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1. Es hängt alles davon ab, wie man es betrachtet
ОглавлениеWenn ein Bericht über ein Leben abgefasst wird, gibt es drei verschiedene Blickwinkel, aus denen man dieses Leben jeweils in einem anderen Licht sieht. Es gibt das Leben:
1. wie ich es sehe
2. wie andere es sehen
3. wie Gott es sieht
Gleich zu Beginn möchte ich feststellen, dass dies nicht meine eigentliche Autobiografie ist. Diese wurde vielmehr vor einundzwanzig Jahrhunderten verfasst, in drei Sprachen veröffentlicht und verkündet und jedem Angehörigen des westlichen Kulturkreises zugänglich gemacht.
Carlyle hatte nicht recht, als er sagte: »Es gibt kein Menschenleben, das getreu aufgezeichnet worden wäre.« Mein Leben durchaus! Die Tinte war Blut, das Pergament war Haut, die Feder war ein Speer. Das Buch besteht aus über achtzig Kapiteln, jedes steht für ein Jahr meines Lebens. Obwohl ich es jeden Tag aufschlage, lese ich nie dasselbe. Je öfter ich von seinen Seiten aufblicke, desto dringender empfinde ich das Bedürfnis, meine eigene Autobiografie zu verfassen, damit alle sehen können, was ich sie sehen lassen möchte. Je öfter ich jedoch meinen Blick darauf richte, desto deutlicher sehe ich, dass alles Wertvolle in meinem Leben ein vom Himmel empfangenes Geschenk war. Warum also sollte ich mich dessen rühmen?
Dieses alte autobiografische Werk war wie die Sonne. Je weiter ich mich davon entfernte, desto tiefer und länger wurden die Schatten, die sich vor meinen Augen zeigten: Reue, Gewissensbisse und Ängste. Wenn ich jedoch darauf zuging, konnte ich die Schatten hinter mir lassen – sie waren weniger Furcht einflößend, aber immer noch Mahnungen an das, was ich unterlassen hatte. Wenn ich das Buch jedoch in die Hand nahm, gab es keine Schatten, weder vor noch hinter mir, sondern nur die überirische Freude, von Licht umgeben zu sein. Es war, als würde man direkt in der Sonne gehen, keine Trugbilder, die man hätte erstreben, keine Phantome, denen man hätte folgen wollen.
Jene Autobiografie ist das Kreuz – die innere Geschichte meines Lebens, nicht wie es sich im Laufe der Zeit entwickelt hat, sondern wie es im Buch des Lebens aufgezeichnet, aufgenommen und geschrieben wurde. Es ist nicht die Autobiografie, die ich Ihnen erzähle, sondern die Autobiografie, die ich mir selbst vorlese. In der Dornenkrone sehe ich meinen Stolz, in den durchbohrten Händen mein Festhalten an irdischem Zeitvertreib, meine Flucht vor der Fürsorge als Hirte in den durchbohrten Füßen, meine vergeudete Liebe im verwundeten Herzen und meine lüsternen Begierden in dem Fleisch, das ihm als purpurne Fetzen vom Leib herunterhängt. Fast jedes Mal, wenn ich in diesem Buch eine neue Seite aufschlage, weint mein Herz über das, was Agape von Eros angetan wurde, was das »Ich« dem »Du« angetan hat, was der angebliche Freund dem Geliebten angetan hat.
Aber es gab auch Momente in dieser Autobiografie, als mein Herz vor Freude hüpfte, weil ich zu seinem letzten Abendmahl geladen war; als ich trauerte, wenn einer von denen, die mir gegeben waren, seine Seite verließ, um seine Lippen mit einem Kuss zu versengen; als ich ungeschickt versuchte, ihm dabei zu helfen, seinen Kreuzbalken auf die Schädelstätte zu schleifen; als ich einige wenige Schritte näher zu Maria rückte, um zu helfen, das Schwert aus ihrem Herzen zu ziehen; als ich hoffte, hin und wieder im Leben ein Jünger wie jener Jünger zu sein, welcher der, »den Jesus liebte«, genannt wurde; als ich mich darüber freute, dass ich andere Maria-Magdalenen zum Kreuz bringen konnte, damit sie der Liebe Ausdruck geben konnten, hinter der wir in aller Liebe zurückbleiben; als ich den Zenturion nachzuahmen versuchte und kaltes Wasser an durstige Lippen presste; als ich wie Petrus zu einem leeren Grab rannte und dann am Ufer eines Sees mein Herz in tausend Stücke brach, wenn er mich immer wieder in meinem Leben fragte: »Liebst du mich?« Das sind die erbaulicheren Augenblicke der Autobiografie, die als eine Art zweite und weniger authentische Ausgabe der eigentlichen Autobiografie verfasst werden kann, die vor zweitausend Jahren geschrieben wurde.
In dieser Ausgabe ist nicht die ganze Wahrheit enthalten – die Narben sind die ganze Wahrheit. Mein Leben, so wie ich es sehe, kreuzt sich mit dem Kreuz. Nur wir beide – mein Herr und ich – lesen es, und im Laufe der Jahre verbringen wir immer mehr Zeit damit, es gemeinsam zu lesen. Was es enthält, wird am Jüngsten Tag der Welt offenbar werden.
Was Sie lesen, ist trotzdem die Wahrheit, allerdings auf einer niedrigeren Ebene: die Erzählung eines Juwels und seiner Fassung, eines Schatzes und seiner Umhüllung, der Lilie und ihres Teiches.
Wie betrachte ich dann mein Leben? Ich sehe es als Priester. Das heißt, ich gehöre nicht länger mir, sondern handle in jedem Augenblick meiner Existenz in der Person Christi. Als Botschafter der Vereinigten Staaten wird man in einem fremden Land immer, egal ob in der Freizeit oder im Sitzungssaal, als Vertreter unseres Landes beurteilt, und ebenso ist ein Priester immer ein Repräsentant Christi. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Der Priester ist immer auch noch Mensch.
Daher lautet der Titel dieser Autobiografie Treasure in Clay4. Die Wendung stammt aus einem Brief, den der heilige Paulus an die Korinther über sich selbst und über andere Apostel des Herrn schrieb: dass sie doch nichts weiter seien als »zerbrechliche Gefäße«, in denen der Schatz enthalten ist. Das Vorbild könnten die Tonlampen gewesen sein, in die Öl gefüllt wurde, damit die Flamme brennen konnte. Ich habe diese Formulierung gewählt, um den Kontrast zwischen der Würde der Berufung zum Priestertum und der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur zu bezeichnen, die diese Würde umgibt. Wir haben die Ehrfurcht gebietende Macht, in persona Christi zu handeln: die schlimmsten Sünden zu vergeben, das Kreuz von Golgatha auf den Altar zu versetzen, Tausenden von Kindern am Taufbrunnen eine Neugeburt zur Gotteskindschaft zu spenden und Seelen auf dem Sterbebett auf dem Weg in das himmlische Königreich zu begleiten.
Andererseits sehen wir aus wie jedermann. Wir haben dieselben Schwächen wie andere Männer – einige für die Flasche oder für eine Frau oder für Geld oder den Wunsch, in der Hierarchie höher aufzusteigen. Jeder Priester ist ein Mann mit einem Leib aus zerbrechlichem Ton. Um diesen Schatz rein zu halten, muss er auf einem Kreuz aus Feuer ausgestreckt werden. Unser Fall kann wegen der Höhe, aus der wir abstürzen, größer sein als der Fall jedes anderen Menschen. Von allen schlechten Menschen sind schlechte Priester und Ordensleute die schlechtesten, denn sie waren berufen, Christus näher zu sein.
Deshalb ist es für einen Mann mit einer solchen Berufung so schwer, eine Autobiografie zu verfassen, da sie doch die furchterregende Spannung zwischen der Würde seiner Berufung und der Zerbrechlichkeit des Tons zum Ausdruck bringen muss. Kardinal Newman schrieb: »Ich könnte nicht einmal die prüfenden Blicke eines Engels aushalten; wie kann ich dann dich sehen und leben? Ich würde versengt wie Gras, würde ich der Glut deines Antlitzes ausgesetzt.« Im höchsten Punkt dieser Spannung zwischen dem Auftrag Gottes und der armen schwachen menschlichen Verwirklichung gibt es jedoch immer die Ausgießung der Liebe Christi. Er lässt es auch nicht bei einem von uns zu, dass wir über unsere Kraft versucht werden; und selbst in unseren Schwächen liebt er uns, denn der Gute Hirte liebt die verlorenen Hirten ebenso sehr, wie er die verlorenen Schafe liebt. Die Spannung ist vielleicht am größten für jene, die ihn mit vollkommener Hingabe zu lieben versuchen.
Allerdings ist meine Art, mein Leben in Übereinstimmung mit meiner Berufung zu sehen, anders als die Art, wie andere es womöglich betrachten. Deshalb gibt es nicht nur Autobiografien, sondern auch Biografien. Und selbst Biografien können sich voneinander unterschieden: Das Leben Christi, das Johannes uns in seinem Evangelium hinterlassen hat, würde sich deutlich unterscheiden vom Leben, das Judas aufgeschrieben hätte, wenn er zur Feder statt zum Strick gegriffen hätte. Biografien werden meistens erst verfasst, wenn jemand berühmt geworden ist – oder wenn jemand, der nicht so bekannt ist, um über ihn zu reden, bekannt genug wird, dass über ihn geredet wird.
Shakespeare mutmaßte:
Was Menschen Übles tun, das überlebt sie,
das Gute wird mit ihnen oft begraben.5
Wenn es allerdings dazu kommt, dass über einen Bischof geschrieben wird, der auf seinem bischöflichen Stuhl ein ganzes Stück über den Leuten sitzt, besteht die Gefahr, dass man ihn nur in seiner Pracht und Würde sieht. Um noch einmal Shakespeare zu zitieren:
Der Mensch, der stolze Mensch,
In kleine, kurze Majestät gekleidet,
Vergessend, was am mind’sten zu bezweifeln,
Sein gläsern Element, wie zorn’ge Affen,
Spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel,
Dass Engel weinen.6
Wenn ein Mensch in der Welt einen gewissen Grad an Popularität erlangt hat, so wie der Herr sie mir in reichlichem Maß gegeben hat, wird man noch über die Nachspeisen hinaus gerühmt und gepriesen. Zu meinem 84. Geburtstag schrieb mir ein kleiner Junge: »Ich hoff, Sie haben einen schönen Geburtstag. Ich hoff, Sie werden lange leben, und ich hoff, Sie werden eines Tages Papst sein.«
Am Ende eines langen Lebens stellt man im Allgemeinen fest, dass zwei Dinge gesagt wurden: Dinge, die zu schön sind, um wahr zu sein, und Dinge, die zu schlimm sind, um wahr zu sein. Übertrieben wird im Hinblick auf die Anerkennung, was dem Umstand geschuldet ist, dass die Laien den Priester als das sehen, was er ja tatsächlich sein soll: »Ein zweiter Christus«.
Der Herr erwählt nicht die Besten. Ich wurde nicht berufen, weil Gott in seiner göttlichen Weisheit sah, dass ich besser sein würde als andere Männer. Sogar die Liebe Gottes ist blind. Tatsächlich kenne ich Tausende Männer, die es viel mehr als ich verdient hätten, Priester zu sein. Häufig wählt er die schwachen Werkzeuge, damit seine Macht offenbar werden kann. Sonst würde es so scheinen, als würde das Gute durch den Ton geschehen und nicht durch den Geist. Der Herr ritt auf einem Esel nach Jerusalem. Er kann durch New York und London und durch den Mittelgang einer Kathedrale in einer menschlichen Natur kommen, die nicht viel besser ist. Der Herr schätzt jene nicht hoch ein, die in den Beliebtheitsumfragen obenan stehen: »Wehe, wenn euch alle Menschen loben.«
Das scheint das Evangelium in ein abstoßendes Licht zu rücken, doch was unser Herr tatsächlich meinte, war: Wir könnten anfangen zu glauben, was in der Zeitung steht, und uns von dem hinreißen lassen, was die Welt über uns denkt. Je mehr wir uns allerdings die populären Einschätzungen zu eigen machen, desto weniger Zeit verbringen wir auf den Knien mit der Gewissenserforschung. Die äußere Welt füllt sich mit so viel Aufmerksamkeit und Rampenlicht, dass sie uns das innere Licht vergessen lässt. Lob lässt in uns häufig den falschen Eindruck entstehen, dass wir es verdienen würden. Unsere Reaktion darauf verändert sich im Laufe der Jahre: Zu Beginn ist man verlegen und verwirrt; dann finden wir es toll, während wir gleichzeitig behaupten, es würde von uns abperlen wie Wasser vom Rücken einer Ente – aber die Ente liebt Wasser! Im letzten Stadium schließlich neigt man zu Zynismus: Man fragt sich, was derjenige, der einen da lobt, eigentlich will.
Und dann gibt es noch mein Leben, wie Gott es sieht. Hier fällt das Urteil vollkommen anders aus. Der Mensch liest im Gesicht, Gott hingegen liest im Herzen. David wurde nicht wegen seines guten Aussehens auserwählt, Elias wurde nicht wegen seines Aussehens zurückgewiesen. Unser Herr hat eine zweifache Sichtweise auf uns: einerseits, wie er uns geplant hatte; andererseits, wie wir seiner Gnade entsprochen haben. Gott ist ein großes Risiko eingegangen, als er uns den freien Willen gab – ebenso wie Eltern, die ihen Kindern Freiheit zugestehen. Der Prophet Jeremia erzählt eine sehr schöne Geschichte über den Unterschied zwischen dem Ideal, das Gott für jeden von uns hat, und der Art, wie wir uns selbst entwickeln. Gott schreibt die letzte Grabinschrift – nicht auf ein Denkmal, sondern auf die Herzen. Ich weiß nur, dass diejenigen, die von Gott mehr Talente empfangen haben, von Gott strenger beurteilt werden. Wenn ein Mensch viel empfangen hat, wird viel von ihm erwartet, und je mehr einem Menschen anvertraut wurde, desto mehr kann von ihm als Erstattung verlangt werden. Gott hat mir nicht nur eine Berufung gegeben, sondern er hat mich mit Chancen und Gaben ausgestattet, was bedeutet, dass er am Jüngsten Tag viel Ertrag erwarten wird.
Ich weiß nicht, wie Gott urteilen wird, aber ich vertraue darauf, dass er mich mit Barmherzigkeit und Erbarmen betrachten wird. Ich weiß jedoch, dass es im Himmel drei Überraschungen geben wird. Erstens werde ich einigen Menschen begegnen, die ich dort nie erwartet hätte. Zweitens wird es einige geben, die ich erwartet hätte, die aber nicht da sein werden. Und trotz meinem Vertrauen auf seine Barmherzigkeit dürfte die größte Überraschung von allen diejenige sein, dass ich dort sein werde.
4 Dies ist der Titel des englischen Buches. Im Deutschen wurde der Titel Unerschütterlich im Glauben gewählt. Dieser Titel bezieht sich auf das Leben von Fulton Sheen (Anm. d. V.).
5 William Shakespeare, Maß für Maß, 2. Akt, 2. Szene (Anm. d. V.).
6 Ebd.