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2. Das Modellieren des Tons
ОглавлениеTon muss modelliert werden, und das geschieht vor allem in der Familie, die heiliger ist als der Staat. Das bestimmende Modell meiner frühen Kindheit war die Entscheidung meiner Eltern, dass all ihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten sollten. Dieser Entschluss rührte nicht daher, dass sie selbst gut ausgebildet waren, sondern das Gegenteil war der Fall. Mein Vater kam nie über die dritte Klasse hinaus, weil sein Vater ihn auf der Farm brauchte. Meine Mutter ging nur acht Jahre lang zur Schule – zu einer Zeit, als es für sämtliche Klassen nur einen Lehrer gab.
Beide Großeltern mütterlicherseits stammten aus Croghan, einem kleinen Dorf in der Grafschaft Roscommon in Irland in der Nähe der Stadt Boyle. Der Vater meines Vaters (den ich nicht kennenlernte, da er starb, als ich noch ganz klein war) war ebenfalls in Irland geboren. Die Mutter meines Vaters stammte jedoch aus Indiana. Leider starb auch sie, bevor ich alt genug war, um sie kennenzulernen.
Mein Vater, Newton Sheen, und meine Mutter, Delia Fulton, besaßen ein Eisenwarengeschäft in El Paso, Illinois, rund 45 Kilometer von Peoria entfernt. Eines Tages schickte mein Vater den Laufburschen des Ladens in den Keller, um Waren hochzuholen. Der Junge – der später als Bankangestellter in der Stadt arbeitete – sah, als er die Treppen heraufkam, dass sein Vater durch die Eingangstür hereinkam. Der Junge rauchte eine Zigarette, was für einen Jungen seines Alters damals buchstäblich einem Anathema7 gleichkam. Aus Angst vor seinem Vater warf er die Zigarette unter die Stufen. Sie fiel in ein Fass, das zweihundert Liter Benzin enthielt, und die gesamte Ladenzeile von El Paso brannte ab. Vielleicht um den Verlust wettzumachen und den Lebensunterhalt zu verdienen, zog mein Vater daraufhin auf eine Farm um, die er von seinem Vater geerbt hatte.
Seit meinen frühesten Jahren legte ich eine Abneigung gegen alles an den Tag, was mit dem Leben auf der Farm zusammenhing, und mein Vater erzählte gern, dass ich als kleiner Junge eine Säge genommen und die Ladeklappen seines besten Fuhrwerks zerstört hatte. Damals gab es in der Familie zwei Söhne: Ich war der älteste, und nach mir kam Joe, der zwei Jahre jünger war. Ich vermute, dass Armut in einigen Menschen den Wunsch weckt, reich zu sein. Bei meinen Eltern weckte ihre fehlende Ausbildung den Entschluss, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten sollten. Deshalb zogen sie nach Peoria um, damit ich in der dortigen Schule der St.-Mary’s-Pfarrei angemeldet werden konnte, und so begann meine christliche Schulbildung.
Damals erhielt ich auch den Namen Fulton. Offenbar weinte ich während der ersten beiden Jahre meines irdischen Daseins fast ununterbrochen. Später, als Junge, war ich sehr verlegen, wenn wir Verwandte besuchten, und ein Arzt der Familie begann seine Unterhaltung mit meiner Mutter immer mit den Worten: »Oh, das ist der Junge, der nie aufhören konnte zu weinen.« Ich wurde für meine Mutter eine solche Belastung, dass ihre Eltern ihr oft tröstend beistehen mussten.
Verwandte und Freunde sagten häufig im Scherz zu meiner Mutter: »Oh, er ist Fultons Baby.« Bei der Anmeldung in der Schule fragte man meinen Großvater Fulton nach meinem Namen und er antwortete: »Fulton.« Ich war zwar in der St.-Mary’s-Kirche in El Paso, Illinois, auf den Namen Peter getauft worden, doch ab jetzt wurde ich Fulton genannt. Später wurde mein Bruder Joe Rechtsanwalt in Chicago und der nächste nach ihm, Tom, wurde Arzt in New York, und der vierte, Al, ging in die Industrie – die Kinder von Newton und Delia Sheen haben also tatsächlich eine solide Ausbildung erhalten. Dreißig oder vierzig Jahre später, als ich nach einem Zusammenbruch in einem Rundfunkstudio ins Krankenhaus gebracht worden war, entdeckte mein Bruder, der Arzt, dass ich als Kind Tuberkulose gehabt hatte, die die Tränenausbrüche verursacht hatte. Diese hatten ihrerseits die Kalziumproduktion angeregt, was zur Heilung der Krankheit beitrug und mir zu starken Lungen verhalf. Jedenfalls wurde ich – nachdem ich bei der Firmung noch den Namen John bekommen hatte – so zu Fulton John Sheen.
Geburtsort des Erzbischofs: Eisenwarenhandlung und Wohnung der Familie Sheen in 25 Front Street, El Paso, Illinois. Hier wurde Erzbischof Sheen geboren und sein Vater betrieb hier die Eisenwarenhandlung (Fulton J. Sheen Archiv).
Meine Lehrerin in der ersten Klasse war Schwester Alexine. Den Kontakt zu Schwester Alexine hielt ich nicht nur während der Schulzeit aufrecht, sondern auch noch nach meiner Priesterweihe und bis zu ihrem Tod. Sie schien nie auch nur einen einzigen Tag älter zu werden. Indem sie die Jugend unterrichtete, blieb sie selbst jung. Tugendhaftigkeit trägt mehr dazu bei, Jugendlichkeit zu bewahren, als sämtliche Cremes von Elizabeth Arden. Sie konnte sich nie daran erinnern, dass sie mich eines Tages einige Minuten lang im Klassenzimmerschrank eingeschlossen hatte, weil ich ungehorsam gewesen war. Vermutlich wollte sie sich nicht daran erinnern! Aber ich erinnere mich sehr gut daran – das Eingeschlossensein schien sich über Jahre hinzuziehen. Geschadet hat es mir nicht.
In einer der unteren Klassen, wahrscheinlich in der ersten, musste ich nach dem Unterricht dableiben, weil ich nicht wusste, wie man which buchstabierte. Ich versuchte es mit einem halben Dutzend, wenn nicht gar mehr Varianten, aber es nützte nichts. Ein kleines Mädchen hinter mir flüsterte »w-h-i-c-h« in mein Ohr. Später traf ich sie wieder als 83-Jährige in einem Altersheim und dankte ihr dafür, dass sie zu meiner Ausbildung beigetragen hatte, welche (which) ohne ihr Einflüstern sehr erschwert worden wäre.
Ich erinnere mich daran, dass ich während meiner ersten Schuljahre meiner Mutter eines Tages erzählen musste, dass ich den ersten Platz in einem Buchstabierwettbewerb an Margaret Kennedy verloren hatte. Ich hatte nicht gewusst, wie man thralldom buchstabiert. (Offiziell gilt nun auch die Alternativschreibung mit nur einem »l« – wie ich das Wort buchstabiert hatte.) Ich bemühte mich, Klassenbester zu sein, und so kam ich mit Heiligenbildchen und Medaillen nach Hause, doch von meinen Eltern bekam ich nie ein Wort des Lobes zu hören.
Fulton J. Sheen als Schuljunge im Herrensitz – wie ein erfahrener Veteran – auf seinem Pony Bob (Fulton J. Sheen Archiv).
Gelegentlich sagte meine Mutter beiläufig, dass ich das gut gemacht habe, mein Vater jedoch äußerte dergleichen in meiner Gegenwart nie. Einmal sprach ich meine Mutter darauf an und fragte sie, warum mein Vater mich nie lobte. Sie antwortete: »Weil er dich nicht verhätscheln will. Aber er erzählt es allen Nachbarn.«
Im Alter von ungefähr acht Jahren wurde ich Ministrant in der St.-Mary’s-Kathedrale in Peoria, Illinois. Eines frühen Morgens – ich war bei einer Messe mit dem großen Bischof John L. Spalding eingesetzt – ließ ich den kleinen Krug für den Wein auf den Marmorboden fallen. Es gibt keine Atombombenexplosion, die es an Lautstärke mit dem Krach und der Explosivkraft eines kleinen Weinkruges aufnehmen könnte, der in Gegenwart eines Bischofs auf den Marmorboden der Kathedrale fällt. Ich war zu Tode erschrocken. Was würde der Bischof sagen? Als die Messe beendet war, rief Bischof Spalding mich zu sich, legte seinen Arm um mich und fragte: »Junger Mann, in welche Schule wirst du gehen, wenn du groß bist?« Für einen achtjährigen Jungen bedeutete »groß« High School. Ich antwortete: »Ans Spalding Institute«, das war die High School, die nach ihm benannt war. (Man muss zugeben, dass das eine recht diplomatische Antwort war, aber das Diplomatische daran war mir damals nicht bewusst.) Er machte einen neuen Versuch: »Ich meinte, ›wenn du groß bist‹. Hast du je von Löwen8 gehört?« Ich antwortete: »Nein, Euer Gnaden.« – »Nun gut, wenn du nach Hause gehst, dann erzähle deiner Mutter, dass ich zu dir gesagt habe, dass du nach Löwen gehen sollst, wenn du groß bist, und irgendwann wirst du genau das werden, was ich bin.« Ich erzählte meiner Mutter, was der Bischof gesagt hatte, und sie erklärte mir, dass Löwen eine der bedeutendsten Universitäten weltweit war und in Belgien lag.
Ich habe nie wieder an diese Äußerung des Bischofs gedacht, bis ich zwei Jahre nach meiner Priesterweihe in Löwen eintraf, um mich an der Universität einzuschreiben. Ich dachte: »Ach, das ist ja der Ort, den Bischof Spalding genannt hat, als er sagte, dass ich dorthin gehen solle.« Und ich habe auch nie wieder an seine Prophezeiung mit dem Bischofsamt gedacht, denn ich wollte lediglich Priester werden.
Die fünfte Klasse war aufgeteilt in große Jungen und große Mädchen und in kleine Jungen und kleine Mädchen. Ich gehörte zu letzterer Gruppe.
Abschlussfeier an der St.-Mary’s-Schule der Pfarrei in Peoria, Illinois, ca. 1909. Der junge Fulton in der vorderen Reihe in der Mitte (Fulton J. Sheen Archiv).
Für einen Rechenwettbewerb zwischen den Davids und den Goliaths wurde ein Junge namens Ed als Vertreter der Goliaths ausgewählt, während ich die Davids vertreten sollte. Wir wurden in ein Klassenzimmer gebracht, wobei beide Klassen anwesend waren, um uns anzufeuern. Die Tafeln wurden in einem rechten Winkel voneinander aufgestellt, damit niemand abschreiben konnte. Eine Schwester aus der Goliath-Gruppe las eine Rechenaufgabe vor, anschließend daran eine Schwester aus der David-Gruppe. Der Wettbewerb dauerte ungefähr dreißig Minuten, und es wurde sehr spannend, da beide Gruppen Beifall klatschten. Sie klatschten weiter, nachdem wir beide gleichzeitig fertig geworden waren. Danach las die Schwester der Goliath-Gruppe eine Aufgabe vor, an die ich mich erinnern konnte, und ich fing sofort mit der Bearbeitung an. Ed wartete darauf, dass seine Aufgabe vorgelesen wurde. Ich hatte die Rechnung gelöst, bevor er auch nur angefangen hatte. Die Schwester im anderen Teil des Klassenzimmers war so wütend darüber, dass einer der Davids ihren Goliath besiegt hatte, dass sie das Rechenbuch nach mir warf, aber sie zielte schlecht und verfehlte mich.
Im Anschluss an die Konfessionsschule St. Mary’s meldete ich mich am Spalding Institute an, das von der Kongregation der Marianisten geleitet wurde. Sie waren ausgezeichnete Lehrer – sehr auf Disziplin bedacht und dennoch sehr beliebt. Einer meiner Klassenkameraden war Jimmy Jordan, der später im Rundfunk als Fibber McGee bekannt wurde. Gleich auf der anderen Straßenseite besuchte ein junges Mädchen die Mädchenschule Academy of Our Lady. Sie wurde später im Radio Fibbers Ehefrau Molly. Einen Block weiter, in der Peoria High School, gab es einen Jungen, den niemand von uns kannte, der aber später Andy aus dem berühmten Amos-and-Andy-Team wurde. Peoria brachte also drei berühmte Rundfunkstars hervor – ja sogar, einen gnädigen Leser vorausgesetzt, noch einen vierten.
Jedes Jahr führten die Schüler, um Geld für ihre Schule zu sammeln, ein Theaterstück auf. Ich hatte, wie es aus den Tests hervorgeht, kein Talent für Theateraufführungen, aber die Verantwortlichen meinten, dass ich auf die eine oder andere Art im Stück vorkommen sollte, weil mein Vater für das Programm Geld gespendet hatte. Ich erinnere mich noch heute an die eine Zeile, die ich aufsagen musste: Es war eine Fürsprache. Irgendjemand war kurz davor, meinen Vater in einem Wald umzubringen, und ich musste sagen: »Hab Erbarmen mit ihm um deines kleinen Angelos willen.«
Im vierten Jahr an der High School war ich Jahrgangsbester und derjenige, der die Abschiedsrede halten durfte, aber die Lehrer fanden mich als Abschiedsredner nicht sonderlich überzeugend. Am Ende des Schuljahres wurde eine Medaille für die beste Note im Fach Trigonometrie9 vergeben. Ralph Buechel und ich waren gleich gut, jeder hatte 100 Prozent für das Jahr erreicht. Um die Sache zu entscheiden, wurden uns in einer Sonderprüfung drei Aufgaben zur Trigonometrie vorgelegt. An die dritte Aufgabe erinnerte ich mich aus dem Lehrbuch. Kaum hatte der Lehrer begonnen, sie vorzulesen, schrieb ich die Lösung schon aus dem Gedächtnis nieder. Als die Arbeiten ausgewertet wurden, erhielt ich 66 2/3 Prozent, Ralph erhielt 100 Prozent und die Medaille. Ich sagte danach zu dem Lehrer: »Ich glaube, ich habe die dritte Aufgabe richtig gelöst, denn ich habe mich daran erinnert, dass sie im Buch vorkam.« »Ach ja«, sagte er, »stimmt, sie war richtig nach dem, was im Buch stand, aber du hast mir nicht zugehört. Ich habe nämlich den Winkel des Fahnenmasts verändert, deshalb hast du die Medaille nicht bekommen.«
Nach der High School schrieb ich mich am St. Viator College ein (das heute nicht mehr existiert, doch ich habe es in guter Erinnerung). Es wurde von den Viatoristen geleitet und zum Lehrkörper gehörten sehr gute Professoren, unter anderem Professor Kenyon aus Harvard, der uns ausgezeichneten Shakespeare-Unterricht erteilte … Pater Bergan, der Philosophieprofessor, eine der wichtigsten Inspirationsquellen meines Lebens …
Pater McGuire, der als anglikanischer Priester zum römischen Katholizismus übergetreten war und seinen Abschluss in Oxford gemacht hatte … und Dr. Potter, Absolvent der Wharton School of Economics.
Während des Semesters beteten die Studenten täglich den Rosenkranz. Bei schönem Wetter geschah das auf dem Fußballplatz, bei schlechtem Wetter in der Turnhalle. Die Studenten wählten mich zum Vorbeter. An einem Nachmittag fand das Gebet in der Turnhalle statt, und am anderen Ende der Halle war eine Bühne aufgestellt, auf der eine Diskussion mit einem College in Iowa stattfinden sollte. Ich gehörte zum Diskussionsteam. Der Gedanke daran, abends auf dieser Bühne zu sitzen, lenkte mich so stark ab, dass ich den Rosenkranz nicht zu Ende beten konnte. Ich glaube, dass die Nervosität meines ganzen Lebens sich auf diese wenigen Augenblicke konzentriert haben muss, denn nie mehr danach hatte ich Lampenfieber.
1913 bei seinem Abschluss am Spalding Institute in Peoria, Illinois (Fulton J. Sheen Archiv).
Die Modellierung des Tons geschah unter großen Opfern seitens meines Vaters und meiner Mutter. Sie versagten sich jede persönliche Bequemlichkeit und jeden Luxus, damit ihre Söhne gut gekleidet und gut versorgt waren. Unser Familienleben war einfach, die Atmosphäre zu Hause war christlich. Vor und nach jeder Mahlzeit wurde gebetet. Wenn Besuch kam, durften wir nicht ohne Jackett und Krawatte am Esstisch erscheinen. Jeden Abend wurde der Rosenkranz gebetet. Die Priester der Kathedrale besuchten uns jede Woche zu Hause und häufig kamen auch Verwandte zu Besuch.
Ich erinnere mich, dass ich von meinem Vater einmal eine Tracht Prügel bekam. Wir hatten ein Pferd, das in einem Stall hinter dem Wohnhaus untergebracht war. Es wurde für Familienausfahrten unter der Woche und am Sonntag benutzt. An jenem Tag war es meine Aufgabe, das Pferd Morgan zu füttern, was ich zur üblichen Zeit auch tat. Als mein Vater abends heimkam, fragte er mich, ob ich das Pferd gefüttert hätte, und ich bejahte es. Morgan muss an diesem Tag besonders hungrig gewesen sein, denn offensichtlich war im Futtertrog kein bisschen Heu mehr. Mein Vater dachte, dass ich gelogen hätte, und deshalb gab er mir eine Tracht Prügel. Er ließ seine Handfläche mit beträchtlichem Geschick auf meine Hose niedersausen. Nichts trägt zur Entwicklung des Charakters eines Jungen so effektiv bei wie eine Tracht Prügel, vorausgesetzt sie erfolgt oft genug, fest genug und tief genug. Ich beklagte mich später bei meiner Mutter, dass ich das Pferd doch gefüttert hätte, und sie bestätigte die Richtigkeit meiner Aussage. Mein Vater sagte: »Es tut mir leid – dann gilt das für das nächste Mal.« Ich erinnere mich nicht an ein nächstes Mal, denn ich verbrachte mein weiteres Leben ohne Prügel, allerdings nicht ohne Maßregelungen.
Im Rückblick auf diese frühen Zeiten erinnere ich mich an große Unterschiede in der Wirtschaftsordnung. Mein Vater verkaufte von seiner Farm Mais für fünfzig Cent pro Bushel10 und Weizen für einen Dollar pro Bushel, was in jenen Tagen, bevor Russland begann, unseren Weizen zu kaufen, als teuer galt. Ein besserer Anhaltspunkt für den Unterschied bei den Preisen war der Umstand, dass ich an fast jedem Tag außer Freitag zum Lebensmittelgeschäft geschickt wurde, um ein Lendensteak für dreißig Cent zu kaufen. Der Metzger packte zu jedem Kauf immer noch ein Wiener Würstchen dazu. Diese dreißig Cent machten meinen Vater, meine Mutter, die Großmutter und uns vier Jungen satt, ohne dass wir knausern mussten. Milch kostete pro Gallon11 fünf Cent.
Wir hatten in einem der Lebensmittelgeschäfte ein Anschreibkonto. Als ich ungefähr neun Jahre alt war, ließ ich eine Schachtel Nabisco-Kekse anschreiben, die damals ungefähr zehn Cent kostete. Mein Vater entdeckte diese List später, und ich erhielt eine ebenso knappe wie prägnante Lektion zum Thema Ehrlichkeit.
Eine weitere Lektion zum selben Thema erfuhr ich, nachdem ich eine Geranie gestohlen hatte, die vor einem Lebensmittelladen stand. Ich sah, dass diese Geranien für zehn Cent pro Pflanze verkauft wurden. Ich wusste, dass meine Mutter Geranien in Tomatendosen auf der Fensterbank aufstellte, und da ich annahm, dass ich ihr damit eine Freude machen würde, nahm ich eine der Blumen, brachte sie meiner Mutter nach Hause und sagte: »Hier habe ich eine Geranie für dich, Mutter.« Sofort begann die Inquisition: »Hast du sie gekauft?« – »Nein, Mutter.« – »Hast du sie gestohlen?« – »Ja, Mutter.« Dann schickte sie mich zu meinem Sparschwein und ließ mich fünfzig Cent herausschütteln. Ich wandte ein, dass die Pflanze doch nur zehn Cent gekostet habe und eine einzige Blume doch keine fünfzig Cent wert sei. Aber sie bestand darauf, dass ich eine Entschädigung in dieser Höhe leisten solle. Meine Unehrlichkeit, die mit einer Entschädigung meinerseits bestraft wurde, vermittelte mir die Lehre für mein ganzes Leben, dass Ehrlichkeit die beste Strategie ist. Jedenfalls gab mir Mr Madden, als ich ihm das Geld brachte, zwei Töpfe mit Geranien.
Während unserer gesamten Schulzeit schickten uns meine Mutter und mein Vater, die beide an den Wert harter Arbeit glaubten, auf eine der beiden Farmen, die ihnen damals gehörten, östlich und westlich der Stadt Peoria. Der Pächter akzeptierte an den Wochenenden und während der Sommermonate die Sheen-Jungen als Lohnarbeiter. In den frühen Zeiten saßen während einer Pause zwischen der schweren Farmarbeit mein Vater und einige seiner Freunde zusammen, und ein fröhlicher dicker Nachbar namens Billy Ryan sagte zu meinem Vater: »Newt, dein Ältester, Fulton, wird später mal keinen Pfifferling wert sein. Ständig steckt er die Nase in ein Buch.« Meine Brüder mochten die Arbeit auf der Farm, ich litt darunter. Wenn ich heute Tausende von jungen Leuten in Latzhosen herumlaufen sehe, erinnere ich mich daran, dass ich mich schämte, als ich einen Overall tragen musste – die Latzhosen der damaligen Zeit. Vom modischen Gesichtspunkt aus konnte man praktisch nicht tiefer sinken.
Diejenigen, die mich heute kennen, können sich kaum vorstellen, dass es einmal eine Zeit in meinem Leben gab, als ich den Maisacker umpflügte, bei sonnigem Wetter Heu machte, Fohlen anschirrte, Pferde striegelte, ihre schmutzigen Ställe ausmistete, morgens und abends bei feuchter und kalter Witterung Kühe melkte, Mais enthülste, die Schweine fütterte, Pfostenlöcher aushob, Pferde, die sich am Stacheldraht verletzt hatten, mit Salbe einschmierte, an dem Tag, als der Zirkus in die Stadt kam, gegen Kartoffelkäfer kämpfte und täglich meinen Vater zu überzeugen versuchte, dass eine Existenz als Farmer kein gutes Leben sei und dass man nur gutes Geld verdienen könnte, wenn man auf dem Feld auf Öl stieße.
Ohne viele Worte darüber zu machen, wurde ich nach der ethischen Norm des Wertes der Arbeit erzogen. In der Bibel wird Arbeit als Strafe für die Sünde beschrieben – der »uranfängliche Fluch«. Es war nicht die Arbeit an sich, die ich nicht mochte – es war die Arbeit auf dem Bauernhof. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter arbeiteten schwer. Ich kann mich erinnern, dass ich unsere Verwandten, wenn wir sie besuchten, immer in der Küche sagen hörte: »Sag doch Tante Dee, sie soll die Arbeit uns überlassen« – Dee war die Abkürzung für Delia. Wenn mein Vater einen Besuch bei den Pächtern machte, half er ihnen, Schuppen zu bauen, die Ernte einzubringen und alles Mögliche zu machen, um nur ja nicht untätig zu sein. Nicht nur aufgrund der elterlichen Unterweisung, sondern vielleicht auch, weil es so tief in mir verwurzelt war – jedenfalls habe ich die Angewohnheit zu arbeiten nie abgelegt und ich danke Gott dafür, dass es so ist.
Einmal, als ich zehn Jahre alt war, spielte ich auf einem Platz im Freien in der Nähe unseres Hauses in Peoria Baseball. Meine Mutter rief mich und trug mir auf, etwas einzukaufen, was sie dringend für das Abendessen brauchte. Ich nörgelte: »Warum kann ich das Spiel nicht beenden? Wir müssen nur noch zwei Innings12 spielen.« Ihre Antwort lautete: »Du bist draußen, um zu trainieren. Welchen Unterschied macht es, ob du auf dem Spielfeld oder zum Lebensmittelladen rennst?« Jahre später, als ich mich in die Weisheit des Thomas von Aquin vertiefte, erhielt ich die Antwort auf ihre Frage. Dieser gelehrte Philosoph stellte die Frage: »Worin besteht der Unterschied zwischen Arbeit und Spiel?«, und er beantwortete sie: »Arbeit hat einen Zweck, das Spiel nicht, doch muss es im Leben eine Zeit für zwecklose Dinge, ja sogar närrisches Verhalten geben.« Als ich diese Unterscheidung kennenlernte, war es zu spät, um meiner Mutter eine altkluge Antwort zu geben. Und sie hätte mich damals auch sicher nie von einem Buch weggerufen.
Kommen wir zurück zum Thema Ausbildung. Das St. Viator College war auch ein Priesterseminar. Nachdem ich dort meinen Abschluss gemacht hatte, sandte Bischof Edmund Dunne von Peoria mich an das Priesterseminar St. Paul in St. Paul, Minnesota, um dort meine Studien für den priesterlichen Dienst abzuschließen. Damals wütete der Erste Weltkrieg: Es gab nur wenig zu essen und bei mir wurde ein Geschwür diagnostiziert, das operiert werden musste. Die Kurse am Seminar waren sehr gut, vor allem in den Fächern Heilige Schrift, Geschichte und Moraltheologie.
Der Musiklehrer musste uns alle im gregorianischen Choral ausbilden, unabhängig davon, ob wir Gesangsstimmen hatten oder nicht. Ich gehörte zu denen, die kaum zwei Töne halten konnten. Grace Moore hat mir das später bestätigt. Als ich allerdings zwanzig Jahre später zurückkam und im Auditorium von St. Paul einen Vortrag hielt, wurde ich von meinem Musiklehrer vorgestellt, der lobend meine Gesangskünste erwähnte. Ich bin sicher, dass der gute Mann nicht absichtlich eine Lüge erzählt, sondern nur ein schlechtes Gedächtnis hatte. Es wird allgemein behauptet, die Fähigkeit zu singen sei jedem Menschen angeboren, aber auf mich trifft das sicher nicht zu. Bei mir klingt es nicht mal unter der Dusche gut.
Abschlussfeier am St. Viator College in Bourbonnais, Illinois, ca. 1917 (Fulton J. Sheen Archiv).
Am Samstag, dem 20. September 1919, wurde ich durch die Gnade Gottes in der Kathedrale von Peoria zum Priester geweiht. Die Sehnsüchte, die der Heilige Geist meiner Seele schon früh eingegeben hatte, waren nun erfüllt – aber stimmte das wirklich? Ich war jetzt Priester. Ja. Aber ist das nicht nur die halbe Wahrheit? Damals, als ich geweiht wurde, stellte ich mir diese Frage nicht. Zu gegebener Zeit jedoch sollte ich, und zwar nicht auf die leichte Art und Weise lernen, dass ein Priester auch ein Opfer ist. Doch davon später.
Fulton J. Sheen bei seiner Priesterweihe im Jahr 1919 (Fulton J. Sheen Archiv).
Unmittelbar nach meiner Ordination wurde ich nach Washington an die Katholische Universität von Amerika gesandt, um in Philosophie zu promovieren, was es erforderlich machte, dass ich dort drei Jahre lang lebte und studierte. Einige Lehrer waren ausgezeichnet – Dr. Edward Pace und der berühmte Dr. John A. Ryan, ein führender Kopf des Landes auf dem Gebiet der Sozialethik. An den Wochenenden stellte ich mich für verschiedene Einsätze in einigen Pfarrgemeinden in Washington zur Verfügung, was die Universitätsleitung nicht gerne sah. Ich wurde von Msgr. Mackay eingeladen, in der St.-Paul’s-Kirche einen Kurs zur Fastenzeit zu halten. Damals war ich erst 24 Jahre alt, und als ich an der Haustür des Pfarrhauses anklopfte und der gute Monsignore einen Blick auf mich warf, sagte er: »Geh sofort zu den anderen Ministranten zurück in die Sakristei.« Im Regen und mit dem Mantelkragen über meinem Kollar hatte er nicht erkannt, dass ich Priester war.
Im selben Jahr sollte ich während der Karwoche die Eucharistie in der St.-Patrick’s-Kathedrale in Washington feiern. Die Liturgie der Karwoche unterscheidet sich etwas von der für die anderen Tage des Jahres üblichen Liturgie, und ich war etwas besorgt, ob ich es richtig machen würde. Eine der Anweisungen, die in Latein im Verlauf der Liturgie des Karsamstags vorkam, lautete, das Halleluja dreimal zu singen. Dieses Halleluja umfasst ungefähr neunundvierzig Noten, was selbst für Caruso eine Herausforderung gewesen wäre. Ich gab mein Bestes, um sämtliche schwarzen Noten im Messbuch wiederzugeben. Am Schluss seufzte ich erleichtert auf, doch der alte Monsignore Thomas, der Priester, der violette Socken trug, rief aus der Sakristei so laut, dass es alle Anwesenden hören konnten: »Singen Sie es noch mal!« Ich sang es noch einmal, einfach weil er es mir befohlen hatte. Als ich diesen zweiten Durchgang – etwas lauter – geschafft hatte, rief er: »Singen Sie es noch mal!«, was ich in einer Mischung aus Gehorsam und Widerstreben tat, wobei ich mir sehr dumm vorkam. Dann jedoch bemerkte ich am Ende der lateinisch formulierten Anleitung, wie das Halleluja zu singen war, das kleine Wörtchen ter, das dreimal bedeutet. Dieser Zwischenfall hat mich immer an die Geschichte eines Mannes erinnert, der die Wahl hatte, entweder ein hübsches, ganz unbekanntes Dienstmädchen oder eine hässliche, ziemlich berühmte Opernsängerin zu heiraten. Er entschied sich für die Opernsängerin. Am Morgen nach der Hochzeitsnacht schaute er sie an und sagte: »Um Himmels willen, sing!«
Nachdem ich zwei Jahre lang an der Universität studiert hatte, merkte ich, dass meine Ausbildung wohl noch nicht ausreichte, um den Grad eines Doktors der Philosophie zu verdienen. Ich vertraute meine Sorgen einem der Professoren an, und er fragte mich: »Was würden Sie sich denn sonst noch als Inhalte für Ihre Studien vorstellen?« Ich antwortete: »Ich möchte mein Wissen in zwei Dingen erweitern – erstens, worüber die moderne Welt nachdenkt, und zweitens, wie man auf die Irrtümer der modernen Philosophie im Licht der Philosophie des heiligen Thomas reagieren kann.« Er sagte: »Antworten darauf bekommen Sie hier nirgends, dazu müssen Sie an die Universität Löwen in Belgien gehen.«
Im September 1921 brach ich nach Löwen auf und schrieb mich an der Fakultät für Philosophie ein. Mein Bruder Tom kam mit mir, um an derselben Universität Medizin zu studieren. Ich werde mein ganzes Leben lang, unabhängig davon, wie lange ich lebe, nie in der Lage sein, meine tiefe Dankbarkeit dieser Universität gegenüber zum Ausdruck zu bringen für ihre exzellente Lehre, den belebenden Einfluss ihrer Führung und für die Ausbildung des Geistes, die dort ermöglicht wurde. Es gab keine Kurse, die ausgewählt werden konnten – jeder Kurs war obligatorisch. Wir mussten also Metaphysik, Experimentelle Psychologie, Rationale Psychologie, Kosmologie, Aristoteles, Moderne Raum- und Zeitvorstellungen belegen. Diese Kurse waren Teil des Studienplans für sämtliche Doktoranden. In jedem Wissensbereich wurden alle Gegenwartsfragen angesprochen. Sogar die Professoren der Medizinischen Fakultät hielten Hauptseminare in Naturwissenschaften für uns ab. Und neben dieser Ausrichtung am aktuellen Stand der Dinge wurden wir mit Aristoteles, Platon und den antiken Denkern überschüttet und eingetaucht in die Philosophie des Thomas von Aquin.
Sheen an der Universität Löwen in Belgien, frühe 1920er-Jahre (Fulton J. Sheen Archiv).
Die Professoren behandelten Thomas von Aquin, als gehörte er nicht zum Mittelalter, sondern wäre unser Zeitgenosse. Es gab keine Lektürelisten. Man ging davon aus, dass jedes Buch, das ein Professor zur Lektüre empfahl, in der mündlichen Abschlussprüfung vorkommen konnte.
Der brillanteste Professor war Dr. Léon Noël, dessen Nachname seinem Vornamen, wenn rückwärts buchstabiert, entsprach. Er gab unter anderem ein Seminar über Bergsons Philosophie, der damals der einflussreichste französische Denker war. Ein anderer Kurs behandelte den amerikanischen Pragmatismus. Einmal bestellte er mich in sein Büro und fragte: »Haben Sie die Gifford Lectures von Dr. Alexander gelesen?« Ich verneinte. Darauf er: »Nun, sie sind schon vor mindestens dreißig Tagen veröffentlicht worden. Ich rate Ihnen, beide Bände zu lesen und dann an die Universität von Manchester in England zu gehen, um sich mit Dr. Alexander zu besprechen.« Dr. Alexander hatte von König George V. eine Medaille für seine philosophische Abhandlung über Raum, Zeit und Gottheit erhalten. Seine These besagte, dass die Gottheit höhere Seinsstufen hervorbringe.
Ich fragte Dr. Alexander, ob er mir die Erlaubnis erteilen würde, einen seiner Kurse zu belegen. Ich erinnere mich nicht, ob er antwortete »Es geht nur um Kant« oder »Es ist nur Phrasendrescherei«. Jedenfalls lehnte er ab. Für den Nachmittag lud er mich zum Tee ein. Als ich zur vereinbarten Zeit zu dem Gebäude kam, sah ich außen einen Zettel hängen: »Heute Nachmittag zur Teezeit wird Dr. Alexander mit Dr. Sheen von der Universität Löwen diskutieren.« Ich hatte noch gar keinen Doktortitel von der Katholischen Universität Löwen und hatte auch nicht die Qualifikation, die Universität zu vertreten. Aber in der Mitte des Raums war bereits der Teetisch für Dr. Alexander und mich hergerichtet. Hunderte Studenten saßen an diversen Teetischchen im Raum, um der Diskussion zu folgen. Dr. Alexander begann: »Nun, was möchten Sie gerne wissen?« Ich merkte zum ersten Mal, wie es sein muss, wenn man der Allwissenheit Gottes zu Füßen sitzt. Ich antwortete: »Sie glauben nicht daran, dass Gott unendlich vollkommen ist, nicht wahr?« Er fragte: »Haben Sie meine Bücher gelesen?« Ich sagte: »Ja, zweimal.« »Nun«, sagte er, »wenn Sie sie mit einem gewissen Grad an Intelligenz gelesen haben, dann müssten Sie eigentlich wissen, dass ich durchaus daran glaube, dass Gott vollkommen ist.« Ich fragte: »Darf ich Ihnen Ihre Sicht der Dinge erklären, wie ich sie verstanden habe?« Und dann erklärte ich, dass Dr. Alexanders Auffassung für mich zu sein schien, dass Gott ein Drang oder Antrieb sei, der sich immer eine Ebene über der aktuellen Evolutionsebene befinde. »Als es nur Raum und Zeit gab, war Gott eine Chemikalie. Als Chemikalien entstanden, war Gott das Ideal einer Pflanze. Als Pflanzen im Universum auftauchten, war Gott der Idealzustand eines Tieres. Als es Tiere gab, war Gott der Idealzustand des Menschen. Jetzt, da es den Menschen gibt, ist Gott ein Engel. Eines Tages werden wir diesen Zustand erlangen. Gott wird sich weiterhin vorwärtsbewegen als der Antrieb des Universums.« Und er sagte darauf: »Ja, das ist meine Theorie; Sie haben sie ausgezeichnet verstanden.« Ich antwortete: »Nun, Dr. Alexander, Ihr Gott ist offenbar nicht vollkommen, sondern befindet sich auf dem Weg zur Vollkommenheit. Ein vollkommener Gott ist ein Gott, dem in jedem einzelnen Augenblick seines Seins die Fülle der Vollkommenheit zu eigen ist.« – »So hat es mir noch nie jemand dargestellt«, sagte er. Ich fragte ihn, ob er daran interessiert wäre, die Philosophie des Thomas von Aquin kennenzulernen. »Nein, das interessiert mich nicht, denn man wird in dieser Welt nicht durch die Wahrheit bekannt, sondern durch die Neuheit, und meine Lehre ist neu.«
Die Prüfungen für den Doktortitel an der Katholischen Universität Löwen fanden mündlich statt. Ungefähr zwanzig Studenten oder Kandidaten wurden gleichzeitig in einen großen Saal eingelassen, in dem zwanzig Professoren an zwanzig Tischen saßen. Als Student suchte man sich dann einen Tisch aus, der einem zusagte. Jeder strebte zum Tisch des Professors, von dem er dachte, seine Fragen wären die einfachsten. Der Professor stellte Fragen, bis man auf eine Frage nicht mehr antworten konnte. Dann schickte er den Betreffenden zu einem anderen Tisch. Die Prüfung dauerte den ganzen Tag. Am Ende des Tages gab jeder Professor seine eigene Benotung ab, und dann besprachen sich alle Professoren zusammen und gaben eine Abschlussnote.
Als ich zum Tisch von Dr. Noël kam, sagte er: »Sagen Sie mir, wie ein Engel einen Syllogismus vollzieht.« Ich antwortete: »Ein Engel muss den Schlussfolgerungsprozess nicht durchlaufen, da er über eine intuitive Intelligenz verfügt. Deshalb sieht er Schlussfolgerungen so klar wie wir die Tatsache, dass ein Teil nie größer ist als das Ganze. Ein Engel kann also keinen Syllogismus vollziehen.« Später, als wir uns sehr gut kannten, fragte ich ihn, ob er sich an diese Frage erinnere und warum er sie gestellt habe. Er antwortete: »Sie erinnern sich, als ich das Seminar über Bergsons Philosophie hielt, sagte ich zu den Studenten: ›Ich möchte, dass Sie jede einzelne Zeile lesen, die der hl. Thomas je über das Thema Engel verfasst hat, damit Sie die Intelligenz der Engel verstehen können.‹ Ich wollte einfach herausfinden, ob Sie dieser Aufforderung gefolgt sind.« Etwas später, als ich in Rom am Angelicum arbeitete, las ich jede Zeile, die der hl. Thomas geschrieben hatte, mindestens ein Mal.
Die Universität hatte noch einen höheren akademischen Grad zu vergeben, den eines Agrégé.13 Dies bedeutete, dass man zu einem Mitglied der Fakultät wurde. Man musste mehrere Bedingungen erfüllen, um diese Ehrung zu erhalten: Erstens musste die Universität die Einladung aussprechen, zweitens musste man ein Buch veröffentlicht haben und drittens musste man eine öffentliche Prüfung vor Professoren anderer Universitäten ablegen. Ich erhielt die Einladung, mich als außerordentlicher Professor zu bewerben. Da es nicht nötig war, sich in Löwen aufzuhalten, während man sich auf das Diplom vorbereitete, ging ich für ein Jahr zum Theologiestudium nach Rom und schrieb mich am Angelicum ein, das heute zutreffender als Päpstliche Universität Heiliger Thomas von Aquin bezeichnet wird, ebenfalls an der jesuitischen Päpstlichen Universität Gregoriana. Dann wurde ich eingeladen, am Theologischen Seminar Westminster in London einen Kurs in Theologie zu halten.
Der Zeitpunkt war gekommen, um die Prüfung zum außerordentlichen Professor vor den zu diesem Zweck eingeladenen Professoren der anderen Universitäten abzulegen. Die Prüfung begann um neun Uhr morgens und dauerte bis fünf Uhr am Nachmittag. Dann wurde aus den eingeladenen Professoren ein Gremium gewählt, das über die Benotung entscheiden sollte. Es war dieselbe wie für eine Promotion: genügend, gut, sehr gut und mit Auszeichnung. Am Abend gab die Universität für den erfolgreichen Kandidaten ein Abendessen und führte ihn in die Fakultät ein. Hatte man mit »genügend« bestanden, wurde zum Essen nur Wasser serviert. Für »gut« gab es Bier, für »sehr gut« Wein und für den Abschluss »mit Auszeichnung« Champagner. Der Champagner war an jenem Abend ausgezeichnet!
Ich erhielt zwei Lehrberufungen – die erste kam von Kardinal Bourne aus London, der mir vorschlug, nach Oxford zu kommen und mit dem Theologen und Priester Ronald Knox Seminare in katholischer Philosophie und Theologie abzuhalten, die zweite kam von Nicholas Murray Butler, damals Präsident der Columbia Universität von New York, der mich einlud, dort ein Seminar über scholastische Philosophie anzubieten.
Ich sandte die beiden Briefe an meinen Bischof: »Welches Angebot soll ich annehmen?« Seine Antwort: »Kommen Sie nach Hause.«
7 Verfluchung, Bann (Anm. d. V.).
8 Die Katholische Universität von Löwen ist eine der renommiertesten Universitäten in Louvain-la-Neuve, Belgien (Anm. d. V.).
9 Dreiecksberechnung (Anm. d. V.).
10 Getreidemaß in den USA, ca. 25 kg (Anm. d. V.).
11 Knapp 4 Liter (Anm. d. V.).
12 Innings sind Spielabschnitte, wobei in der ersten Hälfte die Auswärtsmannschaft Schlagmannschaft, in der zweiten Hälfte die Heimmannschaft Schlagmannschaft ist (Anm. d. V.).
13 Außerordentlicher Professor (Anm. d. V.).