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KAPITEL 2

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Seit Tagen war er seiner Fährte gefolgt, nun endlich konnte er gegen den Wind an ihn herankommen: den mächtigsten Keiler, den er je gesehen hatte. Das erste Morgenlicht zeichnete die massig-gedrungene Gestalt. Dort unter den Eichen brach der Keiler mit seinen gewaltigen Hauern den steinharten Boden auf – nur wenige Schritte von Lykos entfernt. Nah genug, dass das Tier sich, erst verwundet, zum Kampf stellen würde.

Dies war die äußerste Prüfung. Wenn er den Pfeil in die Seite des Schwarzwildes schoss, gab es kein Zurück mehr. Wer einen solchen Keiler reizt, fordert den Tod heraus. Lykos ruckte leicht mit der Schulter. Lautlos glitt der Bogen in seine Hand. Einmal noch prüfte der junge Mann den Sitz der Streitaxt am Waffengürtel, vergewisserte sich, dass der starke Eibenholzspeer griffbereit neben ihm lehnte.

Behutsam legte er den Pfeil an. Ein letzter Augenblick des Innehaltens: Aus eigener Kraft hält kein Mann diesem Untier stand, kein Mensch. Göttlicher Krieger, Herrscher der Wölfe, du willst es. Ich folge dir. Nimm von mir Besitz.

Fest zog er Bogen und Sehne auseinander, dehnte die Spannung, schoss. Die Bogensehne sang: triumphierendes Lied von Mannesmut und Gottvertrauen. Der Pfeil traf den Keiler, blieb in seiner Seite stecken. Der Keiler klagte laut, fuhr herum. Schauerlich tönte das erregte Wetzen seines Gewaffs. Lykos ließ den Bogen fahren, riss den Speer heran. Als sich seine Finger um den glatten Schaft schlossen, geschah es: Lykos der Mann – er hörte auf zu sein.

Feuer schoss aus dem Speer in seine Glieder, glühend pulste das Blut. Die feinen Haare in seinem Nacken sträubten sich. Die Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, die Lippen bleckten drohend die Zähne. Lykos der Wolf – er war geboren.

Geduckt, das linke Bein gebeugt, das rechte nach hinten gestützt, den Speer unter die Achsel geklemmt und mit beiden Händen fest umklammert, die Füße mit aller Kraft im Boden verankert, Spannung in jeder Faser seines Körpers: So erwartete er den Keiler.

Mit den überscharfen Sinnen des Wolfes nahm er den beißenden Geruch des Keilers wahr, hörte dessen stoßweisen Atem über das Dröhnen der Erde hinweg. Augenblick, zur Ewigkeit gedehnt.

Mit todbringendem Ungestüm donnerte der Keiler auf Lykos zu. Die gefährlichen Hauer blitzten. Dann der Aufprall, ein Sprengschlag entfesselter Gewalten. Der Speer drang in die Kehle des Keilers, fraß sich tiefer und tiefer, wurde erst vom seitlichen Knebel gebremst. Hellrotes, blasiges Blut rann die Speerrinne herab. Doch ungebrochen schien die Kraft des Tieres.

Die Wolfswut verzehnfachte Lykos‘ Kräfte. Seine Füße gruben sich in den Boden, er drückte mit dem Speer, wand sich von einer Seite zur anderen, hielt und hielt, suchte den Gegner zu Boden zu zwingen, wusste doch: Es war unmöglich. Ein letztes Aufbäumen, dann ließ Lykos den Speer fahren, schnellte in die Höhe, zur Seite. Der Keiler brach an ihm vorbei, fing sich, kam zurück mit dem Speer im Rachen, den Kopf zum blindwütigen Angriff gereckt.

Lykos drehte sich in einem rasenden Wirbel einmal um sich selbst, riss dabei die Streitaxt vom Gürtel, den Arm nach hinten, warf die gesammelte Kraft der Besessenheit in diese eine Bewegung, schleuderte die Axt dem Keiler entgegen.

Die Streitaxt fuhr auf den mächtigen Schädel des Keilers hernieder, krachend zerbarst der Knochen, tiefer noch fuhr die Steinklinge. Blut spritzte auf. Bis zum Schaft im Hirn des Keilers blieb die Axt stecken. Der Keiler sackte zusammen und fiel zu Boden.

Lykos war über ihm, zerrte die Streitaxt aus dem zertrümmerten Schädel, ließ sie wieder und wieder niedersausen, bis die Raserei sich erschöpfte. Dann sank er neben dem Keiler in die Knie. Allmählich verebbte der rasende Herzschlag, die Züge glätteten sich.

Lykos schnitt dem Keiler mit dem Flintdolch die Kehle durch. Er fing mit beiden Händen das hervorquellende Blut auf und versprengte es über die Heide. Höre mich, Herr der Wilden Schar, göttlicher Krieger, furchtbarer Herrscher der Wölfe! Kühle deine heilige Wut im Blut dieses Keilers. Bleibe mir gewogen und siehe, wie ich dir zu Ehren mein Leben gewagt habe! Denn ich bin dir treu.

Schwankend erhob Lykos sich. Merkwürdig schwach war ihm, wie immer nach der Verwandlung. Mühsam straffte er sich, zwang sich, mit festem Schritt zum Fluss hinunterzugehen. Er legte den Waffengürtel ab. Nackt lief er über Steine und hartgetrockneten, rissigen Schlick bis in die Mitte des Flugbettes, in dem eine tiefere Rinne noch Wasser führte, stieg ins Wasser, wusch sich, wusch die Hitze des Kampfes ab und den Blutrausch.

Dann ließ er sich von der Sonne trocknen und kämmte mit den Fingern das lange Haar. Schließlich schlug er junge Bäume und baute aus dünnen Stämmen, Zweigen und Waldreben einen Lastschlitten. Keuchend wälzte er den massigen Körper des Schwarzwildes auf das Gestänge, band seinen Gürtel am Schlitten fest und begann zu ziehen.

Nur mühevoll kam er zwischen den Bäumen vorwärts. Jeder Stein, jede Bodenwelle und jede Baumwurzel wurden zum Hindernis. Dennoch gab er nicht auf: Das Staunen der Wolfsbrüder zu sehen, wenn er mit dieser Last vor ihrer Hütte erschien! Schweiß rann ihm in die Augen, trübte ihm die Sicht. Nass klebte das lange Haar auf seinem vernarbten Rücken. Die Muskeln schmerzten. Kaum achtete er mehr auf den Wald. Die schleichenden Schritte hinter dem Gebüsch bemerkte er dennoch.

Ohne zu stocken, ohne den Kopf zu drehen, ohne auch nur aus den Augenwinkeln zur Seite zu spähen, ging er scheinbar ahnungslos weiter, hörte die Schritte verstohlen näher kommen, jenseits des Gebüschs zu ihm aufschließen. Den Gürtel fallen lassen, die Streitaxt vom Lastschlitten reißen, durchs Gebüsch springen, sich auf die Gestalt stürzen, sie zu Boden drücken, die Streitaxt gegen sie erheben: All dies war eins. Dann erst sah er, wen er niedergeworfen hatte: einen Jungen, der ihn mit schreckgeweiteten Augen anstarrte.

Lykos ließ den Arm sinken, warf die Streitaxt beiseite, packte den Jungen am Kinn. Schon wollte er ihn schlagen, doch plötzlich lachte er: »Bist du es wirklich, Temos, kleiner Bruder? Wie lang ich dich nicht gesehen habe! Beinahe hätte ich dich nicht wiedererkannt!«

»Ich – ich dich auch nicht«, stotterte der Junge. Lykos gab ihn frei, erhob sich und schüttelte den Kopf. »Wie kannst du einen Wolfskrieger beschleichen, Kleiner! Weißt du nicht, wie leicht dich das dein Leben kosten kann?«

Temos stand auf, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Schon. Aber ich war bei der Hütte, gestern abend bin ich dort angekommen, und deine Wolfsbrüder haben gesagt, du seist im Wald, und Vater hat doch gesagt, ich soll dich suchen, aber ich wusste nicht, ob du es wirklich warst, und da …«

»Vater?«, unterbrach ihn Lykos. »Er schickt dich zu mir?«

»Ja. Ich soll dir sagen, du sollst zu Hause vorbeikommen, ehe du zum Gastmahl des Rösos aufbrichst!«

Lykos runzelte die Stirn. »Wird Vater nicht bei Rösos sein?«

Temos sah zu Boden. »Ich weiß nicht«, erwiderte er zögernd. »Er ist seit Tagen nicht mehr ausgeritten.«

»Ist er krank?«

Temos hob die Achseln. »Er redet nicht darüber. Aber meine Mutter macht sich Sorgen um ihn.«

»So. Dann wollen wir keine Zeit verlieren. Hilf mir, den Keiler zur Hütte zu bringen!«

Lykos wies den Jungen an, den Lastschlitten zu schieben, während er selbst wieder zog. Sein Vater …

Wenige Male hatte er ihn in den letzten Jahren gesehen und es nicht vermisst. Nur bei den großen Gastgelagen war er ihm hin und wieder begegnet, die der König oder vornehme Familienväter gaben und zu denen auch die Wolfskrieger geladen waren: seltene Gelegenheiten höfischen Glanzes, die das wölfische Kriegerleben unterbrachen.

»Wie lang deine Haare gewachsen sind«, sagte Temos schüchtern.

Lykos drehte sich um. Seine Augen blitzten. »Es ist ja auch schon sechs Sommer her, seit ich zum ersten Mal einen Mann getötet habe und sie wachsen lassen durfte! Aber was ist mit dir? Ich war nicht viel älter als du, als ich zu den Wölfen ging und das Haar geschoren bekam! Wie lang willst du noch im Kinderhaar herumlaufen?«

Temos wurde rot. »In einem Jahr will ich mich den Proben unterziehen!

Lykos nickte. »Na dann!«

»Sag mir, Lykos«, begann der Junge und brachte dann stockend hervor: »Sind die Proben sehr schwer?«

»Nicht sehr!« erwiderte Lykos mit beißendem Spott. »Sie machen dich stark – oder sie bringen dich um!«

Temos wurde bleich. Lykos lachte: Warte nur, Kleiner, aus dir wird auch noch ein Mann! »Jetzt komm! Schieb!«, befahl er. Er beugte sich nach vorn, zog an der Last und ging stetig voran. Die Erinnerung ging mit ihm:

Er trug noch seinen Kindernamen und das Kinderhaar. Er war ein Prüfling. Und er fürchtete sich.

Alles hatte er ertragen: die einsamen Tage und Nächte im Wald, die harten Waffenübungen, die tagelangen Gewaltmärsche, die Hetzjagden, bei denen er mit den Hunden hatte Schritt halten müssen, das nächtliche Wachen, den Hunger, den Durst, das Schweigen, die immer neuen Erniedrigungen durch den Meister und die Wolfskrieger. Zahllose Tode war er gestorben, und ebenso oft hatte er zitternd sein wiedergewonnenes Leben in Empfang genommen. Und nun hing er hier gefesselt in der Eiche, wie einst der göttliche Krieger gefesselt hing im Weltenbaum. Die letzte Prüfung sollte er bestehen und sein Blut opfern. Aber da waren keine Ehrfurcht, kein Stolz und kein Mut. Da war nichts als Angst.

Wenn er schrie, wenn er nur einen Laut von sich gab, würde er sterben. Ein bösartiges Zischen hinter ihm, schrecklich vertraut. Er zuckte zusammen, sein Körper erkannte den Schmerz, noch ehe die lange Rute ihn zum ersten Mal traf. Ein Hieb nach dem anderen brannte sich in seinen Rücken, fraß sein Fleisch.

Er presste die Zähne zusammen, die Lippen aufeinander . . .

Durch die Macht der Schläge hin und her gebeutelt, wurde er an den Baumstamm geschleudert. Kein Atemholen. Blut rann warm an ihm herab, tropfte in den schwarzen Boden. Die Totenhunde, Hüter des Reiches der ruhmlosen Toten, leckten es auf. Ihre Augen glühten. Sie fletschten die Zähne, knurrten. Sie warteten, dass er schrie.

Rote Nebel vor seinen Augen. Göttlicher Krieger, dein Tod, mein Tod. Mach ein Ende. Aus dem roten Nebel wurde die Sonne geboren, drehte sich in rasendem Wirbel, schrillte in gleißendem Weiß.

»Du hast alle Proben bestanden«, sagte Temos.

»Sonst wäre ich kein Wolfskrieger!«, erwiderte Lykos knapp.

»Erzählst du mir davon?«, bat der Junge.

»Was fällt dir ein!«, fuhr Lykos auf. »Du weißt, dass kein Uneingeweihter von den Proben erfahren darf!«

»Ich mein‘ ja auch nicht die Proben, sei nicht zornig, bitte, ich mein‘, was danach geschehen ist, was du als Wolfskrieger gemacht hast, was du eben erzählen darfst, bitte!«

Die Ablehnung schon auf der Zunge, wandte Lykos sich zu dem Bruder um. Sah die hingebungsvolle Bewunderung in dessen Gesicht. Und konnte nicht widerstehen.

»Na gut. Also hör. Aber vergiss das Schieben nicht dabei!« Lykos zog gleichmäßig an dem Lastschlitten. Er setzte seinen Stolz darein, trotz der Anstrengung nicht zu keuchen, und erzählte dabei im Tonfall der Geschichtenerzähler, als sitze er am Feuer im Kreis der Krieger:

»Als ich die harte Zeit der Prüfungen hinter mir hatte und mit geschorenem Kopf in den Bund der Wolfskrieger aufgenommen war, schämte ich mich, mir täglich den Kopf rasieren zu müssen. Und ich setzte alles daran, die letzte Probe meiner Mannbarkeit abzulegen und im Kampf einen Mann zu töten. Also schloss ich mich einer Zwölferschar von Wolfskriegern an und beteiligte mich an einem Überfall auf ein Dorf des Alten Volkes. Es war das erste Mal, dass ich eines ihrer Dörfer sah. Aber ich war zu jung und zu unerfahren, und statt im Kampf einen Mann zu töten, wurde ich selbst verwundet. Die Wolfsbrüder lachten über mich. Die Schmach raubte mir beinahe den Verstand. Und ich schwor, allein im Wald zu leben, bis ich das Recht erworben hätte, das Haar wachsen zu lassen.«

Der Bruder gab einen erstickten Laut von sich.

»Viele Monde vergingen, die ich einsam verbrachte. Ich grub mir Erdlöcher und schlief darin wie eine Wölfin, ich ertrug die Kälte des Winters und den Regen des Frühjahrs. Ich folgte der Fährte von Ur, Wildschwein und Hirsch und der Spur von Wolf und Bär, unzählige Male sah ich bei der Jagd dem Tod ins Auge, forderte ihn heraus, wie es dem göttlichen Krieger gefällt. Pausenlos übte ich mich im Bogenschießen und im Gebrauch der Streitaxt. Erst als ich sicher sein konnte, dass ich bereit war, suchte ich mir eine neue Prüfung. Und da ich bei der ersten Prüfung so schändlich versagt hatte, wählte ich die zweite Prüfung schwer.«

»Wie schwer?«, flüsterte Temos mit Schaudern.

»Ich griff zwei kräftige Bauern an, die im Wald Bäume fällten. Zwei Beile gegen meine Axt, zwei starke Männer gegen einen Wolf. Ich habe sie beide getötet.«

»Du hast sie beide getötet«, wiederholte Temos andächtig.

Lykos hielt an, ließ den Gürtel los, mit dem er den Lastschlitten gezogen hatte, streckte die schmerzenden Schultern und dehnte die Brust. Er spürte wieder den Augenblick, in dem er den Schaft der Waffe umfasst hatte und die göttliche Wut über ihn gekommen war wie immer in diesem Augenblick der Verwandlung, er spürte die Raserei jenes Kampfes und dann das tiefe Glück, als ihm bewusst geworden war: Er hatte sein Leben bis zum Äußersten gewagt und die Probe erfüllt. Er hatte dem göttlichen Krieger gedient. Denn in nichts offenbarte sich die Macht und Herrlichkeit der Himmlischen mehr als in der Gewalt über Leben und Tod. Er war ein vollgültiger Wolfskrieger geworden.

»Danach schloss ich mich mit den vier Wolfsbrüdern zusammen, die du gesehen hast, und wir sind noch heute eine Schar«, sagte er zufrieden. Die Augen des Bruders hingen an ihm.

»Und dann? Vater sagt, du hast viele Heldentaten vollbracht. Aber nie erzählt er mir etwas davon! Was hast du alles gemacht?«

Lykos grinste. »Alles? Da würde ich morgen noch reden! Nur so viel: Wir üben uns in der Jagd. Wir folgen dem König, wenn er uns ruft. In jedem Kampf sind wir die, auf die er zählen kann. Auf sein Geheiß schließen wir uns zu größeren Scharen zusammen, werfen uns Raubzügen des Nachbarstammes entgegen und messen uns mit den mächtigen Bärenkriegern der Cor. Längst habe ich aufgehört zu zählen, wie viele Männer ich getötet habe..

»So viele?«, stammelte Temos.

Lykos nickte. Der Bruder war nur ein Knabe. Dennoch tat seine Bewunderung wohl. Freundlich fuhr Lykos fort: »Für den König rauben wir Vieh im Nachbarstamm der Cor oder beim Alten Volk. Ich kann dir nicht sagen, wie viele Rinder, Ziegen und Schafe wir ihm schon zugetrieben haben. Mit der Opferung des von uns geraubten Viehs werden die Himmlischen geehrt. So bringen wir den Segen über das ganze Land. Doch vor allem dienen wir dem göttlichen Krieger, denn wir sind ihm geweiht. Wehe dem, der sich uns in den Weg stellt. Ur oder Bär, Keiler oder Wolf, Krieger oder Heer, wir fürchten nichts und niemanden. Kein Tier ist uns so wild, kein Mann so wehrhaft, dass wir vor ihm das Weite suchen würden. Und was mich betrifft – die Ruhmeslieder meiner Heldentaten werden bei den Gastmählern gesungen.«

Temos holte tief Luft. »So will ich auch einmal werden!«

»Ja? Dann beweis erst mal, dass du Kraft hast, und schieb anständig«, erwiderte Lykos, nahm den Gürtel und begann wieder zu ziehen.

Schweigend kämpften sie sich nun voran. Der Junge mühte sich spürbar ab und keuchte vor Anstrengung, als sie endlich vor der Hütte im Wald anlangten. Klein und dürftig war sie, aus Rinde und Zweigen nur flüchtig erbaut. Mehr brauchte es nicht für das harte und unstete Leben von Wolfskriegern. Enttäuscht stellte Lykos fest, dass die Hütte leer war. Die vier Wolfsbrüder waren auf der Jagd. Er zuckte die Achseln: Also kein Rühmen der gefahrvollen Begegnung mit dem Keiler, kein Abschied unter Brüdern.

Er meißelte und brach dem Keiler die Stoßzähne aus – er würde sie um den Hals tragen, die prächtigsten Hauer, mit denen sich je ein Mann geschmückt hatte, länger als seine ausgestreckte Hand –, legte einen Lendenschurz, den Waffengürtel und den roten Mantel der Wolfskrieger an, rollte den heiligen Wolfspelz in ein Bündel, hinterließ den Freunden ein geheimes Zeichen, dass sie ihm zum Hof seines Vaters folgen sollten, und winkte Temos. Mit der Geschwindigkeit eines trabenden Pferdes lief er vor dem Jungen her durch den Wald, leicht und ohne Anstrengung.

Was hatte er sich einst als Knabe gequält, wenn der Vater verlangt hatte, dass er ihm beim Ausritt folgte und hinter dem Hengst herlief! Lange hatte er nicht mehr an seine Kindheit gedacht. Jetzt kehrte die Erinnerung zurück.

Er fuhr aus dem Schlaf, trunken vor Müdigkeit. Im schwachen Schein des Herdfeuers sah er den Vater an seinem Lager. »Steh auf!«

Glühender Schreck durchzuckte ihn. Schlagartig war er hellwach. Hatte er eine seiner Pflichten vernachlässigt? War dem Vater etwas über ihn zu Ohren gekommen? Wenn er wüsste, was es war! Seine Gedanken jagten und fanden keinen Halt.

»Mein Pferd!«, befahl der Vater.

Er sprang auf die Beine, zitternd. Er holte den Fuchs, hielt dem Vater die Zügel hin. »Du folgst mir!«, sagte dieser, schwang sich auf den Rücken des Hengstes.

Hinter dem Pferd rannte er durch die mondhelle Nacht. Nur mit äußerster Mühe hielt er Schritt. Dennoch hätte er lachen mögen vor Erleichterung. Sie kamen zur Koppel. Ein Knecht erwartete den Vater mit der Fackel in der Hand. Die weiße Stute lag zitternd am Boden. Die Hinterbeine eines Fohlens ragten aus ihrem Leib.

»Es steckt fest«, klagte der Knecht. »Ich bekomme es nicht heraus, Herr!«

Der Vater ließ sich auf ein Knie nieder, stützte sich ab, umfasste die Fesseln des Fohlens und zog. Vorsichtig und doch mit äußerster Kraft. Die starken Muskeln in seinem Nacken, an seinen Armen traten hervor. Er zog das Fohlen ans Licht.

Da lag es. Blutig, das weiße Fell nass und verklebt, noch halb von der Fruchtblase bedeckt. Aber so vollkommen wie nur je ein Fohlen. Die Stute leckte es ab. Schauer liefen ihm, dem Knaben, über den Rücken. Das Fohlen mühte sich, auf die Beine zu kommen.

»Es hat starke Fesseln«, sagte der Vater und wischte sich die Hände am Gras. »Es wird einmal ein prächtiger Schimmel. Und du, mein Sohn, darfst für es sorgen, du ganz allein!«

Er hatte dieses Fohlen geliebt wie kein anderes. Es war sein Lebensinhalt gewesen, seine Rettung. An dessen Hals hatte er die Tränen geweint, die niemand sehen durfte. Und es war wirklich ein prächtiger Schimmel geworden. Später hatte der Vater selbst den Hengst zugeritten und zu seinem bevorzugten Reittier gemacht.

Lykos lächelte. Er freute sich, das Tier wiederzusehen. Mehr als den Reiter.

Die Sonne überschritt den Höhepunkt. Noch immer lief Lykos unverändert schnell und mühelos. Die Schritte des Jungen hinter ihm wurden ungleichmäßig, sein Atem ein verzweifeltes Hecheln. Dann stockten sie.

Lykos wandte sich um. Der Junge war zu Boden gesunken, krümmte sich zusammen und röchelte. Sein Gesicht war weiß wie gebleichtes Leinen. Lykos zögerte: Das geht vorbei. Vater würde nicht auf Temos warten. Auch ich war mehr als einmal so am Ende wie er, und keiner hat mir geholfen. Dennoch hob er schließlich den Bruder auf, lud ihn sich auf die Schultern und lief mit ihm weiter. Erst als sie aus dem Wald herauskamen und vor sich das Gehöft des Vaters sahen, stellte er den Jungen wieder auf die Füße. »Danke«, sagte Temos leise. Er wurde rot vor Scham. »Behältst du es für dich?«

Lykos lachte: »Unter Brüdern!« und gab ihm einen Stoß in die Seite. Gemeinsam liefen sie auf den Hof zu.

Am Tor im Palisadenzaun blieb Lykos stehen: Ort meiner Kindheit. Alles wie einst – und doch fremd. Das Haus. Die Flechtwand ist neu getüncht. Und das Schilfdach, war es nicht früher viel höher?

Als Kinder sind wir hinaufgeklettert und hinuntergerutscht, Hairox und ich. Unten hatten wir uns einen Laubhaufen aufgeschüttet, es war der größte Spaß, natürlich war es verboten, wir haben es nur getan, wenn Vater bei den Herden war, aber dann hat Noedia es Vater zugetragen, und der hat mich an den Zaun gebunden, halbtot geprügelt und –

Der Verschlag. Drei Schritte lang, keine zwei Schritte breit. Das Knarren, wenn die Speichertür sich öffnet. Nicht wissen: Kommt er, um mich zu begnadigen. Oder um

Lykos‘ Blick hing an dem Speicher, an der Ecke, die den Verschlag barg. Schwer hämmerte sein Herz. Unwillig zog er die Augenbrauen zusammen. Ich war ein Kind, damals. Das ist längst vorbei, und Schlimmeres habe ich seither ausgehalten. Er riss den Blick los.

Dort der Windschutz über dem Mahlstein. Wenn es geregnet hat, haben wir uns darunter zusammengekauert, Hairox und ich, er hat damit geprahlt, dass er bald Wolfskrieger würde. Er war viel älter als ich – was habe ich ihn bewundert, ihn, meinen großen Freund!

Meine Schwester musste manchmal als Strafe Getreide mahlen. Und dann, als Vater die neue Nebenfrau genommen hatte, Kugeni, die junge aus dem Westen geraubte Fremde vom Alten Volk …

Es war ein heißer Spätsommertag. Die Hitze flimmerte über dem Hof. Still und ausgestorben lag er da. Der Vater, die Knechte und Brüder waren bei den Herden, Noedia mit den Mägden im Gemüsegarten, die Mutter bei der Nachbarin. Nur Kugeni kniete dort am Mahlstein, an Händen und Füßen gefesselt und an den Pfosten gebunden.

Kugeni, Vaters neue Nebenfrau. Sie war noch nicht lange am Hof. Und doch ein ganzes neues Leben lang. Kugeni – was für ein Name, seltsam und wunderbar zugleich. Seltsam und wunderbar wie alles an ihr. Er spürte ihre Nähe, auch wenn er sie nicht sah. Sie füllte seine Gedanken aus, seine Träume.

Hab ein Auge auf sie, hatte der Vater befohlen, wenn sie unbeobachtet ist, könnte es ihr gelingen, ihre Fesseln zu lösen und wegzulaufen. Ein Auge auf sie! Wenn der Vater wüsste! Er ließ sich im Hausschatten nieder und lehnte sich an die Wand. Er schnitzte an einem Pfeil. Aber immer wieder sah er zu Kugeni hinüber. Nun endlich konnte er sie betrachten, ohne fürchten zu müssen, dass der Vater seinen Blick sah – und verstand. Kugeni mahlte. Es war grausam vom Vater, sie bei dieser Hitze den ganzen Tag am Mahlstein arbeiten zu lassen, da doch die Schwester jammerte, schon nach einem halben Tag Mahlen fühle man sich wie zerschlagen. Und sie dann auch noch zu fesseln! Und letzte Nacht hatte er sie geschlagen! Aber so war er, der Vater.

Wenn es nach ihm selbst ginge, dann würde er ihr die Stricke abnehmen, und sie dürfte sich ausruhen, sooft sie wollte. Auf dem Bett liegen und schlafen, so, wie er sie in jener Nacht im Feuerschein gesehen hatte, als er sich für einen wahnwitzigen Augenblick an ihr Lager geschlichen hatte, halb seitlich auf dem Bauch hatte sie gelegen, ihr einer Arm war herabgesunken, ihr Gesicht unter dem aufgelösten Haar so weich, und ihr Rücken, diese Rundung –

Er würde ihr die Fesseln lösen, mit ihr zum Wassertrog gehen, ihre Füße baden, ihre Beine kühlen, mit beiden Händen Wasser schöpfen und ihr über das erhitzte Gesicht rinnen lassen, zwischen ihre –

Er stöhnte. Schloss die Augen. Dann öffnete er sie wieder: Der Vater selbst hatte ihm befohlen, Kugeni zu beobachten.

Mit ihren aneinandergebundenen Händen schöpfte Kugeni Getreidekörner aus dem Vorratsgefäß, streute sie auf den Mahlstein, nahm den kleinen Läuferstein und rieb ihn hin und her. Mit dem ganzen Körper führte sie die Bewegung aus: vor und zurück, vor und zurück. Ihre offenen Haare fielen nach vorn, sooft sie sich vorbeugte. Haare so hell wie Flachs. Die Sonne brannte unter dem Windschutz. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn, auf ihrer Oberlippe. Sie hatte sehr rote Lippen, weich und voll und leicht geöffnet. Als kleine Rinnsale rann ihr der Schweiß den Hals hinunter, sammelte sich in dem Grübchen am Halsansatz, rann tiefer, rann in den Ausschnitt des Kleides. Wenn sie sich vorstreckte, gab dieser Ausschnitt den Blick frei auf den Ansatz der Brüste.

Die Sonne brannte so heiß.

Kugeni richtete sich auf, strich sich mit den gefesselten Händen die Haare aus dem Gesicht, den Schweiß von der Stirn. Ihr Blick fiel auf ihn. Sie hatte sehr helle, sehr blaue Augen.

Gleichgültig, stumpf strich ihr Blick über ihn. Doch plötzlich kehrte er zu seinem Gesicht zurück, wurde lebhaft. Ein Funken blitzte in diesen hellen Augen auf. Dann senkte sie den Blick, neigte den Kopf, arbeitete weiter.

Er stand auf, schnitzte an dem Pfeil herum, setzte sich wieder, nun näher zu ihr. Kugeni beugte sich beim Mahlen noch weiter vor. Jetzt konnte er ihre Brüste ganz sehen. Fest und voll, glänzend vor Feuchtigkeit. Ihre Bewegungen wurden langsamer, weicher.

Sein Mund war ausgedörrt. Ihr Ausschnitt verrutschte. Nun sah er ihre weiße Schulter. Die sanfte Wölbung.

Kugeni begann leise in ihrer Sprache zu singen. Eine Melodie, schmeichelnd, zärtlich, verlockend. Er kannte keines der seltsamen Worte. Dennoch verstand er dieses nie gehörte Lied, wusste, wovon es erzählte. Sein Atem ging schneller.

Kugeni sah ihn an, sah ihm in die Augen. Ihre Zungenspitze fuhr über die Lippen. Dann warf sie mit einer geschmeidigen Kopfbewegung die Haare zurück, bog sich weit nach hinten, hob die zusammengebundenen Arme über den Kopf, presste sie in den Nacken. Ihre Brüste zeichneten sich unter dem Kleid ab. Wie Knospen standen ihre Brustwarzen hervor. Ein Gewuschel heller, lockiger Haare wuchs unter ihren Achseln.

Ein erstickter Laut bildete sich in seiner Brust. Und plötzlich war er mit zwei Schritten vor ihr, kniete bei ihr nieder, presste seinen Kopf zwischen ihre Brüste, sog den Geruch ein: Sonne und Schweiß und Getreide und noch etwas, etwas, das ihn betäubte.

Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre gefesselten Arme und zog ihn fester an sich. Er stöhnte. Sie grub ihre Finger in seine Haare, flüsterte heiße Laute in sein Ohr, bog seinen Kopf zurück, küsste seine Augenlider, seine Nasenwurzel, seine Wangen, seinen Mund, streichelte seine Zungenspitze mit der ihren, sog sich daran fest. Plötzlich hatte sie die Arme wieder vor seinem Kopf, nahm sein Gesicht in die Hände, fuhr mit den Fingern über seine Lippen, über seinen Hals, seine Brust, tiefer und tiefer.

Sein Glied, steif wie noch nie, brannte in ungeahnter Hitze, fieberte der Berührung entgegen, die er nicht zu denken wagte. Erst vor kurzem hatte er begonnen, heimlich im Wald die Lust zu erkunden, die seine Hände an diesem geheimnisvollen Ding erregen konnten. Und immer hatte er dabei an sie gedacht, an ihre Haare, ihre Brüste, ihren Körper, hatte ihren Namen gestöhnt im Schauer der Erlösung. Doch auf einmal war ihm klar, dass dies alles nichts war gegen den Feuersturm, den sie selbst mit ihrer Berührung entfachen konnte.

Näher kamen ihre Hände, näher, jetzt, gleich …

Da richtete sie sich auf, streckte ihm die gefesselten Handgelenke entgegen, sie sagte etwas, ihre Stimme war dunkel vor Verheißung, ihre Augen baten und versprachen zugleich, natürlich, die Fesseln, sie störten, mit gefesselten Händen konnte sie es nicht tun, schon zerrten seine Finger an dem festen Knoten im Strick, begannen ihn zu lockern – da hörte er Hufschlag, der rasch näher kam.

Er fuhr hoch, stieß Kugeni zurück, sprang auf, rannte zur Tränke, tauchte den Kopf ins Wasser. Das Blut dröhnte in seinen Ohren. Er hörte den Vater rufen. Langsam ging er dem Vater entgegen, kaum wagte er zu Kugeni zu blicken, streifte sie mit einem raschen Blick, sie kniete und mahlte wie eh und je, hob nicht den Kopf, die Hände noch immer gefesselt, nicht auszudenken, wenn der Vater später gekommen wäre, nur einen kurzen Augenblick später …

Der Vater warf ihm die Zügel des Pferdes zu, wollte sich schon ins Haus wenden, doch plötzlich stockte er, sah ihn, den verbrecherischen Sohn, scharf an, baute sich vor ihm auf, die Hände in den Waffengürtel gehakt. »Was ist?«, fragte er streng. »Hast du mir etwas zu sagen?«

Er senkte den Kopf, der Vater war der Stellvertreter des Himmelsvaters, wie hatte er sich gegen den Vater auflehnen können, den Vater betrügen, der Vater sah es ihm an, schon immer war das so gewesen, er konnte den Vater nie belügen, es gelang nicht, der Vater würde es merken und ihn totschlagen, der Speicher, nicht der Speicher –

»Ja, Herr«, sagte er, seine Stimme brach, er rang nach Luft, Mutter, was soll ich tun. »Ja, Vater, verzeiht, ich …«, er stockte, doch dann, auf einmal, waren die Worte da, die Rettung: »Ich wollte Euch bitten, mich zu den Wölfen ziehen zu lassen. Ich möchte die Prüfungen ablegen!«

Lykos drehte sich zu Temos um. »Hat Vater eigentlich diese Nebenfrau noch, diese Fremde, wie hieß sie doch gleich, Kugeni?«

Temos schüttelte den Kopf. »Nein. Vater hat überhaupt keine Nebenfrauen mehr. Seit deine Mutter tot ist, hat er nur noch meine Mutter. Fast, als wär‘ jetzt sie seine rechtmäßige Ehefrau.« Stolz klang in seiner Stimme.

Als sei sie durch ihre Erwähnung herbeigerufen, trat Noedia, Temos‘ Mutter, auf sie zu.

»Lykos, willkommen in deinem Vaterhaus!« Sie reichte ihm einen Becher Bier und führte ihn ins Haus.

In der Tür blieb er stehen, gewöhnte die Augen an das Dämmerlicht, dann trat er ein, verneigte sich vor dem Vater auf der Bank. »Ich grüße Euch, Herr. Ihr habt mich rufen lassen?«

»Setz dich zu mir, mein Sohn!« Der Vater wies auf die zweite Bank, die mit Bärenfell bedeckte Gastbank.

Lykos lächelte. »Es ist mir eine Ehre, Vater.« Früher hatte er diese Bank ehrfurchtsvoll bewundert. Nun lud der Vater ihn ein, darauf Platz zu nehmen.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Vater. Herrisch und unbeugsam wie eh und je saß dieser da, achtungsgebietend im herrschaftlich schwarzen Gewand. Aber sein Gesicht war schmal und hager geworden, scharfe Falten hatten sich eingegraben, und auch die Sonnenbräune konnte über eine seltsame Blässe nicht hinwegtäuschen.

Er ist alt, dachte Lykos. Wie kraftlos seine Arme sind. Der hebt seine Hand nicht mehr gegen mich. Im Kampf hätte ich leichtes Spiel mit ihm. Ich könnte ihn niederstrecken mit einem einzigen Schlag, ihn töten mit meinen bloßen Fäusten. Und ihn habe ich einst gefürchtet, vor ihm habe ich gezittert!

»Ich hoffe, Ihr erfreut Euch bester Gesundheit«, sagte er höflich, »und Eure Herden wachsen und gedeihen!«

»Der Sommer ist zu heiß und zu trocken, und im Frühjahr hat es so gut wie nicht geregnet, unsere eigene Ernte wird schlecht werden, die der Bauern natürlich auch, das drückt das Ausmaß der Abgaben. Und was fast schlimmer ist: Die Trockenheit lässt das Futter knapp werden, und die Hirten müssen ihre Kunst erweisen, um noch ausreichend Tränken für die Herden zu finden«, erwiderte der Vater. »Doch davon jetzt nicht. Früh genug wirst du dich darum zu kümmern haben. Denn ich muss dir sagen: Die Zeit deines wilden Wolfslebens ist bald vorbei. Nicht lange mehr wirst du im Wald bleiben. Nicht lange mehr wirst du der Jagd und dem Kampf leben. Nicht lange mehr wirst du ein Wolfskrieger sein.«

Lykos horchte auf: »Wie meint Ihr das, Herr?«

»Ich fühle die Kälte des Todes. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem du mein Erbe antreten wirst. In Kürze wird es für dich Zeit, das Wolfsfell abzulegen, den roten Mantel mit dem schwarzen zu tauschen, eine Frau zu nehmen, Vieh zu züchten, diesem Hause vorzustehen und deinen Platz im Königsrat einzunehmen. Bereite dich auf den Tag vor, an dem Lykos der Wolf im Feuer der Verwandlung sterben und Lykos der Herr durch Blut und Wasser geboren wird!«

Lykos schwieg. Er hatte immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Nun begriff er selbst nicht: Sollte er stolz sein oder betrübt?

Die Tür öffnete sich mit lautem Ächzen. Noedia kam herein, brachte Met und Fleisch, Brot und Bohnen. Sie kniete bei ihnen nieder, wusch ihnen die Hände über der Wasserschale, schenkte Met ein, legte die Speisen vor, dann verließ sie wieder den Raum.

Der Vater lud die Himmlischen zum Mahl, sprengte ihnen Met ins Feuer, legte ihnen das beste Fleischstück in die Glut. Dann forderte er Lykos zum Essen auf. Lykos, von Hunger und Durst überwältigt, langte mit beiden Händen zu, aß viel, trank noch mehr, trank viel zu schnell. Sein Gesicht rötete sich. Der Vater fragte nach der Jagd. Prahlend erzählte Lykos von dem Keiler, den er am Morgen erlegt hatte, und wies die gewaltigen Hauer vor, die er – ehe er Zeit fände, sie zu spalten und zu durchbohren – an einer Schnur verknotet um den Hals trug. Der Vater nickte zerstreut.

Lykos schüttete den Met in sich hinein.

Der Vater war schweigsam, als warte er auf etwas. Dann endlich begann er zu sprechen: »Warum ich nach dir gesandt habe, Lykos – ich will, dass du eine Aufgabe erfüllst, für die ich zu alt bin. Und die auch besser von dem erfüllt wird, der hier bald Herr sein wird. Ich will, dass du mit deinen Wolfsbrüdern einige meiner Bauern bestrafst.«

Spott zuckte in Lykos auf. So schwach bist du schon, Vater, dass du mich brauchst, um deine Bauern zu bestrafen?! Nur mit Mühe unterdrückte er ein höhnisches Grinsen.

»Ehe du das Wolfsfell ablegst«, fuhr der Vater fort, »präge das Brandmal deiner Stärke unauslöschlich in ihre Gemüter, damit sie ihren Herrn beizeiten kennenlernen!«

Lykos nickte und nahm einen Schluck. »Worum geht es?«

»Um die Bauern in den Höfen hinter dem Schwarzmoor. Sie liefern mir von Jahr zu Jahr weniger Getreide. Sicher, es fehlt an Regen und die Ernteerträge werden schmäler, dieses Jahr besonders. Dennoch habe ich sie im Verdacht, Vorräte vor mir zu verbergen. Und was gefährlicher ist: Sie üben heimlichen Widerstand!«

»Widerstand?«, fragte Lykos ungläubig. Seine Zunge formte die Worte nur noch mit Mühe.

»Wenn ich es sage! Kürzlich habe ich mein Pferd durch ihre Schuld verloren, den Schimmel, der mir mehr bedeutet hat als alles. Ich habe im Dorf hinter dem Schwarzmoor nach dem Rechten gesehen, ich hatte ihn in einem der Bauernhöfe angebunden, und als ich zurückritt, brach er zusammen, mitten im Moor, es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre selbst zu Schaden gekommen, den Hengst musste ich töten, ich bin sicher, er wurde vergiftet – von den Bauern, von wem sonst!«

Lykos sprang auf, schwankte. Wut blitzte in seinen Augen. »Dein Schimmel! Kein Fohlen habe ich so geliebt! Wie können diese Bauern das wagen!«

»Es sind ihre Weiber, die sie dazu anstacheln«, sagte der Vater. »Höre auf mein Vermächtnis, Lykos, das ich seit langem in mir trage. Ich sage es dir im Vertrauen, denn du sollst es für die Zukunft wissen: Es sind die Weiber, die hinter der Aufsässigkeit und den Anschlägen der Bauern stecken! Sie sind der wahre Gegner. Wenn du der Bauern Herr werden willst, so werde ihrer Weiber Herr!«

»Ihrer Weiber?« Lykos leerte mit einem Zug einen ganzen Becher Met, lachte. Endlich setzte er sich wieder. »Was sollen ein paar Weiber ausrichten?! Das verstehe ich nicht.«

»Nein, das verstehst du nicht. Auch ich habe lange gebraucht, es zu begreifen. Aber lerne aus meiner Erfahrung! Die Weiber sind es, die unter den Bauern die Erinnerung an die alte Zeit wachhalten, als unsere Väter noch nicht Besitz von diesem Land genommen hatten. Die Weiber sind es, die ihre Kinder die alte Sprache lehren und die Ehrfurcht vor ihrer Schwarzen Göttin. Die Weiber sind es, die den Himmlischen lästern und den grässlichen Kult ihrer Schwarzen Göttin pflegen. Die Weiber sind es, die mit ihren lüsternen Ausschweifungen jeder Sitte höhnen und die Gier ihrer Männer so anstacheln, dass diese ihnen hilflos verfallen. Die Weiber sind es, die ihren Männern einflüstern, wir seien Eindringlinge und nicht die rechtmäßigen Herren dieses Landes. Brich die Kraft der Weiber – und du rottest die Wurzel des Widerstandes aus!«

»Die Kraft der Weiber brechen?« Lykos lachte immer lauter. Er spürte den Taumel im Kopf, die Hitze in den Lenden. »Da weiß ich ein Mittel, das nie versagt! Seid unbesorgt, Vater, gleich morgen, auf dem Weg zum Gastmahl des Rösos, werden meine Wolfsbrüder und ich diese Bauernhöfe hinter dem Schwarzmoor heimsuchen. Und wenn wir wieder von ihnen ablassen, wird jeder dort mich kennengelernt haben, und niemandem wird mehr der Sinn nach Widerstand stehen, schon gar keinem Weib!«

»Da er dies alles vollbracht, da bettet zum Schlummer sich Trito,

gibt sich den Schwingen des Schlafs hin, der nimmer ermüdende Krieger.

Wie nun der Geist unsres Helden noch weilet in Traumes Gefilden

und seine Glieder noch liegen von sanfter Süße umfangen,

sieh, da erhebt sich die Schlange, die lauernd im Sumpfe gelegen,

recket die dreifachen Köpfe der wütend grimmige Drache.

Feuer entglimmt seinen Augen und Rauch entsteigt seinem Rachen,

fauchend naht er sich furchtbar des Schlafenden viehreicher Herde,

treibt mit dem Schweife das Vieh und die Lämmer tragenden Schafe.

Keinerlei Laut warnt den Helden, kein Bellen den schlummernden Krieger,

weg führt der grässliche Drache die Schafe, die Rinder und Pferde.

Was einst die Himmlischen gütig dem Helden zu eigen geschenket,

stiehlt nun der gierigen Schlange gar niemals ersättliche Raublust.

Hin zu der Höhle im Berge, in unwegsames Gelände,

treibet der Drache das Vieh, so versteckt und verbirgt er die Herde,

sichert mit dreifachem Tor das Geraubte, versperrt es mit Balken,

ruft drauf zur Wache die Hunde, die wütend noch jeden zerrissen,

der je sich ihnen genähert, und sei es im arglosen Guten.«

Der Sänger hielt inne, raffte sein weißes Gewand, ließ seinen Blick über die Gäste gleiten, über den König zunächst, dann über Rösos und die anderen weißgekleideten Greise zu des Königs Rechten, hochverehrte Männer, die ihr Alter zum Amt der Richter und Priester auszeichnete, wartete auf deren kaum merkliches Nicken der Zustimmung, blickte weiter zu den schwarzgekleideten, Waffen tragenden Männern zur Linken des Königs, dem Königsrat, den Herren und Vätern der großen Familien, um dann schließlich bei der abseits lagernden dritten Gruppe zu verharren: den jungen Wolfskriegern in ihren blutroten Mänteln. »Hört nun, was sich begab, als Trito, der Held, drauf erwachte«, fuhr der Sänger langsam fort, und seine Stimme tropfte in atemloses Schweigen, »als er erkannte den Raub und entdeckte den ruchlosen Frevel!« Wieder hielt der Sänger ein. Und Lykos, gefangengenommen von dem Lied, wurde selbst zu Trito.

Er war es, der aufsprang und einen Schrei ausstieß, dass die Bäume erzitterten und die Berge widerhallten, er war es, der blutige Rache schwor, er war es, dessen Gelübde den göttlichen Krieger gewogen machte, sodass dieser ihm die Spur des Drachen bis zur Höhle zeigte. Er war es, der sich den Hunden, diesen blutrünstigen Bestien, zum Kampf stellte, der sie besiegte mit Streitaxt und Speer, sie erwürgte mit seinen bloßen Händen, der die Tore der Höhle sprengte, das Vieh wieder fand und es herausführte. Und er war es, der sich plötzlich dem dreiköpfigen Drachen gegenübersah, er ganz allein.

»Hilf mir, göttlicher Krieger, ich bitte, eil mir zur Seite,

Götter nur töten den Drachen, nicht menschengeborene Krieger!

So ruft der tapfere Held und erflehet den göttlichen Beistand,

schwört auch, zu opfern sein Vieh zu des göttlichen Kriegertums Ehren,

hoffend, der Himmlische selbst würde Arme und Streitaxt ihm führen.

Siehe, der Himmlische hört ihn, es hört ihn der göttliche Krieger,

fährt in den Helden hinein in der Wut des reißenden Wolfes.

Alsbald erleidet der Held eine wundersame Verwandlung:

ist nicht mehr länger ein Mensch, ist ein unwiderstehlicher Wolf nun.

Zornfunken sprühet sein Auge und todbringend drohen die Zähne,

sträubt sich sein Fell, dringt ein Grollen hervor aus der Kehle.

Rasend vor Wut, als Wolf, mit göttlich verzehnfachten Kräften,

springt er der Schlang‘ an die Kehle, nicht fürchtend des Drachen Gewalten,

achtet gering die Gefahr, ist gegen jede Verletzung gefeiet,

wirbelt die Streitaxt im Kampf und zerschmettert den Drachen zu Tode.«

Lykos schloss die Augen und sog tief die Luft ein, stieß sie langsam wieder aus: Ja, das war es. Dieses Lied wusste von dem, was wirklich war.

Und während der Sänger von dem Opfer berichtete, das Trito nach gelungener Tat brachte, gelobte Lykos einmal mehr dem göttlichen Krieger Gefolgschaft. Wenn der göttliche Krieger ihm so gewogen war wie Trito, so konnte auch er Heldentaten vollbringen, die Unsterblichkeit erlangen würden.

Wenn er eine Braut freite, so sollten ihre Ohren von den Ruhmesliedern klingen, die auf ihn gesungen wurden, und sie sollte beim Nennen seines Namens erröten, zitternd vor Furcht und Verlangen.

Der Sänger beendete sein Lied. Der König dankte ihm mit wohlgesetzten Worten. Dann klatschte Rösos in die Hände. Das Gastmahl konnte beginnen.

Die Frauen und Mädchen, die in gebotener Entfernung am Rande der Festwiese beim Hofzaun gewartet hatten, eilten herbei. Jede trug eine Schale mit Wasser und ein Tuch für die heilige Waschung.

Ein junges Mädchen kam auf die Wolfskrieger zu. Wie alle Jungfrauen trug sie ihr Haar offen, nur durch ein Stirnband gehalten. Der überreiche Kupferschmuck in diesem Stirnband und um ihren Hals ließ keinen Zweifel daran, dass sie eine Tochter des Rösos war.

Schon oft hatten Mädchen wie sie Lykos beim Gastmahl bedient. Doch heute war es anders. Heute sah er. Die Sonne glühte einen rotkupfernen Schein auf das braune Haar des Mädchens. Ihre Haut war sanft getönt und makellos, ihr Gesicht ebenmäßig und still. Sie hielt den Kopf gesenkt, die Augen auf ihre Füße gerichtet.

Die ist es, dachte Lykos. Die soll meine Frau werden. Diese Einheit von Anmut und Zurückhaltung. Mit ihr kann ich bei jedem Gastmahl Ehre einlegen. Welche Farbe wohl ihre Augen haben? Ich will sehen, wie sie ihre Augen zu mir aufschlägt. Ich will sehen, wie diese Augen strahlen, wenn ich freundlich zu ihr bin, wie sie voll Bewunderung an mir hängen, wenn ich Anordnungen treffe, wie sie in Glück schwimmen, wenn ich sie in die Arme schließe.

Die Tochter des Rösos. Einen ehrenwerteren und bedeutenderen Schwiegervater kann man sich kaum vorstellen. Hieß es nicht, er habe Aussicht darauf, Oberpriester zu werden? Mein Ansehen wird hoch steigen, wenn ich seine Tochter zur Frau habe. Lykos, Schwiegersohn des erhabenen Rösos …

Es wird mich eine ganze Viehherde kosten, das Jawort ihres Vaters zu erhalten. Mehr. Gleichviel. Eine Braut wie diese ist niemals zu teuer erkauft. Bei Rösos kann ich sicher sein, dass er seine Tochter mit Sorgfalt erzogen hat. Dass sie einen großen Haushalt zu führen und viele Gäste zu bewirten versteht. Dass sie meinem Namen niemals Schande bereitet.

Das Mädchen kniete bei ihm nieder, hielt ihm die Wasserschale hin. Er tauchte seine Hände ein, dehnte dabei die Brust, damit die Hauer des Keilers leise aneinander klapperten und ihre Aufmerksamkeit erregten. Sie konnte noch keinen Mann gesehen haben, der solch einen Keiler besiegt hatte wie er. Hob sich nicht ihr Busen unter dem hochgeschlossenen Kleid? Da war das Bild da.

Mit langen Sprüngen setzte er hinter der jungen Frau her. Ihr blondes Haar flatterte im Wind. Noch im Rennen löste er den Gürtel, warf den Lendenschurz ab. Sie war schnell. Ihre braungebrannten Beine flogen. Er war schneller. Er holte sie ein, fing ihre Haare, riss sie an ihnen herum. Ihre Brust in dem tiefen Ausschnitt hob und senkte sich rasend. Aus ihren Augen schrie das helle Entsetzen. Er wirbelte ihre Haare um seine Hand, zog ihren Kopf mit roher Gewalt zurück, zwang ihr Gesicht vor seines. Mit der Linken griff er in ihr Kleid und zerfetzte es.

Sie keuchte, trommelte mit den Fäusten auf seine Brust, zerkratzte seine Haut mit ihren Fingernägeln. Er warf sie zu Boden, warf sich selbst über sie, prügelte auf sie ein.

Ich werde dir zeigen, wer dein Herr ist. Schamloses Biest! Huren seid ihr, ihr Weiber des Alten Volkes, und ich mache mit dir, was du verdienst! Du wirst meinem Vater kein Pferd mehr vergiften. Du wirst deinem Mann und deinen Kindern keine widerspenstigen Gedanken einflüstern. Fürchtet den Herrn, wirst du ihnen sagen, gehorcht ihm, sonst kommt er über euch, wie er über mich gekommen ist. Siehst du, so bricht man den Widerstand eines Weibes.

Er stieß in sie, als würde er fortfahren, sie aus Leibeskräften zu schlagen. Erst als er von ihr abgelassen hatte, aufgestanden war, begriff er, dass sie noch Jungfrau gewesen war. Und erschrak.

Er nahm die Hände aus der Waschschüssel. Unwillkürlich zog er den Mantel enger zusammen, verbarg die frischen Kratzer auf seiner Haut. Das Mädchen reichte ihm das Handtuch. Er trocknete sich ab.

Dir täte ich nie so etwas an, meine Braut. Das Mädchen heute Morgen, das war nur eine von den Bäuerinnen hinter dem Schwarzmoor, denen ich zeigen musste, wer ihr Herr ist. Ich musste es tun! Du aber weißt, dass du einen Herrn heiratest und ihm Gehorsam und Ehrerbietung schuldest. Und du sollst meine geachtete und geliebte Hausfrau sein. So wahr ich ein Wolfskrieger bin.

Das Mädchen erhob sich, verneigte sich leicht zum Gruß und kniete mit der Schale in Händen bei dem nächsten Krieger nieder.

Bald wirst du nur noch mich bewirten und meine Ehrengäste.

Doch plötzlich erschien Lykos diese Vorstellung unerreichbar.

Die Speisen wurden auf den niedrigen Tischen aufgetragen: gebratenes und gekochtes Fleisch. Beerenmus, Brot und Gemüse. Er würdigte das Essen keines Blickes, folgte nur ihr mit den Augen.

Rösos rief die Himmlischen im feierlichen Gebet an, pries ihre Größe und ihre ruhmvollen Taten, lud sie zum Gastmahl, brachte dem Feuer, dem Wasser und der Sonne, dem Himmlischen Vater, dem göttlichen Krieger und den heiligen Zwillingen Opfer an Fleisch und Met. Lykos hörte nicht zu, denn ein Gedanke hatte von ihm Besitz ergriffen: Wenn ihr Vater sie nun schon einem anderen versprochen hat! Ihr Vater ist einflussreich genug, sich jeden Schwiegersohn wählen zu können, den er nur will.

Er merkte kaum, was er aß und trank. Wenn ihr Vater sie mir nicht gibt! Seine Gefährten redeten von dem morgendlichen Überfall auf die Bauernhöfe hinter dem Schwarzmoor. Genussvoll rühmten sie jede einzelne Gewalttat. Er beachtete es nicht.

Andere Krieger gesellten sich zu ihnen, hörten zu, lachten beifällig. Das Mädchen kam auf sie zu, ein großes Tablett mit gebratenen Wildgänsen in Händen. Mit einem Ohr merkte er, dass die anderen über ihn sprachen. »Und ihr hättet sehen sollen, wie Lykos sich die Weiber vorgenommen hat!«, lachte einer der Freunde. »Fragt ihn doch mal, wo er die Kratzer her hat, ich sag‘ euch …«

»Halt den Mund!«, fuhr Lykos ihn grob an.

»Was hast du, du magst doch sonst …«

»Heute nicht!«

Das Mädchen neigte sich, stellte das Tablett ab. In Lykos‘ Schläfen pochte das Blut. Er trank seinen Becher in einem Zug leer.

Der König stand auf, verließ den Kreis der Familienhäupter und Priester und kam auf die Wolfskrieger zu, ein Trinkhorn in der Hand. »Meine Treuen! Meine Helden!«, sagte er und ließ sich in ihrer Mitte nieder. »Trinkt mit mir!« Er nahm einen Schluck und reichte das mit Met gefüllte Horn des Auerochsen weiter. Ein Wolfskrieger nach dem anderen trank, bestätigte so den Bund der Gefolgschaft mit dem König.

Das Trinkhorn machte die Runde, kehrte in die Hand des Königs zurück. Dieser leerte es vollends, sah reihum jeden einzelnen Krieger an. Lykos erwiderte den Blick wie gewohnt. Ihm schien, dass der König ihn länger ins Auge fasste als die anderen. »Glücklich ein König wie ich, der auf Gefolgsleute bauen kann wie euch«, sagte dieser.

Lykos straffte sich. Jetzt galt es, auf der Hut zu sein. Etwas bahnte sich an.

»Vor allem in Zeiten wie diesen«, fügte der König hinzu.

In Zeiten wie diesen? Was meint er damit?, überlegte Lykos und entschloss sich zu einem wissenden, gedankenschweren Nicken.

Der König nahm dieses Nicken aufmerksam zur Kenntnis und fuhr fort: »Ihr lebt weitab von den Geschäften der Familienhäupter, habt euch nicht darum zu sorgen, wie die Herden gedeihen und wie das Korn wächst, sondern wie ihr den Reichtum durch Viehraub vergrößern könnt.«

Die meisten Wolfskrieger lachten beifällig, doch Lykos erschien es besser, Ernst zu zeigen. Der König beobachtete ihn, und bald sollte er, Lykos, Mitglied im Königsrat sein. Wenn er seine Befähigung dazu zum Ausdruck bringen könnte. Was hatte noch der Vater auf die Frage nach den Herden geantwortet?

»Das Leben im Wolfsbund hindert uns nicht daran zu bemerken, dass im Frühjahr der Regen ausgeblieben ist und auch dieser Sommer zu heiß und zu trocken ist. Ich fürchte, die ungewöhnliche Trockenheit lässt das Futter für die Herden knapp, die Tränken rar und die Ernteerträge gering werden«, warf er ein.

Der König betrachtete Lykos überrascht. »So ist es. Ungewöhnlich für einen Wolfskrieger, sich derlei Gedanken zu machen. In der Tat beginnen wir uns im Königsrat zu fragen, ob dieses Land uns und unsere Herden noch tragen kann. Ich habe dem Himmelsvater große Opfergaben gebracht, angerufen habe ich ihn. Unsere Priester haben ihn im Orakel um Weisung angefleht. Strafend kam seine Stimme im Donner zu uns, und sein Zorn fuhr im Blitz hernieder: Wir seien nicht würdig, seine Söhne zu heißen, wenn wir in solcher Lage zweifelten, was zu tun sei. So hat nun der Königsrat beschlossen, dass wir unser Land ausdehnen und einige angrenzende Landstriche des Gebietes des Alten Volkes in Besitz nehmen. Der Königsrat beauftragt euch Wolfskrieger, einen kurzen, aber wirkungsvollen Kriegszug tiefer ins Land des Alten Volkes hinein zu führen als je zuvor. Seid ihr bereit?«

Die Wolfskrieger sprangen auf, schlugen sich an die Brust. »Wir sind bereit!«, riefen sie. Lykos schrie am lautesten.

»So habe ich es von euch erwartet«, erklärte der König und erhob sich. Trat einen Schritt auf Lykos zu. Musterte ihn. »Lykos, knie nieder!«

Lykos tat es. Ahnte, was dies bedeutete. Wagte es dennoch kaum zu glauben. Der König zog seine kupferne Streitaxt, dies funkelnde Sinnbild seiner Macht, und berührte damit Lykos‘ Schultern. »Ich rufe an die siegreiche Sonne. Ich rufe an das strahlende Rad der Sonne. Ich rufe an die alles sehende Sonne, den heiligen Späher, zum Zeugen meiner Entscheidung: Lykos, Sohn des Nuerkop, ich ernenne dich zum Anführer dieses Kriegszuges!« Lykos dehnte die Brust.

Der König fuhr fort: »Trag ihn weit nach Westen ins Land des Alten Volkes hinein! Über die Sandberge. In eine Gegend, in der die Bauern unsere Streitäxte noch nicht geschmeckt haben! Ihr sollt den Schrecken vor unserer unbesiegbaren Stärke in ihre Gemüter pflanzen, ihr sollt ihrem Gedächtnis unauslöschlich einprägen, dass niemand sich uns in den Weg stellen kann, keiner!«

Die anderen Krieger brachen in Jubel aus. Lykos aber erfüllte mit einem Mal ein tiefer Ernst. Er sollte der Anführer sein. Das war die Aufgabe, auf die er immer gehofft hatte. Feierlich erhob er sich.

»Wir sollen Beute machen?«, fragte er in die Augen des Königs hinein. »Vieh, Frauen, Getreide?«

»Gewiss«, erwiderte der König ruhig, »das auch. Doch vor allem sollt ihr diesen Bauern und ihren halsstarrigen Weibern klarmachen, dass wir in ihr Land kommen werden. Als Herren. Und dass verloren ist, wer sich uns nicht unterwirft! Zeigt ihnen, wozu rasende Wölfe fähig sind!«

»Sie werden es nicht vergessen«, bestätigte Lykos. »Ihr erwartet, dass wir einen blitzartigen Überfall auf einige Dörfer tief im Land des Alten Volkes machen? Uns ebenso plötzlich wieder zurückziehen? Eine Zerstörung hinterlassen, die für sich selber spricht? So den Boden bereiten für eine neue Landnahme?«

»Du begreifst schnell«, sagte der König wohlgefällig. »Doch setzen wir uns wieder! Ich will, dass jeder von euch sich über eines klar ist: Ihr sollt diese Bauern hinter den Sandbergen das Fürchten lehren, damit wir ihr Land in Besitz nehmen können, ohne uns um die Sicherheit unserer Familien zu sorgen. Wenn euer Kriegszug vorüber ist, werden einige unserer Familien nach Westen ziehen. Keiner vom Alten Volk soll es wagen, ihnen das Recht streitig zu machen, Höfe zu errichten, Felder und Gärten anzulegen und das Vieh in die Wälder zu treiben. Keiner soll es wagen, auch nur einer Frau oder einem Kind der Söhne des Himmels zu nahe zu treten. Sie sollen wissen, was ihnen bevorstünde, wenn sie das täten. Jeder Bauer soll sich glücklich schätzen, ihnen Getreide und andere Abgaben liefern zu dürfen, um so ihren Schutz zu gewinnen. Damit wir dort mit dem Alten Volk zusammenleben können, wie wir es hier tun: als ihre unangefochtenen Herren. Das zu erreichen ist eure Aufgabe. Und deine vor allem, Lykos. Wenn du deinen Auftrag zu meiner Zufriedenheit ausführst, hast du einen Wunsch bei mir frei! Nenne ihn mir gleich, und ich will ihn dir gewähren, wenn du als Sieger zurückkehrst!«

Lykos presste die Zähne zusammen. Ein Anführer der Wolfskrieger musste Entschlusskraft zeigen. Er durfte nicht lange überlegen, um welche Gunst er den König bitten sollte. Wenn er etwas wüsste, womit er den König beeindrucken könnte –

Da erinnerte er sich an das Mädchen.

»Wenn der Kriegszug Eure Erwartungen erfüllt, so werde ich Euch bitten, für mich bei Rösos um die Hand seiner Tochter zu werben. Euch wird er eine Werbung nicht abschlagen können!«

Die Augen des Königs verengten sich. »Rösos‘ Tochter? Da doch jeder weiß, dass Rösos bald unser Oberpriester sein wird? Mit der Tochter von Rösos erkaufst du dir mehr Ansehen und Einfluss als mit jeder anderen Braut – außer mit meiner eigenen Tochter. Ich sehe, du wirst auch im Königsrat eine erhebliche Rolle spielen. Nun, du hast mein Wort. Wie ist ihr Name?«

»Ihr Name? Ich weiß nicht. Ich habe sie vorhin zum ersten Mal gesehen, das Mädchen, das uns heute Abend bedient hat!« Lykos schaute um sich. Da sah er sie. Ganz dicht bei ihnen stand sie, einen Stapel sauberer Tücher an sich gedrückt, hatte alles gehört, stand und starrte ihn aus großen dunklen Augen an.

Einen Herzschlag lang kreuzten sich ihre Blicke, dann schoss tiefe Röte in ihr Gesicht, sie senkte die Lider, drehte sich um und hastete davon.

Die Göttin im Stein

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