ideen zu streuen und Sichtweisen in die Welt zu setzen, die nicht spontan in der Familie entstehen würden. In solch einem Fall ist Beharrlichkeit angesagt.

FRITZ SIMONWäre es eine gute Chance, in das Zimmer zu gehen?

ERNSTNee!

FRITZ SIMONAlte Photoalben durchblättern?

ERNSTDann wird vielleicht … Es kommt immer darauf an …

FRITZ SIMONSich zu einer Prüfung anmelden? Was hilft am besten?

MUTTER(lacht) Prüfung vor sich zu haben!

ERNSTEventuell. Oder etwas vor sich zu haben, was mir wahnsinnig unangenehm ist.

Mutter und Sohn greifen auf die Hypothese zurück, daß die Prüfungsangst ursächlich für das Trinken ist. Sie scheint irgendwie angenehmer. Wahrscheinlich liegt sie aus alltagspsychologischer Sicht auch näher. Als Therapeut hat man zu akzeptieren, wenn die eigenen, implizit oder explizit angebotenen Deutungsschemata nicht angenommen werden. Es reicht, die Idee gestreut zu haben. Wenn sie von den Klienten als relevant erachtet wird, arbeitet sie weiter und taucht irgendwann wieder auf. Das ist eine der „störenden“ Wirkungen von Fragen. Wenn die Beziehung zum Therapeuten für die Klienten eine gewisse Wichtigkeit erlangt hat (was man bei einem Erstinterview nicht voraussetzen sollte), werden sie das, was er sagt, nicht einfach zur Seite schieben. Sie setzen sich damit auseinander, und manchmal ändert sich im Verlaufe dieses Prozesses ihr Weltbild ein wenig: Sie verwerfen alte Erklärungen, konstruieren neue und verhalten sich anders (aber, wie gesagt: manchmal).

FRITZ SIMONUnd was ist das Unangenehmste, was Sie sich da vorstellen können?

Die Konfrontation mit schwarzen Phantasien ist ein gutes Mittel gegen Wunschdenken und Vermeidungsstrategien.

ERNSTPfffff … was wär das Unangenehmste?

MUTTERDie Angst, es nicht zu schaffen, vielleicht.

ERNSTDa muß ich bloß mal den alten Alptraum kriegen. Das ist: Ich geh in die Prüfung rein, habe das Blatt vor mir, habe die Aufgabe vor mir und habe von Tuten und Blasen keine Ahnung und weiß, das ist die entscheidende Prüfung, und ab da ist absolut keine Chance. Ab da ist alles versaut.

FRITZ SIMONAber das ist ja mit diesen Alpträumen so eine Sache, die kommen ja nicht zuverlässig. Frage: Wie könnten Sie selber diesen Alptraum herbeiführen oder all solche Situationen? Haben Sie da schon Erfahrungen?

Erneut der Versuch, hypothetisch Einfluß zuzuschreiben.

ERNST(schüttelt den Kopf) Vielleicht …

FRITZ SIMONSie haben natürlich Erfahrung mit sich.

ERNSTJa, sicher!

FRITZ SIMONAlso, wenn Sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen wollten, solch einen Alptraum zu bekommen?

ERNSTVielleicht, wenn ich sie sehen würde.

FRITZ SIMONMich?!

Ein Scherz! Eine Einladung, mit dem Therapeuten zu spielen bzw. mit der therapeutischen Beziehung.

ERNSTNein, die Frau mit ihren zwei Kindern und dem Mann!

Die Saat ist offenbar schneller als erwartet aufgegangen. Die ehemalige Freundin kommt zurück in den Fokus der Aufmerksamkeit, die Prüfungsangst tritt wieder in den Hintergrund.

FRITZ SIMONWissen Sie, wo sie wohnt?

ERNSTIch weiß es, ja.

FRITZ SIMONMüßten Sie da öfter mal vorbeigehen und gucken?

ERNSTNee.

FRITZ SIMONNa, ich mein ja nur, wenn Sie das wollten. Ich will Ihnen das nicht raten. Mich interessiert nur, wie Sie Einfluß nehmen können. Das wäre eine Möglichkeit. Dann hätten Sie eine größere Chance, daß Sie sie sehen.

ERNST(schüttelt den Kopf und zuckt die Achseln) Ich war da noch nie!

FRITZ SIMONDas wundert mich. Ich würde da dauernd vorbeilaufen!

ERNSTJa? Das geht zu weit! (lacht)

FRITZ SIMONHätte jemand anderes in der Familie die Möglichkeit, Einfluß zu nehmen? Ich bin immer noch bei diesem Gedankenexperiment, Sie würden ganz viel Geld dafür kriegen, daß Sie mehr Alkohol trinken, als Sie sollten, und würden irgendeinen Grund dazu brauchen. Könnte irgend jemand anderes Ihnen noch behilflich sein in der Familie?

(Ernst lacht)

FRITZ SIMONIch gebe zu, es ist absurd! Aber …

MUTTERDas ist ja so, daß dann der Alkohol mit Gewißheit das restliche Leben zerstören würde.

Die hier verwendete Technik beruht auf dem Glauben des Therapeuten an „die positive Kraft des negativen Denkens“. Für die Mutter, die all ihre Hoffnungen in die Kraft des positiven Denkens gesetzt zu haben scheint, ist es schwer erträglich, solch einer Fragestellung zu folgen. Hier besteht die Gefahr, die Mutter zu verlieren, da die Beziehung nach der kurzen Zeit wahrscheinlich noch nicht tragfähig genug ist. Diese Gefahr besteht immer, wenn der Therapeut Ansichten vertritt oder Verhaltensweisen zeigt, die nicht anschlußfähig sind, d. h. zu weit vom Weltbild und den Werten der Klienten abweichen.

FRITZ SIMONDaß Sie das nicht wollen, ist ja klar. Darüber brauchen wir, glaube ich, jetzt gar nicht zu reden.

MUTTERNein, das wäre der reine Selbstmord. Aber da können wir ihm ja nicht zureden!

FRITZ SIMON(zur Mutter) Aber viele Leute machen selbstmörderische Dinge! Manche fahren Autorennen, was höchst risikoreich ist. Die kriegen viel Geld dafür und sagen: O. K., ich rechne mir das aus! Andere Leute machen Bungee-Springen an irgendeiner Kordel in die Tiefe. Die kriegen noch nicht einmal dafür Geld, sondern müssen dafür bezahlen. Also, das wäre für mich noch kein ausreichender Grund, warum er es nicht machen sollte. Aber ich denke, Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. (zum Sohn) Sie haben gesagt, man vergißt, wenn man Alkohol trinkt, ja?

ERNSTKurzzeitig.

FRITZ SIMONKurzzeitig. Aber Sie wissen ja wahrscheinlich auch, daß das langzeitig nicht anhält.

ERNST(zustimmend) Nee!

FRITZ SIMON(zur Schwester) Ich frage Sie. Sie können wahrscheinlich solche etwas abseitigen Fragen besser vertragen: Gibt es noch irgend etwas Gutes an diesem Verhaltensmuster? Immer mal wieder einen Schluck Alkohol zu trinken, wohlwissend, daß es nicht bekömmlich ist, daß es sogar gefährlich ist? Gibt es noch irgend etwas Gutes, auf das noch keiner geguckt hat, weil es eben nicht objektiv gut ist, sondern wohlmöglich nur aus einer sehr schrägen Perspektive gesehen gut ist?

Symptome können immer auch als Ausdruck und Ergebnis von Überlebensstrategien gesehen werden. Wer ihren Anpassungsaspekt übersieht, läuft Gefahr, den berüchtigten und von Therapeuten aller Richtungen so geschätzten „Widerstand“ hervorzurufen. Die meisten Symptome haben für ihren Besitzer und Kreateur einen ambivalenten Gehalt: Er will sie irgendwie loswerden, aber das heißt auch, daß er möglicherweise auf einen funktionellen Überlebensmechanismus verzichten muß. Das ist aber – systemisch gesehen – kein pathologisches Phänomen, sondern vernünftig. Warum sollte man ein lebenswichtiges Handwerkszeug wegwerfen, das sich bewährt hat? Vor allem, wenn man noch keinen Ersatz hat, der seine Funktionalität bewiesen hätte.

SCHWESTERIch hab da so Phantasien, die sich mir aufdrängen. Dieses Kindsein, dieses Unbeschwertsein, dieses Einfach-nicht-vernünftigsein-Müssen oder … Das ist so eine Phantasie, die mir dazu kommt.

FRITZ SIMONKinder machen ja häufig gefährliche Sachen und denken nicht langfristig. Meinen Sie, daß er … nur jetzt im Verhalten oder auch in der Beziehung zu den Eltern noch Kind sein möchte?

SCHWESTERIch glaube auch, daß es so von der Beziehung her noch so dieses Kindsein ist. (zur Mutter gewandt) Also das ist einfach so eine Phantasie.

FRITZ SIMONDas heißt, daß er jetzt vielleicht auch etwas nachholt in der Mutter-Kind-Beziehung, was er früher nicht gehabt hat?

(Schwester nickt)

FRITZ SIMONInteressante Idee!


Im hier nicht abgedruckten Teil des Gesprächs wurde deutlich, daß die Kommunikationsregeln innerhalb der Familie Bastian am ehesten dem „psychosomatischen Muster“1 entsprechen. Die Bindung aneinander und die Loyalität miteinander sind hohe Werte. Egoismus ist verpönt, im Zweifel hat man zugunsten der anderen zurückzustecken. Der Lohn dafür ist, daß man sich unbedingt auf die anderen Familienmitglieder verlassen kann. Jeder versucht, den anderen zu verstehen und sich maximal in ihn einzufühlen. Gleichzeitig versucht er aber geheimzuhalten, was in ihm vorgeht, damit er die anderen nicht belastet.

Eventuelle Trennungs- und Individuationswünsche sind ein tabuisiertes Thema, Abgrenzung ist eher schuldbeladen. Als potentielle(r) Schwiegersohn oder -tochter wird man mit offenen Armen aufgenommen, man kommt aber nicht mehr ohne weiteres aus der Familie raus. Interpersonelle Konflikte werden angesichts solcher Werte so gut wie nie aggressiv ausgetragen. Sie können nur individuell bewältigt werden. Das Auftreten körperlicher Symptome verstärkt dieses Muster meist noch.

All dies gilt es, bei der Entwicklung einer therapeutischen Strategie zu bedenken.

1Vgl. Simon 1988/93 und 1995

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