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Volksschule Oggersheim

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Die Schulzeit begann für Paul im Herbst zwei Jahre nach Kriegsende an der Volksschule in Oggersheim, es war die Schillerschule, mitten im Ort gelegen, nicht weit vom Altstadtplatz entfernt, mit der bitteren Erfahrung, einen halben Tag lang einen Raum mit vierundvierzig Mitschülern teilen zu müssen. Es mangelte so kurz nach Kriegsende an Lehrpersonal. Entsprechend groß waren die Klassen. Man musste zwangsläufig auch noch, von der Bevölkerung so genannte, Nazilehrer beschäftigen, worauf noch zurückzukommen ist.

Paul lief am zweiten Schultag während der ersten Pause nach Hause und sagte zu seiner erstaunten Mutter: „Es gefällt mir dort nicht, ich bleibe lieber hier bei dir“. Doch es half nichts, er musste am nächsten Tag zurück in die ungeliebte Lehranstalt. Nach vier Wochen bekam Paul von seiner Klassenlehrerin Fräulein Liebel einen Zettel mit nach Hause, auf welchem stand: Frau Zolar, ich bitte Sie am Freitag, nach der letzten Schulstunde um ein Gespräch in Klasse 2b. Hochachtungsvoll Marianne Liebel. Anna fragte Paul, was das zu bedeuten habe. Aber Paul wusste keine Antwort. Am Freitagmittag, nachdem die Schüler gegangen waren, sagte Fräulein Liebel zu Anna: „Ich glaube ihr Sohn Paul benötigt Sonderunterricht, weil er in Allem nicht folgen kann. Er kann beispielsweise das, was ich an die Tafel schreibe, noch nicht einmal wiederholen“. Anna und Fräulein Liebel sahen zu Paul hin, der nun murmelte: „Ich kann ja auch nicht so genau sehen, was an der Tafel steht“. Paul benötigte also eine Brille! Tage später trug er das Modell Kassenbrille, ein Drahtgestell mit kreisrunden Brillengläser, wie sie viele Jahre später der Beatle Sänger John Lennon populär machte. Zu Pauls Zeit jedoch war einer der eine solche Brille trug, der Brillenglotzer der Klasse. Der stark kurzsichtige Paul trug schwer unter diesem Makel. Das Alphabet erlernte er schnell, und zwar in Schreib- und Druckschrift. Dazu hatte der Deutschlehrer die sogenannte Sütterlinschrift, allgemein als Deutsche Schrift bezeichnet, als weitere Schrift- und Schreibart unterrichtet. Als dieser altgediente Lehrer und Parteigenosse in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wurde, war es mit Sütterlin wieder vorbei.

Dieser Lehrer, Herr Wagner, war ein übler Kettenraucher. Seine sämtlichen Finger waren vom Nikotin seiner filterlosen, selbstgedrehten Zigaretten, gelb verfärbt. Seine ganze Erscheinung roch nach Nikotin und Zigarettenasche. Einem geregelten Unterricht waren die ständigen Pausen unzuträglich, in welchen er den Klassenraum verließ um auf dem Flur zu rauchen. Die zurückgelassenen Schüler mussten sich alleine beschäftigen, indem einer von ihnen benannt wurde, einen Text aus dem Lesebuch an die Tafel zu schreiben; natürlich in Deutscher Schrift. Die anderen mussten dann den Tafeltext abschreiben. Diese unsinnige Prozedur wiederholte sich etwa alle Viertelstunde. Herr Wagner mit frischem Aschenbecher-Geruch betrat wieder die Klasse und korrigierte die Fehler des Textes an der Tafel bis ihn erneut die Sucht packte, er einen weiteren Lesebuchtext aussuchte und wieder den Raum verließ. Paul wunderte sich, dass seine Großeltern diese Sütterlinschrift nicht ablegen wollten und sogar Mutter Anna immer noch Elemente dieser Schrift benutzte.

Am liebsten mochte Paul in der Schule das Vorlesen, darin war er eindeutig der Beste in der Klasse. Am wenigsten gefiel ihm jedoch der Rechenunterricht bei Lehrer Biehl. Dieser pflegte intensiv die Kunst des Kopfrechnens in Form der Kettenaufgabe. Paul verlor bei dieser Rechenart meist vorzeitig den Faden. Wenn Herr Biehl dann nach der Lösung fragte: „Wer das richtige Ergebnis hat, streckt den Finger hoch“, war es sinnvoll, stets den Finger hoch zu strecken, denn, falls ein Schüler den Finger unten ließ, wurde er als Erster gefragt: „Na, was hast du denn raus?“ Natürlich war es das falsche Ergebnis. Dann nach dieser Demütigung, wurde es gefährlich. Jetzt kam nämlich einer der Fingerhochstrecker dran. Und wehe, derjenige hatte geblufft. Den nahm sich Herr Biehl mit einer Sonderaufgabe vor. War diese auch falsch gelöst, dann gab es einen Eintrag ins Klassenbuch und entsprechende Bemerkungen hinsichtlich der geringen Intelligenz des Schülers. Paul kamen diese Rechenstunden wie eine Strafe vor. Nicht viel besser fand er die Deutschstunde bei Fräulein Distel, die nach Herrn Wagner an die Schule kam. Diese liebte die Grammatik und das Diktat. Während eines Diktats verordnete sie totale Ruhe. Reden und Abschreiben wurden sofort bestraft, indem der betreffende Schüler die Finger einer Hand zusammengedrückt nach oben strecken musste und Fräulein Distel mit dem flachen Lineal blitzschnell zuschlug und dadurch die Fingernägel stauchte. Ein heftiger Schmerz war die Folge, so dass nach dem Aufschrei manche Träne floss. Einigen empörten Eltern erklärte sie, dies sei eine nicht unübliche Erziehungsmethode an deutschen Volksschulen.

Der Höhepunkt einer Bestrafung im Auftrag pädagogischer Erziehung jedoch gelang dem jungen Vikar Herrn Meissner, welcher den evangelischen Religionsunterricht abhielt. Seinem langweiligen Unterricht, mit entsprechender Unaufmerksamkeit und Unruhe unter den Schülern, folgte als Abschluss regelmäßig eine Hausaufgabe, die mit dem Katechismus zusammenhing. Paul konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an welchem es passierte. Herr Meissner hatte die Woche vorher gewarnt: „Wer beim nächsten Mal die Hausaufgaben nicht gemacht hat, wird sein blaues Wunder erleben!“ Paul hatte diese Worte nicht vergessen, vor allem nicht das bedrohliche blaue Wunder. In letzter Minute hatte er am Abend zuvor die ungeliebte Hausaufgabe erledigt; das entsprechende Kapitel aus dem Katechismus gelernt und herausgeschrieben. Nun stand Herr Meissner vor der Klasse mit fünfundzwanzig evangelischen Schülern und teilte diese von Beginn an räumlich in zwei Teile. Der eine Teil umfasste fünfzehn Schüler, welche keine Hausaufgaben vorweisen konnten. Sie kamen nach rechts zur Wandseite. Der Rest der Schüler musste sich links an der Fensterseite hinsetzen. Herr Meissner brüllte nicht, nein er sagte es sanft, mit Zynismus in der Stimme und nach der rechten Seite blickend: „Euch werde ich es zeigen! Glaube bedeutet Gehorsam! Ich werde daher für euch und in euch ein Zeichen setzen, welches lange nachwirkt“. Nach diesen Worten holte er einen Stock hervor, der etwa die Länge von über einem Meter besaß und von einer Weide hätte stammen können. Paul hatte solche Stöcke schon selbst im Maudacher Bruch gefertigt und wusste um deren Möglichkeiten der Schmerzerzeugung. Herr Meissner bat den ersten Schüler, von der rechten Seite, nach vorne und befahl ihm, sich bäuchlings über die vordere Schulbank zu legen. Dann zog er dem verängstigten Kerlchen die kurze Hose stramm und schlug aus voller Kraft mit dem Stock zu. Einmal, zweimal, dreimal, ja bis zu fünfmal drosch der kräftige junge Vikar auf den zarten Hintern ein. Dann kam der Nächste dran. Die Schmerzen waren derart groß, dass einige keine Luft mehr bekamen, während die Tränen flossen. Paul saß da und glaubte an eine Art von Vorsehung. Warum hatte er in letzter Minute die Hausaufgaben gemacht? Er könnte doch genauso jetzt über der Strafbank liegen. Welch ein Glück! Herr Meissner musste nach dem zehnten Schüler eine Pause einlegen, so sehr war er außer Atem geraten. Er sprach immer noch kein Wort, sondern starrte nur aus dem Fenster. Wo ist das Mitleid, die Barmherzigkeit und die Nächstenliebe des Christenmenschen, wie im Katechismus geschrieben, dachte Paul. Pünktlich zum Ende des Religionsunterrichtes hatte der Vikar alle fünfzehn Schüler durchgehauen. Eine Woche später wurde er nach massivem Protest der Eltern zu einer anderen Schule versetzt.

Paul war ein ruhiger und zurückhaltender Schüler, was einige Mitschüler so verstanden, dass er wohl ein Duckmäuser und Prügelknabe sein müsse. Er versuchte jedem Streit rechtzeitig aus dem Weg zu gehen, was aber auf Dauer nicht gelingen konnte. Bei Kindern und Jugendlichen zählt sehr stark die körperliche Überlegenheit, aber auch Verwegenheit und Großmeierei, was zu einem dominierenden Verhalten gegenüber den Mitschülern führt. Paul stand nach Ende eines Schultages im Schulhof plötzlich Hans gegenüber. Der körperlich überlegene Anführer einer Clique in seiner Klasse befahl Paul, er solle seinen Schulranzen öffnen und den Inhalt vorzeigen, sonst setze es Ohrfeigen. Paul rannte jedoch davon und Hans hinterher. Die ersten zehn Meter kam Hans, der keinen Ranzen trug, zum Greifen nahe an Paul heran. Doch dann bekam der schwergewichtige Hans keine Luft mehr und, als Paul halb um das Schulgebäude gelaufen war, hatte er ihn abgeschüttelt. Nun machte Paul den Fehler, ganz um das Gebäude herum wieder zum Ausgangspunkt zurück zu laufen. Dort stand Hans völlig ausgepumpt, inmitten seiner Clique, als Paul ankam. „Wie, du lässt dich hier noch mal blicken“? rief Hans Paul entgegen. „Du kannst mich ja doch nicht erwischen“, entgegnete Paul und trat einen Schritt näher. Da packte Hans den Hemdkragen von Paul und versuchte ihm den linken Arm zu verdrehen. In diesem Moment geschah mit Paul etwas, was ihn im Nachhinein noch lange beschäftigen sollte. Die große Angst vor körperlichem Schmerz, die ihn erfasste, verwandelte sich urplötzlich in eine ungewohnte, unheimliche Aggressivität. Wie mit einem Killerinstinkt ausgestattet, umschlang er blitzschnell mit dem rechten freien Arm den Hals von Hans und drückte unerbittlich zu. Für Hans kam diese plötzliche Attacke so überraschend, dass er ohne Gegenwehr nur noch um Luft rang. Die umstehende Clique schrie nun Paul an: „Du bringst ihn ja um!“ Und dieser kam rechtzeitig zur Besinnung; er ließ los und trat einen Schritt zurück. Hans fasste sich an seinen Hals und mit trockener Stimme, immer noch nach Atem ringend, sagte er zu Paul: „Das hast du falsch verstanden; das war doch nicht so ernst gemeint; du musst verrückt sein, gleich so zu reagieren.“ Paul drehte sich um und schlug den Weg nach Hause ein. Nach diesem Ereignis begegnete man Paul in der Klasse mit gewisser Vorsicht, da seine Überreaktion Eindruck gemacht hatte. Paul fragte sich danach oft, was mit ihm geschehen war in diesem Moment der Not; könnte er auch einen Menschen töten, in Notwehr? Aber das war doch noch keine echte Notwehr. Wer entschied das für ihn?

In Pauls Klasse gingen auch die Kinder einiger Honoratioren des Ortes, das heißt der strohblonde Bernd, Sohn des Brauereibesitzers Meierhofer, der großgewachsene Maximilian, Sohn der praktischen Ärztin Frau Doktor Windenau und der kleine Erwin von der Schillerapotheke. Diese Mitschüler verhielten sich ganz normal, wie alle anderen in der Klasse; jedoch waren sie für Höheres vorgesehen. Nach der vierten Klasse verließen sie die Volksschule in Oggersheim und besuchten fortan das Gymnasium in Ludwigshafen. Damals war es nur wenigen Volksschülern vergönnt, auf eine sogenannte Oberschule zu wechseln; zumal das Gymnasium Schulgeld kostete. Meierhofers Bernd hatte die Erlaubnis seiner Eltern erhalten, einige Schulfreunde zu einer Abschiedsfeier bei sich zu Hause einzuladen. Paul gehörte auch zu diesem Kreis. Vorauszuschicken ist, dass das Meierhoferbräu an der Schillerstraße sowohl die Privatbrauerei, die Brauereigaststätte sowie die Brauereivilla, als geschlossenes Ensemble mitten im Ort gelegen, umfasste und den Besitzern einen für damalige Verhältnisse im Jahre 1951, beneidenswerten Wohlstand bescherte. Aus seinen bescheidenen Wohnverhältnissen in der Beethovenstraße kommend, betrat Paul an diesem Nachmittag ein Wunderland. Bernd Meierhofers Eltern hatten ihrem Sohn bei dem schönen Wetter im Lampion geschmückten Hof der Villa einen Tisch eingedeckt und die fünf Schüler, die Bernd eingeladen hatte, mit Torte und Limonade traktiert. Es sollte später, wie Paul hörte, noch eine große Feier für Bernd geben, zu welcher Freunde der Familie eingeladen waren und welche im Hause an der langen Tafel im Esszimmer der Villa stattfinden würde. Paul wunderte sich über solch einen Aufwand, nur für den Schulwechsel des kleinen Bernd. Der Höhepunkt für Bernds Schulfreunde bestand dagegen, nach all den Kuchenbergen und vielen Süßigkeiten, darin, dass Bernd die Freunde ins Haus bat, sie durch die prächtigen Räume führte und mit ihnen die Treppe ins Untergeschoß hinab stieg. Gleich bei der ersten Tür im Flur blieb er stehen und sagte: „Ihr dürft mir aber nichts anfassen, sonst könnt ihr sofort gehen.“ Paul rätselte noch darüber, was diese Warnung bedeuten könne, als die Tür aufging. In dem dahinterliegenden Raum tat sich ein Wunderland auf. Die Blicke fielen auf eine riesige Modelleisenbahnanlage, bestehend aus einer Miniaturlandschaft mit Bergen, Häuschen und Straßen, und vor allem mit zahlreichen Eisenbahngleisen, die durch Bahnhöfe und in Tunnels, über Brücken und Weichen, führten. Eisenbahnzüge der Marke Märklin bevölkerten die Gleise und setzten sich plötzlich in Bewegung, nachdem Bernd auf einen großen roten Knopf gedrückt hatte. „Es ist alles automatisiert“, sagte jetzt Bernd zu den anderen. „Gehört das alles dir?“ fragte Paul zurück. Bernd nickte stolz. Die Demonstration dauerte etwa fünfzehn Minuten, die die sogenannte Nacht als High Light hatte, bei der das Raumlicht aus und die vielen Lämpchen der Anlage eingeschaltet wurden. Ein grandioser Anblick, wie die Züge mit beleuchteten Wagen durch die Dunkelheit fuhren! Dann ging das Licht wieder an. Bernds Mutter stand in der Tür und drängte die Fünf zum Aufbruch, ohne Bernd gefragt zu haben. Der sah immer noch stolz aus und erhob keinen Widerspruch. Jeder der Schulfreunde erhielt noch eine Tüte mit Süßigkeiten. Dann schloss sich das große Tor zum Hof hinter ihnen. Paul sollte nie wieder mit Bernd Kontakt haben. Dieser gehörte fortan zu einer anderen Klasse.

Nach der sechsten Klasse wechselte Paul mit der Hälfte seiner Klassenkameraden von der Schillerschule zur neuen, kleineren Schlossschule, wo man die Konduktion ausprobieren wollte. Aus einer Mädchen und einer Jungenklasse wurden so zwei gemischte Klassen. Es funktionierte erstaunlicherweise gut, vielleicht weil in Pauls Klasse die alten Anführer in der Parallelklasse landeten. Paul empfand jetzt die Harmonie in seiner Klasse, die sich dort schnell zwischen Schülerinnen und Schülern entwickelte, als sehr wohltuend. Wahrscheinlich trug auch der Lehrer, Herr Hansen, viel dazu bei. Dieser, kurz vor der Pensionierung stehender Pädagoge, war von Altersmilde und Verständnis für die Schüler geprägt. Seine Unterrichtsmethode bestand vor allem darin, kleine Gruppen, stets ausgewogen mit der gleichen Anzahl von Mädchen und Jungen, zusammenarbeiten zu lassen. Am beliebtesten war der Sachkundeunterricht bei Herrn Hansen. Beispielsweise mussten die Schüler die Funktionsweise eines Viertakt-Ottomotors an einem selbstgebauten, zweidimensionalen Modell demonstrieren. Paul ging jetzt sehr gern zur Schule. Da beschlossen Pauls Eltern von Oggersheim in die Innenstadt von Ludwigshafen umzuziehen, wo eine vernünftige Wohnung und für Vater Emil ein kürzerer Weg zur Arbeitsstelle in der BASF warteten.

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