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DER TABAKBODEN

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Jedes Jahr im Sommer kamen Frauen und fädelten auf unserem Hof die vielen Tabakblätter auf, die zuvor als Sonderkultur am Ortsrand auf zwei Hektar Land angebaut wurden. An unseren Hof grenzte der große Stall, der vor Jahren die Reitpferde des benachbarten Gutsherren beherbergte. Während meiner Kindheit wurde der Stall von meinem Vater genutzt, der hier ein großes Rind und ein paar Schweine unterbrachte. Die Hühner hatten ihren Stall und den Hühnergarten zur Giebelseite hinter dem Wohnhaus. Ursprünglich war das Haus, in welchem wir wohnten, auch Nebengelass, Unterkunft der Bediensteten oder Lagerraum und gehörte zu diesem großen Gutshof nebenan.

Über dem Stall befand sich ein riesiger Dachboden, der vermietet wurde. Hier wurden die aufgefädelten Tabakblätter zum Trocknen aufgehängt. Zur Saison saßen die Helferinnen auf dem großen Hof verteilt und spießten mit langen Drahtnadeln diese großen Blätter aneinander gereiht auf einen dicken Faden auf. Wie an einer Kette hingen diese Blätter dann einige Wochen zum Trocknen auf unserem Stallboden. Regelmäßig kam der Chef des Ganzen und prüfte die Belüftung und den Trockengrad des Tabaks.

Für mich war es eine Freude, dieser viele Besuch auf dem Hof. Viele nette Tanten, die ich beobachten und mit denen ich erzählen konnte. Sie fragten mich oft, wie es mir geht. Sie schienen sich für mich zu interessieren. Und es war lustig mit ihnen. Sie wussten so viel Spaßiges und erzählten Geschichten. Manchmal sangen sie bei der Arbeit. Wenn ich groß bin, mache ich das auch, nahm ich mir vor.

Als die Tabakblätter aufgehängt waren, kamen die Frauen nicht mehr. Ihre Arbeit war getan. Nun galt es nur zu warten, bis die Blätter trocken waren. Dazu kam Onkel S. allwöchentlich und prüfte den Reifeprozess. Wenn ich ihn kommen sah, kraxelte ich vorsichtig die alte kaputte Holztreppe zum Boden hinauf, um zu sehen, was er dort machte. Er zerrieb einen kleinen Teil des Blattes zwischen Zeigefinger und Daumen und roch daran. Ich durfte auch mal schnuppern. Puh. Ich fand, das stinkt. Der Onkel lachte. Wenn es zerbröselte wie altes trocken gebügeltes Papier, dann war es gut. Das erzählte er mir, weil ich es wissen wollte. Es ist schön, wenn die Erwachsenen so schlau sind und mir alles erklären.

Jedes Jahr im Sommer wiederholte sich diese Zeremonie.

Ich ging noch nicht zur Schule, da kam der Onkel wieder auf den Hof und ging auf den Boden. Anmelden brauchte er sich nicht. Der Hof stand stets jedermann offen. Alle konnten hier ein- und ausgehen.

Ich schlich, wie er, durch die Reihen des Tabaks. Fachmännisch prüfte Onkel S. den Reifeprozess. Es ihm nachzutun, darauf verzichtete ich. Meine Freude darüber war groß, dass er da war. Er nahm sich Zeit für mich. Nach getaner Arbeit setzte er sich auf die Holztreppe und hob mich auf seinen Schoß. Es war angenehm, in seiner Nähe zu sein. Er fragte, was ich in der letzten Woche getan habe, wie es mir geht und er erzählte auch von sich. Ich musste lange überlegen, bis ich antworten konnte, wie ich meine Zeit verbrachte. Auf so viel Interesse war ich nicht vorbereitet. Wir erzählten wie ein paar alte Freunde. Er streichelte mir über den Rücken. Das tat gut. Mit der Zeit wanderte die Hand über den Bauch und meine kleine Brust. Das war komisch. Warum tut er das?, fragte ich mich, dachte dann aber, er war wohl in Gedanken. Mit der anderen Hand fingerte er an meinem Schlüpfer, war dann an und in meiner Scheide. Was macht er nur? ICH WILL DAS NICHT! Das ist doch nicht schön, was er da macht! Onkel? Ich sah ihn an, er sah mich nicht. ER schaute ins Leere! Langsam wollte ich von seinen Beinen rutschen, aber er hielt mich fest. »Onkel, Onkel, ich will gehen!«, rief ich. Nichts! Ich rief lauter. Er rieb weiter. Was tut er nur? Ich bekam Angst. Löste mich energisch aus der Umklammerung, richtete meinen Schlüpfer und lief davon. Fast wäre ich die kaputte Holtreppe hinuntergestürzt. Was sollte ich machen? Nur weg von ihm. Was war das? Mein Herz raste. Ich hatte Angst. Ich war verwirrt. Das war nicht der Onkel S., wie ich ihn kannte. Was war passiert? Er sah so anders aus. Wo waren die weichen und freundlichen Gesichtszüge, die ich so an ihm mochte? Warum war er so verändert? Was hat er gemacht? Warum hat er mich nicht gehört? Was war passiert? Oder habe ich etwas falsch gemacht? Ich bekam wieder Angst. Was sollte ich tun? Ich war verzweifelt. Warum war niemand da, der mir hilft? Warum fing mich keiner auf? Ich wollte mich waschen.

Ich stand auf dem Hof und wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Nach einer Weile entschied ich mich, ins Haus zu gehen. Ich ging auf die Toilette. Das war der einzige Ort, wo ich sicher war, allein zu sein. Ich weinte.

Zu diesem Onkel gehe ich nicht mehr!

Ein paar Tage später kam er wieder auf den Hof. Mit Schokolade. Ich lief rein zu meiner Mutti. Verwundert fragte sie: »Was machst du hier? Draußen ist Onkel S. Hast du ihn nicht gesehen? Du bist doch immer gern bei ihm.«

»NEIN!«, schrie ich. »Ich geh nicht zu ihm.« Nach der nervenden Fragerei meiner Mutter erzählte ich ihr, was geschehen war. Damit war das Thema vom Tisch. Ich dachte, dass sie mir Antworten geben könnte auf die vielen Fragen. Vielleicht würde sich alles auflösen, vielleicht hatte ich etwas falsch verstanden, vielleicht alles nur geträumt und er könnte wieder der liebe Onkel sein. Aber wir sprachen nie wieder über das Geschehene. Es wurde still.

Im nächsten Jahr kamen die Tabakfrauen nicht mehr. Im darauffolgenden und allen weiteren auch nicht. Irgendwann fragte ich meinen Vater, wo der Onkel S. sei, wann die Tanten wieder Tabak auffädeln. Da schnodderte er mich mit seiner Alkoholfahne an: »Sie kommen gar nicht mehr. Du bist doch schuld, dass er nicht mehr kommt. Und das Geld fehlt uns auch.«

Wie bitte? Ich verstand es nicht und wurde sehr traurig.

Ja, das Geld war immer knapp. Mutti borgte sich etwas, und als bei der LPG Zahltag war, wurden die offenen Beträge beglichen. Dann war ihr Geld aber wieder fast alle. Nur in den ersten Jahre, nachdem Onkel S. nicht mehr kam, gab es immer mal etwas Neues, sogar eine Kleinigkeit für die Kinder. Wo kam plötzlich das Geld her?

Später schien jedoch die Quelle zu versiegen. S. ließ sich offensichtlich nicht mehr erpressen.

Ein Kuckuckskind

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