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DER ALLTAG HIELT EINZUG

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Arbeit, Familie, Kinder, Streit, Versöhnung und die nächste Schwangerschaft.

Wieder wurde ein Sohn geboren. Er wurde nicht einmal ein Jahr alt. Das Kind verstarb im Alter von elf Monaten an Ernährungsstörungen. Was auch immer das heißen sollte. Die Muttermilch reichte nicht mehr aus und die Ersatznahrung vertrug der Kleine nicht. Wer Beziehungen hatte, ließ sich Trockenmilch aus dem Westen schicken. Doch Henny hatte keine Beziehungen zum Westen und verzweifelte an dem Leid des Kindes. Stets war er krank. Bauchschmerzen. Vertrug keine Kuhmilch. Die Ärzte waren ratlos. Norbert starb. Trauer zog in das Haus am LPG-Hof ein. Bisher gab es hier nur Lebensfreude. Sex, Tanz, Arbeit, Singen, Kaffeeklatsch, Federn schleißen …

Nun der Tod. Eine Welt brach zusammen. ›Warum kann es nicht so fröhlich und bunt in unseren Herzen bleiben?‹, fragte sich Henny. Weinend zog sie ihre Kleinen an sich und drückte sie fest an ihr Herz. Sie fand Trost in ihren beiden Rackern, die noch so unbekümmert schienen. Und gut, dass es Freunde gibt. Die halfen ihr, in den Alltag zurückzufinden. Ihre zwei Kinder beanspruchten sie zusehends und lenkten sie ab. Sie wurde vom Alltag aus den bedrückenden Grübeleien herausgeholt und flüchtete sich in die Arbeit.

Durch die Bodenreform gingen viele der Dorfbewohner in die neu gegründeten Landwirtschaftsbetriebe und halfen im Feldbau oder der Tierproduktion. Dadurch erhielten die Menschen, die auf dem Land blieben, Ställe oder andere Gebäude, die sie sich zu Wohnungen aus- oder umbauen konnten. Material zum Bauen gab es per Zuteilung von der LPG oder einer entsprechenden Einrichtung namens BHG – die Bäuerliche Handelsgenossenschaft. Ähnlich wie bei den Lebensmittelkarten musste man sich auch hierfür anmelden und warten, bis man dran war, um Zement oder Fliesen zugewiesen zu bekommen – das aber oft nur in unzureichender Menge. Das konnte schon mal ein paar Jahre dauern, eh man seine bereits begonnenen Baumaßnahmen zu Ende bringen konnte. Vitamin B war erforderlich. Zu jeder Zeit brauchte man seine Gönner. Auch hier. Leider!

Die Aufgaben innerhalb der Familie hatten sich sondiert. Der Vater ging in den Stall und versorgte die Tiere der LPG. Melkte, mistete aus und fütterte die Rinder und seinen Haflinger Lotte, der dort untergestellt war. Zu Hause hielt man sich zusätzlich Schweine, um die Versorgung über den Winter für die Familie zu sichern. Da fiel halt von der LPG auch Futter für das eigene Vieh ab. Das spart. Schließlich reichte es bei den meisten vorn und hinten nicht. (»Sozialistisch umlagern« nannte man das. Ich hätte gesagt: Das Futter wurde geklaut.)

Die Mutter versorgte die Kinder, immerhin zwei an der Zahl, den Haushalt, den Mann, half im Stall und putzte in fremden Haushalten, um die Familienkasse aufzubessern. Es war schwer, bei diesem geringen Einkommen, die Familie durchzufüttern und zu kleiden. An Luxusgüter, gemeinsame Freizeitaktivitäten war nicht zu denken. Es reichte nicht mal für ein Eis zwischendurch. Durch das Putzen in anderen Haushalten bekam sie abgelegte Kleidung von den Kindern ihrer Arbeitgeber. Die durften ihre Kleinen dann auftragen, beginnend von dem Großen über jedes weitere Kind. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um eine Jungenhose oder einen Mädchenpullover handelte. Hauptsache, es hielt warm, war heil und sauber.

Jeder trägt das, was ihm passt. BASTA.

Die Tiere wollten schließlich auch sieben Tage die Woche und das zweimal am Tag versorgt sein. So kam Willi nicht mehr so oft nach Hause. Nur noch zu den Mahlzeiten und zum Schlafen. Die Gaststätte lag auf dem Weg nach Hause und hatte für die Bauern stets geöffnet. Außerdem warteten die jungen Frauen, die während des Krieges auf ihn gehofft hatten und dann so unverschämt enttäuscht wurden. Man hatte so seine Verpflichtungen. Irgendwann kam er nicht einmal mehr zu den Mahlzeiten heim. Die Kinder nervten. Sie forderten ihren Tribut. Henny ward allein gelassen. Die Abende nahmen zu, an denen ihr Ehemann spät und betrunken nach Hause kam. Da war der Streit vorprogrammiert. Es hagelte Vorwürfe. Wut sprang ihm entgegen. Tränen flossen. Statt nach der Arbeit ihr unter die Arme zu greifen, ließ er sich volllaufen und hurte sich durch fremde Betten. Bei seiner Familie wurde er jähzornig und aggressiv. Der Vorwurf, er würde das bisschen Geld versaufen, das sie eigentlich nicht hatten, saß tief. Im Jahr war das Geld immer knapp, es wurde sich etwas geborgt und dann fiel es schwer, es zurückzuzahlen. Dafür gab es das dreizehnte Monatsgehalt, die Jahresendprämie, die an die Genossenschaftsbauern im Januar ausgezahlt wurde. Davon wurden die Schulden beglichen und die Taschen waren wieder leer. Er begann in seiner Wut zu schlagen. Zuerst seine Frau und später die Kinder. Irgendwann kippte das Ganze. Dann schlug er erst die Kinder, und da die Mutter dazwischen ging, fing sie die Hiebe ab, die dann auch mit einem Ledergürtel oder einer Peitsche verstärkt wurden.

Die Versöhnung endete oft im Bett. Sie liebte ihn. Sie nahm Wilhelm, wie er war und verzieh ihm. Stets kam er zu ihr zurück. ›Also liebt er mich doch‹, dachte sie. ›Man kann nicht immer gleich auseinander rennen. Außerdem, wo soll ich denn hin mit den Kindern?‹

HENNY wollte VIELE Kinder. Sie selbst war ein Einzelkind. Begab sich somit in eine Abhängigkeit, die später zu einer Ausweglosigkeit führen sollte. Sie war aufgewachsen ohne Geschwister, ohne Vater. Er sei im Krieg gefallen, hieß es. In ihrer Ehe sollte alles anders sein. Sie wollte Kinder, und für diese einen liebevoller Vater und für sich einen fürsorglichen Ehemann. Wenn Wilhelm sich dann mal fünf Minuten um ein Kind gekümmert hatte, entschädigte das seine Fehltritte für drei Monate. Warum war Henny nur so genügsam? Also, wieder ins Bett, Sex und das Ergebnis war eine Schwangerschaft. Dann ließ er sie wieder in Ruhe. Nach neun Monaten gebar sie eine Tochter. Ursel. Es war wieder alles neu. Alle kamen, um das Baby zu bewundern. Dinge für die Ausstattung wurden im Dorf zusammengetragen und Henny zur Verfügung gestellt. Ein Grund zum Feiern. Die Männer kippten sich die Birne zu.

Das Kind war erst einmal versorgt. Es gedieh gut. Auch Wilhelm wurde wieder etwas ruhiger. Es schien, als sei seine Sturm-und-Drang-Zeit vorbei. Verhütung schien nicht in dem Umfang wie heute möglich gewesen zu sein. Die Antibabypille gab es im Osten noch nicht. Nur in Ausnahmefällen wurde diese als ein Medikament an ausgewählte Frauen verschrieben. Erst Anfang der 70er-Jahre gab es diese auf Rezept für jedermann. Sicherlich auch eine Versorgungslücke. Oder zu teuer für den Staat. Denn Medikamente wurden zum Teil mit Devisen eingekauft und den Bürgern kostenfrei zur Verfügung gestellt. Das Kuriose war: Die Pille wurde wohl in der DDR hergestellt, aber eben für Devisen an die BRD verkauft. Krankheitskosten wie Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Untersuchung und alle Arztbesuche mussten hier nicht von den Patienten bezahlt werden. Leider standen sie gleichwohl nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung.

Kondome wurden allerdings verkauft. Im Konsum oder HO. Gekauft wurden sie aber in der nächsten Stadt. Aus Scham. Ja, man schämte sich damals zu bekennen, Sex mit der eigenen Ehefrau zu haben. Manche Männer hatten Angst, dass irgendjemand womöglich nachzählt, wie viele man verbraucht. Außerdem war das sowieso Frauensache. Die Dinger waren zudem rationiert wie alles andere. War es Scham, dass sie nicht damit verhüteten? Fehlte der Spaß, weil sie beim Sex störten? Schließlich ist denkbar, dass die Qualität der Überzieher nicht so ausgereift und geschmeidig war wie heute. Oder fehlte das Geld, um ›Mondos‹ zu kaufen? Es spielte wohl alles eine Rolle.

Ein Jahr später wurde Kind Nummer fünf geboren. Mit jetzt vier Kindern galt man als kinderreich. Es war ein Junge. Der Michi. Wieder eine Feier. Dafür war immer Geld da. Klamotten waren noch genug vorhanden. Es wurde ja nichts weggeworfen. Wiederverwendung hieß das Zauberwort. Das war auch gut so. Denn eineinhalb Jahre später ward der nächste Sohn geboren. Die sechste Geburt, das nun fünfte Kind. Aber der kleine Mann verstarb noch in der Klinik. »Henny, du hast ja noch genug Kinder«, meinte der Arzt. Man kannte sich inzwischen. Taktgefühl war etwas anderes. Und gefeiert wurde trotzdem. Ohne Rücksicht auf die Gefühle der Mutter.

Im Ort wandten sich immer mehr von ihr ab. So viele Kinder weisen auf asoziales Verhalten hin. Damit wollten viele nichts zu tun haben. Bestehende Standesdünkel wurden wieder hervorgekehrt. Es wäre nicht sauber in so einem Haushalt. Stete Unordnung, laute Verständigung. Man schrie sich an. Das wäre kein guter Umgang. Keine Manieren. Die Mutter war allein, überfordert, genervt. Leider bestätigte sich das meiste.

Bei so vielen Kindern erziehen diese sich gegenseitig, meinte Henny. Das macht das Leben einfacher, so heißt es. Fragt sich nur für wen? Der Große, Rudi, war inzwischen neun Jahre alt. Henny wusch einmal in der Woche die Wäsche. Das erstreckte sich allerdings über zwei bis drei Tage. Und die Wäsche musste oft gewaschen werden, weil nicht ausreichend vorhanden war. Damals trug man schon mal die Hosen eine Woche. Der Waschkessel wurde nur am Samstag angeheizt. Fließend Wasser gab es in der Wohnung nicht. Man holte es aus der Pumpe, die auf dem Hof stand. Zehn Eimer Wasser à zehn Liter schluckte der Kessel. Der wurde dann beheizt, die Wäsche darin gekocht, mit einer Wäschestange daraus entnommen und in verschiedenen Zinkwannen gespült. Ein Waschkessel war meist zu wenig. Oft musste er ein zweites Mal neu mit sauberem Wasser befüllt und angeheizt werden, und die Prozedur wiederholte sich. Das Spülen und Auswringen erfolgte mit den Händen. Die Mädchen mussten früh mit zufassen und helfen. Das Wasser war kalt, die Wäsche schwer. Es war beschwerlich. Der Rücken, die Arme und Hände schmerzten. Es wollte kein Ende nehmen. Später gab es zu allem Luxus eine, nein, zwei Rollen, die an die alte Holzwaschmaschine angebaut wurden. Der Nachbar brauchte sie nicht mehr. Er hatte sich eine neue Maschine gekauft – die WM 66 oder so. Sie konnten sich das leisten, sie hatten nur ein Kind. Diese Rollen dienten zum Auswringen. Man presste damit das Wasser aus den Textilien, damit wurden die Sachen für einen Moment leichter. Bis zum Spülen. Dann ging alles von vorn los. Ein Waschvollautomat war zu dieser Zeit pure Utopie.

In einer Holztrommel drehte ein Kreuz in der Seifenlauge das Waschknäuel hin und her. Auch hier wurde zuvor das Gerät mit vorgewärmtem Wasser befüllt. ›Turmperle‹ hieß die große Waschhilfe nach dem Waschbrett. Kein Wunder, dass die alten Menschen früh unter Rheuma litten.


Die Jungen mussten schon im eigenen Stall mitarbeiten. Die Tiere füttern, ausmisten und den Mist in den Garten fahren. Wer etwas essen will, muss auch mit zupacken, sagte der Vater. Das war die Vorbereitung auf die Verantwortung, die Leben heißt. Es gab keine Wahl. Zufassen musste jeder, sonst gab es Hiebe.

Ein Kuckuckskind

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