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Oggersheim
ОглавлениеOggersheim, das seit etwa dem Jahr 1317 die Stadtrechte besaß, hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Man muss sich Oggersheim nach Kriegsende so vorstellen: Der Ort blieb vor Zerstörungen verschont. Es war überwiegend mit kleinen Häusern bebaut, viele renovierungsbedürftig, die oft mit einem niedrigen Sanitärkomfort ausgestattet waren. So lagen viele Plumpsklosetts oft außerhalb des Hauses. Die Straßen waren in der Regel unbefestigt; nur die Durchgangsstraßen nach Ludwigshafen, Bad Dürkheim und Frankenthal trugen eine Fahrbahndecke aus Pflastersteinen. Mittelpunkt des Ortes war der Schillerplatz, der zu Ehren des großen Dichters, welcher auf der Flucht vor seinem württembergischen Landesherrn Herzog Carl Eugen, im Jahre 1782 für siebeneinhalb Wochen in Oggersheim nächtigte, dessen Namen trug. Friedrich Schiller, ein fahnenflüchtiger Regimentsarzt und im Begriffe einer der größten deutschen Dichter zu werden, der bereits mit seinem Theaterstück Die Räuber bei der Uraufführung im Mannheimer Nationaltheater im Januar 1782 einen ersten Erfolg hatte, hoffte auf die Aufführung eines weiteren Stückes: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua. Leider vergeblich. Während der kurzen Aufenthaltszeit in Oggersheim schrieb er an dem Drama Kabale und Liebe.
Weiter erwähnenswert war die kleine Schloss und Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt von 1774, die das bedeutendste Bauwerk in Oggersheim darstellte und bis heute der katholischen Bevölkerung als beliebtes Gotteshaus dient, unter anderem dem in der Weimarer Straße wohnenden Exkanzler Kohl, den man früher sonntags dort sehen konnte. Die Kirche überstand übrigens als einziger Teil der Schlossanlage den von französischen Truppen 1794 verursachten Brand. Ja, Oggersheim besaß früher ein Schloss mit einem prächtigen Barockgarten. Hier residierte ab 1768 die Kurfürstin Elisabeth Auguste, die von ihrem Ehemann Kurfürst Karl Theodor nach Oggersheim abgeschoben wurde, damit der im Jahr 1778 ungestört die bayerische Thronfolge antreten und seine Residenz von Mannheim nach München verlegen konnte. Elisabeth Auguste machte das Beste daraus, indem sie das Oggersheimer Schloss zu einem Treffpunkt von Wissenschaft und Kunst entwickelte und viele Feste gab, die von Theater- und Musikaufführungen begleitet wurden. Anfang 1794 war es mit der Herrlichkeit vorbei, als französische Revolutionstruppen Oggersheim erreichten und der Schlosskomplex abbrannte. Elisabeth Auguste war zuvor nach Weinheim an der Bergstraße geflüchtet, wo sie im Sommer des gleichen Jahres verstarb.
Oggersheim wurde 1938 nach dem etwa sechs Kilometer entfernten Ludwigshafen eingemeindet. Bereits 1853 erhielt der Ort mit der Eröffnung der Bahnstrecke Ludwigshafen Mainz Anschluss an die Eisenbahn und seit 1912 konnte man von Ludwigshafen mit der Straßenbahn nach Oggersheim bis zum Schillerplatz fahren. Eine Besonderheit stellte jedoch die ein Jahr später eröffnete Rhein Haardbahn dar, die von Mannheim kommend, über Ludwigshafen und Oggersheim bis nach Bad Dürkheim fuhr. Bis zum Schillerplatz benutzte sie denselben Gleiskörper wie die Straßenbahn, danach jedoch ging es durch die Schillerstraße hinaus aufs Feld in Richtung Bad Dürkheim. Ab hier bis zu dem bekannten Kur und Weinort hatte sie den Charakter einer Überlandbahn auf Einmeterspur. Auf der anderen Seite des Rheins, in Mannheim, hatte die Rhein Haardbahn übrigens Anschluss an eine ähnliche Bahn, der Oberrheinischen Eisenbahn Gesellschaft, kurz OEG genannt, welche bis Heidelberg fuhr. Es war also möglich, zwischen Bad Dürkheim und Heidelberg die oberrheinische Tiefebene auf der Einmeterspur zu durchqueren. Dies jedoch erst wieder, nachdem die Rheinbrücke zwischen Ludwigshafen und Mannheim nach Kriegsende hergestellt war.
Paul liebte dieses eigentlich noch dörfliche Oggersheim wegen mancherlei Dingen, wie sie nur die Nachkriegszeit für Kinder bereithielt. Da waren diese sandigen und steinigen Straßen und Gehwege, auf welchen sich prächtig spielen ließ. Ein beliebtes Spiel war jenes mit Murmeln. Das Klickern ging so, dass ein kleines Loch gebuddelt wurde und die Spieler versuchten, mit einer vorher festgelegten Anzahl von Murmeln aus einem festgelegten Abstand in das Loch zu treffen. Wer nach einer Runde mit den meisten Klicker ins Loch traf oder dessen Klicker dem Loch am nächsten lagen, durfte nun versuchen, nacheinander die einzelnen Murmeln mit einem Schnippen von Daumen und Zeigefinger einzulochen. Ging die Murmel daneben, war der Nächste an der Reihe. Wer die allerletzte Kugel ins Loch beförderte, bekam den ganzen Pott. Besonders begehrt waren die Kugeln aus Glas mit farbigen Streifen und Schlieren, welche gegen mehrere Murmeln aus Ton getauscht werden konnten. Am begehrtesten aber waren die Murmeln aus Stahl, welche so schön schwer in der Hand lagen. Man sagt, dass bereits die Römer, die der Pfalz den Weinbau bescherten, auch das Klickern mitbrachten, das heißt, dass römische Kinder mit Marmorkugeln, Murmeln, nach den ähnlichen, einfachen Regeln spielten, wie sie heute noch gelten. Pauls Bruder Gerhard beherrschte das Murmelspiel meisterhaft und lief stolz mit seinem großen randvollen Stoffbeutel, den Mutter Anna genäht hatte, herum. Er war ständig auf der Suche nach einem Opfer, das ihm zur Vergrößerung seines Schatzes verhelfen sollte.
Paul hatte noch andere Vorlieben, als nur dieses Spiel. Er saß gerne in der kleinen Wohnküche der Dachwohnung in der Beethovenstraße bei Mutter Anna und spielte mit Soldatenfiguren aus Plastelin, die teilweise beschädigt waren und Uniformierte aus beiden Weltkriegen darstellten. Mutter Anna bügelte und ließ dabei den Volksempfänger laufen. Meist hörte sie volkstümliche Sendungen, wie zum Beispiel Pfleiderer und Häberle mit ihren Sketchen in schwäbischer Mundart. Manchmal jedoch kamen Musiksendungen mit klassischer Musik oder sogar Opernkonzerte, wo sie bei Arien weiblicher Sängerinnen sofort Paul aufforderte: „Stell bitte diese schrille Stimme ab“, oder bei ernster Musik, Paul um Senderumschaltung bat. „Das ist ja nicht zum Aushalten“, sagte sie dann entschuldigend. Paul jedoch fand klassische und Opernmusik durchaus nicht schrecklich, wagte aber nicht zu widersprechen. Wenn sich die Gelegenheit ergab, schaltete er den Volksempfänger ein und suchte nach dieser seltsam ergreifenden Musik.
Großes Vergnügen fand Paul auch an der Beschäftigung mit den wenigen Büchern, welche die Familie besaß. Die kleine Bibliothek hatte Vater Emil kurz vor Kriegsbeginn auf dem Trödelmarkt in Ludwigshafen erworben. Wahrscheinlich gehörten sie, wie ebenso Möbel, Einrichtungsgegenstände jeglicher Art, Kleidung und vieles andere, was dort angeboten wurde, ehemals jüdischen Mitbürgern, die über Nacht aus der Stadt verschwunden waren. Die Sachen waren preiswert und die Verkäufer gaben keine Auskunft über deren Herkunft. Es wollte auch keiner so genau wissen. Vater Emil hatte kein besonderes Interesse an Büchern, er las für gewöhnlich nur die tägliche Zeitung, Die Rheinpfalz. Seine junge Ehefrau Anna war jedoch schwanger und er gedachte seiner Kinder, die er bald zahlreich haben wollte, als er das günstige Angebot sah und überlegte, ob er für sie einige Bücher im Voraus kaukaufen sollte. Er suchte solche Bücher aus, von welchen er annahm, dass sie für Kinder geeignet seien. Von diesen Büchern hatten tatsächlich einige, trotz Ausbombung und den Umzügen mit der Handkarre, den Krieg überlebt. Paul gefielen einige Bücher besonders gut. Das war der Band mit Brehms Tierleben, in welchem die exotischsten Tiere, oft mit angedeuteter Umgebung, zeichnerisch dargestellt waren. Da waren Elefanten vor der Savanne im Hintergrund, Menschenaffen im Urwald, Wale in den Wellen des Ozeans und viele andere, auf Hochglanzpapier zu sehen. Die gebundene Ausgabe mit kräftigem, braunen Buchdeckel war jedoch durch die vergangenen Ereignisse etwas in Mitleidenschaft gezogen worden, was nicht weiter störte. Der Band Die Nibelungen war sein Lieblingsbuch, dessen Text er, nachdem er Lesen konnte, viele Male verschlungen hatte. Auch diese Ausgabe enthielt viele Bilder von Burgen, Kampfszenen und dem grimmigen Hagen, welche die kindliche Phantasie anregten. Weitere Bücher waren Grimms Märchen, ein Märchensammelband mit, unter anderem, dem Märchen von Adelbert von Chamisso, Schlemihls wundersame Geschichte, dem Mann der seinen Schatten verlor, dann einige andere Märchenbände und schließlich die Bände einer Kurzausgabe des Brockhaus Konversationslexikons. Paul konnte stundenlang in diesen Büchern lesen und, da es so wenige waren, immer wieder lesen. Die Texte, in anspruchsvoller, vielleicht etwas veralteter Ausdrucksweise geschrieben, waren im nach hinein gesehen, Pauls eigentliche Bildung seines Sprachempfindens und auch seiner Rechtschreibung. Dazu kam noch das Sprechen der Texte durch Vorlesen und das Aufsagen auswendig gelernter Gedichte.
Im Herbst und Winter roch Oggersheim auf den Straßen nach dem Rauch der Brikettfeuerung aus den Öfen der Wohnhäuser. Das Besorgen der Kohle für den Ofen war in der Nachkriegszeit ein großes Problem. Die Eierbrikett waren rationiert und es empfahl sich, sich sehr zeitig bei Kohlenhändler Ermisch anzustellen. wer zu spät kam, den bestraften die nächsten Wintertage mit Kälte. So standen Mutter Anna und Paul um fünf Uhr früh in einer langen Schlange vor der Brennstoffhandlung, die Geschwister waren zu Hause geblieben. Die Schlange bestand zum großen Teil aus frierenden Frauen mit ihren Leiterwägelchen für die Kohle. Um sechs Uhr ging das Tor der Kohlenhandlung auf. Der Kohlenhändler Ermisch und sein Gehilfe arbeiteten sich warm, indem sie die Brikett mit einer Art Schaufel, die aus einer Reihe spitzer Zargen bestand, auf die Kohlenwaage warfen. Diese war selbst wie eine große Schaufel gestaltet, etwa wie so eine für Mehl in der Küche, nur sehr viel größer. Sobald die Schaufel mit der Kohle und die aufgelegten Gewichte im Gleichgewicht waren, löste Herr Ermisch die Arretierung, die Schaufel kippte nach vorne, wo der Gehilfe den geöffneten, mitgebrachten Sack davor hielt und die Kohle hinein rutschen ließ. Um acht Uhr war der Kohleberg verschwunden und das Tor wurde geschlossen. Alle die noch davor warteten, gingen für diesen Tag leer aus. Paul und seine Mutter jedoch fuhren ihren vollen Kohlensack auf dem Wägelchen zu ihrer Behausung zurück und schleppten ihn mühsam in den Keller.
Der Sommer in Oggersheim war für Paul immer etwas Besonderes. Da kaum Autos fuhren, war der Ort eine wahre Idylle der Ruhe. Die Schwalben flogen durch die Gassen zu ihren Nestern unter den Dachtraufen der Häuser. Die Kinder tobten durch den Ort und die Erwachsenen bestellten ihre Schrebergärten, die teilweise noch mitten im Ort lagen, pflanzten Salate und Gemüse an, ernteten Obst und widmeten sich der Kleintierhaltung zum Zwecke der Ernährung. Hühner und Stallhasen, wie man die Karnickel nannte, bevölkerten zahlreich Gehege und Ställe in den Gärten. Paul war an einem dieser heißen Tage im Sommer gerade mit anderen Kindern auf der Straße unterwegs, als sie an einem Haus mit einem Hof davor, vorbei liefen, bei welchem das Hoftor nicht ganz geschlossen war. Kaum waren sie vorbei gerannt, als ein riesiger Deutscher Schäferhund hinter dem Tor heraus auf die Kinder stürzte. Paul, als Letzter, spürte zunächst gar keinen Schmerz, als sich die Zähne des Hundes in sein zartes Hinterteil eingruben. Er stürzte zu Boden, der Schäferhund über ihm; es schien kein gutes Ende zu nehmen. Einige Frauen auf der Straße schrien nun laut auf, was den Hund irritierte, so dass er von Paul abließ und wieder in seinem Hof verschwand. Jetzt erst erfasste Paul ein rasender Schmerz und er lief weinend nach Hause. Mutter Anna ergriff daraufhin ihren Sohn und eilte zornentbrannt in Richtung des Hauses des Hundebesitzers. Zur Beschämung von Paul machte sie jedoch auf diesem Weg jedes Mal Halt, wenn jemand Bekanntes entgegenkam, und riss Paul die zerfetzte Hose herunter um den blutenden Hinter zu entblößen und zu rufen: „Seht, wie furchtbar der Hund zugebissen hat. Man sollte die Hennings (denen der Hund gehörte) streng bestrafen. Das Kind hat doch einen Schaden fürs Leben!“
Das damals ländliche Oggersheim und seine Umgebung waren im Sommer für Kinder ein Paradies. So zogen sie oft durch die heutige Weimarer-Straße, in welcher heute der Exkanzler wohnt, sich aber damals nur ein Fußweg befand, zu den Fischteichen hinunter, welche der örtlichen Fischereiverein für die Angler betrieb. Höhepunkt war das jährliche Fischerfest, mit Musik, Bierzelt und gebackenen Fischen aus den Teichen. Die Fische waren vormittags im Wettangeln gefangen worden. Der Angler mit der größten Fischbeute wurde abends zum Angelkönig gekürt. Paul empfand den Angelsport als zu passiv. Das stundenlange Anstarren des Schwimmers, oft ohne Erfolg, das ekelhafte Gewimmel der Mehlwürmer, die als Köder dienten und das Töten der Fische, wenn sie am Angelhaken hingen, waren nicht seine Sache. Man muss wohl zum Angler geboren sein, sagte sich Paul und zog mit den anderen weiter über die Wiesen in Richtung Maudacher-Bruch. In den Wiesen fanden sich oft prächtige Champignons, die man sofort verzehrte. Früchte, wie Mehlbeeren und die herben Schlehen, welche den Mund zusammenzogen, wurden gepflückt. Aber es gab auch Übertretungen, wie einmal, als sie einen Schäfer beraubten. Dieser war abwesend, er und seine Herde nicht sichtbar, als sie sich neugierig dem Schäferkarren näherten, einem Gefährt auf zwei Rädern mit Tür, zwei kleinen Fenstern und rundem Dach. Eine Unterkunft wie in manchen Märchen, fand Paul. Einer aus der Vierergruppe rüttelte jetzt an der Tür und siehe da, sie ließ sich öffnen. Vorsichtig betraten sie das Innere. Eine lange, grobe Holzbank und ein Regal bildeten die ganze Einrichtung. Auf der Bank lag eine Decke, ein Kissen und in der Ecke ein Stoffbündel. Im Regal befanden sich noch einige weitere Dinge, für welche die Gruppe jedoch keine Aufmerksamkeit übrig hatte, denn auf dem Tisch lagen mitten drauf mehrere Lagen weißer Hühnereier, mindestens fünfzig Stück, wie Paul schnell überschlug. Seltsam, rätselte jetzt die Gruppe, wie kommt ein Schäfer an so viele Hühnereier, und was macht der bloß damit? „Lasst uns doch einige Eier mitnehmen, es sind ja so viele, dass es kaum auffällt“, sagte einer. „Und, was sollen wir damit“, sagte ein anderer, „hat vielleicht jemand eine Pfanne mit?“ „Eier isst man roh“, erwiderte ein weiterer. Sprachs und schlug einem Ei die Schale so auf, dass ein kleines Loch entstand, setzte das Ei an den Mund und sog daran. Es wurde ein schlürfender Ton laut, dann ein Plop. Der Eierschlürfer machte jetzt ein zufriedenes Gesicht und verkündete: „Die Eier sind frisch; esst auch eines, rohe Eier machen stark!“ Paul fand es eklig. Aber jetzt gab es kein Zurückweichen mehr, sonst hätte er als Feigling gegolten. Paul schloss vor dem Schlürfen die Augen, sog das Innere des Eies in sich hinein und befand, oh Wunder, dass es gar nicht so übel schmeckte. Nachdem jeder sein Ei hinter sich hatte, verließen sie den Schäferwagen und machten sich aus dem Staub.
Die Natur um Oggersheim herum war damals in der Nachkriegszeit noch heil; die Störche fingen tagsüber, auf den Wiesen und im Maudacher Bruch, Frösche. Die Überlebenden veranstalteten abends wie aus Protest, ein höllisch lautes Konzert. Im Schilf nisteten Fasane und Rebhühner, in den Bächen schwammen Stichlinge und Molche. In den fünfziger Jahren war dann sehr schnell alles vorbei. Keine Störche mehr, kaum noch Frösche, die Bäche tot. Man führte dies auf die Landwirtschaft zurück, die nun Pestizide und Kunstdünger einsetzte um die Ernteerträge zu steigern.
Die Sommer in Oggersheim waren meist von gutem Wetter, oft sogar von großer Hitze geprägt. Dann zog Jung und Alt an die Baggerweiher in der Umgebung. Mutter Anna konnte nicht schwimmen, was sie jedoch nicht davon abhielt, mit ihren drei Kindern zum Willersinnweiher zu wandern und dort mit ihnen bis zu den Knien ins klare Wasser zu steigen. Diese, wie weitere Gewässer, waren durch das Ausbaggern des Kieses entstanden. Der Kies war ein Überbleibsel des Altrheins, welcher vor der Rheinbegradigung durch den badischen Ingenieur Johann Gottfried Tulla (1770-1828), in vielen Windungen durch die Rheinebene floss, auch an Oggersheim vorbei. Dieser Tulla war auch der Gründer der Ingenieurschule in Karlsruhe, der ersten technischen Hochschule in Deutschland. Die Rheinbegradigung war eine wichtige Maßnahme zur Verbesserung der Schiffbarkeit auf dem Rhein und zur Bekämpfung der Malaria, die durch die häufigen Überschwemmungen des Rheins grassierte. Auch das Maudacher Bruch war ein Überbleibsel des Altrheins. Der Kies war ein sehr begehrter Baustoff, da er in Form von Beton für den Wiederaufbau der zerstörten Städte dringend benötigt wurde. Neben Kies wurde der Rheinsand auch für die Herstellung von Sandsteinen verwendet, bis heute viel verwendet im Hausbau. Anna schickte ihre Kinder oft allein zum Schwimmen, obwohl die es noch nicht konnten, im Vertrauen, dass nichts passierte. Schwimmunterricht in der Schule war unbekannt. Paul zog dann mit Schwester und Bruder los. Es ging über den Bahnhof von Oggersheim durch die kleine Siedlung Notwende und am Sandsteinwerk Benkkieser vorbei, wo es für Paul interessant wurde. Feldbahnen auf Gleisen mit einer Spur von sechshundert Millimeter transportierten Sand und Kies von den Baggerweihern zur Fabrik. Die kleinen Dampflokomotiven zogen zahlreiche Loren hinter sich her, und zwar vollbeladen zum Werk hin und leer zum Bagger zurück. Dabei musste viel rangiert werden. Die Feldbahn verbreitete einen unbeschreiblich herrlichen Geruch von Rauch, Dampf und Öl, so empfand es jedenfalls Paul. Er konnte sich kaum losreißen und folgte nur zögernd den anderen, die zum Wasser drängten.
Hier am Baggerweiher tauchten sie am liebsten zwischen den Wasserpflanzen herum. Sie hatten alle einfache Taucherbrillen geschenkt bekommen und gewöhnten sich auf diese Weise an das Wasser; es wurde so ein ihnen ganz vertrautes Element. Das sollte sich auszahlen, als die drei Nichtschwimmer an einem Sommerbadetag auf der Pontonabsperrung des Nichtschwimmerbereiches herum kletterten, dort wo man nicht mehr stehen konnte, und sie ein Rüpel einfach ins Wasser stieß. Paul dachte in diesem Moment, ohne Panik, dass er ja notfalls tauchen könne, um ans Ufer zu gelangen, probierte dann jedoch zunächst die Schwimmbewegungen beim Brustschwimmen aus, wie er sie so oft bei Schwimmern beobachtet hatte. Und siehe da, er schwamm und erreichte etwas außer Atem das Ufer. Seine Geschwister hatten ebenfalls die ähnliche Erfahrung gemacht und so schrien alle durcheinander: „Hurra, wir können schwimmen!“ Paul rief: „Jetzt schwimmen wir über den Baggersee. Wer macht mit?“ Aber er musste es alleine tun; sie trauten sich noch nicht. Weil er noch viel zu schnelle Schwimmbewegungen machte, hatte er in der Mitte des Teichs das Gefühl, er könne nicht mehr weiter und müsse gleich entkräftet untergehen. Da kam ihm seine Taucherfahrung zu Gute, denn als er mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche geriet, riss er die Augen auf und empfand das gleiche Gefühl wie beim Tauchen, er fühlte sich eins mit diesem Element, nur dass der klare Blick, wie bei der Taucherbrille, fehlte. Tauchend, und immer wieder Luft holend, erreichte er so die andere Seite des Teiches und entstieg stolz mit wackeligen Beinen dem Wasser.
Der Badegenuss wurde leider durch zwei Arten blutsaugender Insekten getrübt, nämlich tagsüber durch die Bremsen und gegen Abend zusätzlich durch die Schnacken. Beide Arten von Quälgeistern waren jeweils auf ihre Weise unangenehm und peinigend. Bremsenstiche erzeugten dicke Pusteln auf der Haut und Schnacken zahlreiche juckende Einstiche. Besonders tückisch gingen die Bremsen vor, indem sie bereits die Köpfe der Schwimmer im Wasser umkreisten und sobald diese aus dem Medium entstiegen waren, sich auf der nassen Haut zur Mahlzeit niederließen. Paul und die anderen bevorzugten zur Abwehr eine einfache Taktik. Sie blieben zuerst einmal, nass wie sie waren, am Uferrand stehen, und warteten ruhig auf den Anflug der Bremse. Kaum, dass diese sich auf einen Körperteil niedergelassen hatte, erfolgte ein Schlag mit der der flachen Hand. Das hässliche Insekt flog zu Boden, und, da es zäh und noch am Leben war, musste es mit der Ferse endgültig vernichtet werden. Gegen die Schnacken am Abend waren kaum Abwehrmaßnahmen möglich, da sie zu zahlreich im Schwarm angriffen. Ihrem Angriff ging jedoch, im Gegensatz zu den lautlos vorgehenden Bremsen, ein entnervendes „siiit, siiit, ….“ voraus. Das mussten Paul und seine Geschwister leidvoll erfahren, als sie nach langem Drängen die Erlaubnis von Mutter Anna erhielten, am Baggerweiher übernachten zu dürfen. Dazu nähte Anna aus alten Mehlsäcken ein Indianerzelt zusammen, welches durch einen mittigen Stab in Form gehalten wurde. Das gereinigte Zelt wurde sogar imprägniert, um einem möglichen Regen zu widerstehen. Die warme, lauschige Zeltnacht wurde jedoch zur Qual, da, einmal der harte Erdboden, auf dem sie nur mit einer Decke lagen, sich als äußert unbequem erwies und zum anderen die heftigen Attacken der Schnacken, eine Nachtruhe nicht gewährleisteten. Auf jeden Fall war danach vom Zelten keine Rede mehr, wie Mutter Anna beruhigend feststellte.
In der Nachkriegszeit waren fehlende Pflanzenschutzmittel daran schuld, dass die Kartoffelernten durch Kartoffelkäfer enorm reduziert wurden. Paul half diese gestreiften Schädlinge und seine roten Larven einzusammeln. Waren die Kartoffel erntereif, wurden die Felder von sogenannten Feldschützen bewacht. Ein abgeernteter Kartoffelacker durfte aber betreten werden; und Paul suchte mit anderen oft nach den wenigen Kartoffeln, die beim Ernten übersehen wurden; ein mühsames Unterfangen. Interessant waren die zahlreichen Mohnfelder um Oggersheim herum, auf denen die reifen Mohnkapseln geerntet wurden. An sie war besonders schwer heran zu kommen. Da es in dieser Zeit öffentliche Spielplätze nicht gab, suchten sich die Kinder und Jugendlichen ihr eigenes Terrain. Ein solches war ein vauförmig eingeschnittener Graben, welcher sich vom westlichen Ortsrand von Oggersheim in Richtung Ruchheim erstreckte, etwa fünfhundert Meter lang war und Affengraben genannt wurde. Woher der Name kam, war unbekannt. Der Graben war mit Schlehensträuchern bewachsen, die herrliche Verstecke abgaben und deren fast schwarze Früchte im Herbst gepflückt wurden. Hier tummelten sich viele kleine Oggersheimer, so auch Paul mit einer Gruppe. Anführer war Hannes, ein kräftiger, aber einfallsloser Junge, der Paul für Spielideen brauchte. Eines bestimmten Nachmittags war auch Pauls jüngerer Bruder Gerhard zum Affengraben gekommen um Anschluss zu suchen. Hannes war aber nicht einverstanden und versuchte Gerhard mit gezielten Steinwürfen zu vertreiben. Als Paul Hannes aufforderte, das Steinwerfen einzustellen, sagte Hannes nur: „Wenn der jetzt nicht abhaut, kriegt er den nächsten Stein an den Kopf.“ Der nächste Stein verfehlte den näher gekommenen Gerhard nur haarscharf, worauf Paul die Wut ergriff, er dem überraschten Hannes die Faust ins Gesicht schlug und zu seinem Bruder hinüber rief: „Komm, zu zweit packen wir ihn!“ Bruder Gerhard rührte sich jedoch nicht von der Stelle, sondern sah zu, wie der nunmehr zornige Hannes auf Paul einschlug, bis dieser blutend am Boden lag. Paul konnte die Feigheit seines Bruders nie vergessen und hatte sie noch lange vor Augen.
Oggersheim war mit seinen Gaststätten, Bäckereien, Metzgereien, dem Milchhändler und den vielen anderen kleinen Läden, ein Ort, in welchem noch alle zu Fuß einkaufen konnten, ohne wie heutzutage, ein Auto benutzen zu müssen. Das größte Lebensmittelgeschäft war der Konsum in der Raiffeisenstraße, jedoch nicht mit einem heutigen Supermarkt zu vergleichen. Nachdem Lebensmittelmarken abgeschafft waren, nahm das Warenangebot in den Geschäften über Nacht zu. Leider hatte Mutter Anna sehr wenig Geld zur Verfügung, so dass sie dieses Angebot kaum nutzen konnte. Das meiste an Lebensmittel wurde im Konsum gekauft, da hier die Preise am niedrigsten waren. Paul begleitete seine Mutter oft zu dem Laden, um ihr beim Tragen zu helfen. Milch holte Paul mit der Kanne beim Milchhändler. Den Metzger konnte man nur selten aufsuchen, da Wurst und Fleisch teuer waren. Metzger Unangst hatte jedoch ein wöchentliches Sonderangebot parat; die sogenannte Metzelsuppe. Diese Brühe blieb beim Wurstkochen im großen Kessel übrig und wurde gegen einige Pfennige abgegeben. Heute siebzehn Uhr Wurstbrühe. Gefäß ist mitzubringen, stand an jedem Montag auf einem Schild im Schaufenster. Man musste sehr pünktlich sein, da dieses Angebot sehr gegrenzt, das heißt, schnell zu Ende war. Paul hatte oft Pech, da er in der Reihe zu weit hinten stand. Wenn er aber doch mal Glück hatte, eilte er mit der gefüllten Milchkanne stolz nach Hause, denn es war ein Festmahl angesagt. Mutter Anna gab reichlich Nudeln in die Brühe, löste einige Maggiwürfel darin auf , gab gehackte Petersilie dazu und stellte die Wurstsuppe, wie sie jetzt hieß, auf den Tisch. Metzger Unangst war entweder ein Menschenfreund oder ein schlechter Metzger. In seiner Metzelbrühe mussten nicht wenige Würste, meist Blutwürste, einem Gemetzel zum Opfer gefallen sein, da reichlich Wurstmasse und vor allem Grieben, das heißt die kleinen Speckwürfel von der Blutwurst, in der Brühe schwammen. Hatte er einige Würste mit Absicht angestochen oder waren sie doch nur einfach geplatzt? Egal, Paul träumte oft von der köstlichen Wurstsuppe, die es viel zu selten gab.
Zwei Jahre nach Kriegsende war Pauls kleine Familie vom Haus der Großeltern in der Dürkheimerstraße, da Großvater Alfred endlich wieder seine Praxisräume benutzen wollte, in eine kleine Wohnung unter dem Dach, in der Beethofenstraße in Oggersheim, umzogen. Ab und zu konnte Paul dort sogar etwas Geld verdienen. Ihr Hausherr, der alte Bohlander in der Beethovenstraße, trank aus Gesundheitsgründen gerne einen Cognac mit einem rohen Ei, alles in einem Wasserglas verrührt. Dazu schickte er Paul mit einem Schnapsglas und sechzig Pfennig zur nächsten Gastwirtschaft um die Ecke, Zum Goldenen Hirschen. Für fünfzig Pfennig wurde ihm dort das Schnapsgläschen mit Asbach Uralt gefüllt; die zehn Pfennig, welche übrig waren, durfte er als Botenlohn behalten. Von der Gastwirtschaft bis nach Hause balancierte er das Gläschen die hundert Schritte mit äußerster Vorsicht. Doch als er es einmal nicht schaffte, da auf dem unbefestigten Gehweg ein Stein im Weg lag und er darüber stolperte, war es mit diesem Verdienst zu Ende. Der alte Bohlander bevorzugte es fortan, den Schnaps in der Gaststätte selbst zu konsumieren, wobei es nicht nur ein Asbach sein konnte, denn wenn er zu Hause ankam, war er selten nüchtern. So kam es, dass er eines Abends trotz des geringen Verkehrs in Oggersheim vor ein Auto lief und tödlich verunglückte. Die Trauer im Haus an der Beethovenstraße war sehr verhalten, denn der Alte hatte nach seiner Trinkerei oft herumkrakelt und die Mitbewohner belästigt. Sein Tod wirkte, so schlimm sich das anhört, wie eine Befreiung.
Die Mitbewohner waren neun Personen, das heißt zu zehnt lebten sie vor dem Tod des Alten in dem kleinen Haus. Da waren die alte Frau Bohlander, ihr Sohn Josef mit seiner Frau Sonja und die beiden Töchter Zita und Hera, die alle in den drei Räumen mit Küche im Erdgeschoss wohnten. Ein Stockwerk höher unter dem Dach hausten Mutter Anna mit Paul und den zwei Geschwistern. Diese Dachwohnung erwies sich als sehr beengt und bestand im Grunde nur aus zwei bewohnbaren Räumen unter der Dachschräge mit je einem Fenster zur Straße. Diese Zimmer dienten als Schlafzimmer, während der dritte Raum, lediglich mit einem winzigen Dachfenster ausgestattet und früher als Mansarde genutzt, nunmehr Wohnraum und Küche war. Ein kohlebefeuerter Herd darin bildete die einzige Heizquelle der ganzen Wohnung, welche keinerlei Dachisolierung hatte und daher im Winter von Eiseskälte durchdrungen und in heißen Sommern zum Glutofen wurde. Das also war der Lebensraum der kleinen Familie. Für Paul und seine Geschwister bedeuteten die widrigen Umstände keine große Beeinträchtigung ihres jungen Lebens, während Mutter Anna sehr unter diesen Verhältnissen litt und dies vor ihren Kindern zu verbergen trachtete. Bohlanders sechsunddreißig jähriger Sohn Josef war schwerverletzt als Afrikakämpfer aus dem Krieg zurückgekehrt. Wegen der Verwundung konnte er nicht mehr, wie vor dem Krieg, in einer Gießerei arbeiten. Er war auf Arbeitssuche und noch nicht lange mit der vierzigjährigen Sonja verheiratet, die zuvor von einem Tanzlehrer geschieden worden war, der sich eine Jüngere genommen hatte. Aus dieser ersten Ehe entstammten die beiden Töchter, die zwanzigjährige Zita und die achtjährige Hera. Paul und Hera freundeten sich schnell an und waren fast unzertrennlich.
So waren sie auch beide in der Nähe, als der alte Bohlander zu Lebzeiten einige seiner Hühner schlachtete. Dazu muss gesagt werden, dass zu dem Wohnhaus ein Anbau mit Plumpsklo, ein Hof und ein Holzschuppen gehörten. Ein Teil des Hofes war mit Pflastersteinen befestigt und ein anderer Teil diente als Hühnergehege; der Holzschuppen war teilweise Hühnerstall und Abstellraum. Diesen Holzschuppen betrachtete Paul als unguten Ort, da er von einigen Wespenvölkern bewohnt wurde, die ihre Nester aus dem alten Holz des Schuppens gebaut hatten. Die Wespen waren äußerst aggressiv und stechfreudig, was Paul zu spüren bekam, als er einmal im Schuppen auftragsgemäß nach einer Schaufel suchte. Alle hatten sie im Haus Angst vor den Wespen und forderten den Alten immer wieder auf, etwas dagegen zu tun. Der wiegelte stets mit den Worten ab: „Wenn ich die ausräuchere, bringe ich den Schuppen in Gefahr. Der brennt mir glatt ab.“ Die Hühner von der Rasse der Friesenhühner, wurden offenbar nicht gestochen, jedoch einmal im Jahr dezimiert, indem drei von ihnen zur Kirmeszeit, hier Kerwe genannt, den Tod auf dem Hackklotz im Hof fanden. Paul und Hera sahen zu, wie der alte Bohlander ein Huhn an den Beinen fasste, es flatternd auf den Klotz bugsierte und schnell mit dem Beil den Kopf abhackte. Dann ließ er das getötete Tier los, worauf es kopflos und blutend eine gewisse Strecke über den Hof flatterte, ehe es zuckend liegenblieb. Ungerührt ergriff der alte Bohlander das nächste Tier und setzte das grausame Schauspiel fort. Währendessen hatte die alte Frau Bohlander einen großen Bottich mit heißem Wasser herangeschafft, in welchen nun die toten Tiere eingetaucht wurden und darin einige Zeit verblieben. Paul empfand den Geruch, welcher diesem Gefäß entstieg, als scheußlich, ihn zu beschreiben, als schwierig. Er nannte ihn den Geruch des Todes. Auch Hera fand das Geschehen widerlich, insbesondere die nachfolgende Prozedur des Federrupfens. Dazu wurde ein Huhn dem Bottich entnommen, im Sitzen zwischen die beschürzten Beine geklemmt und mit der Hand die Federn herausgerissen, ab und zu wieder eingetaucht und erneut an den Federn gezogen, bis schließlich das nackte Huhn ohne Kopf, aber mit den Beinen und Füßen dalag.
Pauls größter Kummer bestand darin, dass die zehnköpfige Hausgemeinschaft nur eine einzige Toilette zur Verfügung hatte. Dieses Plumpsklo lag außerhalb des Hauses im Anbau und bestand aus einem dicken Brett mit runder Öffnung, welche man mit einem Holzdeckel mit Griff verschließen konnte. Der Abtritt, das heißt das Brett, befand sich über der Jauchegrube, die einmal im Jahr geleert wurde. Die Tür dieser einfachen Toilette ging zum Hof hinaus und bestand aus primitiven, groben Brettern, die durch etliche Lücken eine zugkräftige Belüftung des stillen Ortes zuließ. Das Schlimmste für Paul bestand nun in der Ungewissheit des Besetztseins dieser sanitären Einrichtung. Da der Weg von der Dachwohnung über die steile Treppe nach unten und danach über den Hof bis zu diesem Häuschen, bei Blockierung durch einen der Hausbewohner, wieder zurück, bei der notwendigen Wiederholung also viermal gegangen werden musste, wenn man Pech hatte sogar sechsmal, beschäftigte Paul sich, ohne, dass es ihm bewusst wurde, mit dem Problem der Wahrscheinlichkeiten. Er löste diese Aufgabe, indem er vor dem ersten Gang ganz oft vor sich hersagte: „Es ist nicht besetzt, es ist nicht besetzt, es ……“ Es funktionierte verblüffend oft. Negative Höhepunkte des Toilettengangs bildeten die Winternächte, in welchen Paul nur mit Nachthemd bekleidet über den eiskalten Hof eilte, um danach in dem Häuschen von unten aus der Grube und von vorne durch die Ritzen der Tür eisig angehaucht zu werden.
Hera und Paul waren oft auf den Wiesen unterwegs, wo sie allerlei Kleingetier fingen und es zum Entsetzen beider Eltern nach Hause brachten. Sehr beliebt waren Heuschrecken, die man zum Weitsprung und so zu Wettkämpfen animieren konnte. Später, als Hera etwas älter wurde, spielten sie zusammen oft in der Küche bei Mutter Anna mit den Soldatenfiguren, welchen sich später noch Indianerfiguren hinzugesellten, beschäftigten sich mit dem Basteln von kleinen Schiffen, mit dem Bau von Häusern aus Papier und vielem anderen, wobei Paul meist die Ideen beisteuerte. Als Hera zehn wurde, war zu bemerken, dass sie in diesem Alter bereits Anzeichen von großen Brüsten zeigte. Dies konnte man leicht feststellen, da Hera darauf beharrte, in der samstäglichen Badewanne, die Mutter Anna in der Küche mit heißem Wasser für ihre Kinder befüllte, ebenfalls mit Platz zu nehmen. Es war ein vergnügtes, unschuldiges Plantschen und Toben der nackten Kinder. Heras Körperbau war schlank, so dass die erwähnten Anzeichen unweigerlich ins Auge fielen. Kurz gesagt, die Brüste waren voll in der Entwicklung. Hera hatte ein sehr nettes Äußeres; nur die Nase war ein klein wenig zu groß und prägte das Gesicht. Bis zum Umzug von Pauls Eltern nach Ludwigshafens Innenstadt war ihre Beziehung harmonisch und von geschwisterlicher Zuneigung erfüllt. Daher fiel die Trennung dem dreizehnjährigen Paul und der zehnjährigen Hera sehr schwer. Beide sollten sich danach kaum mehr sehen, das heißt, einmal war Hera in der Stadtwohnung bei Paul zu Besuch, als die Entfremdung mit Händen zu greifen war.
Diesem Umzug war einige Jahre zuvor die Heimkehr von Pauls Vater Emil voraus gegangen, der nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft im Jahre 1948 wieder nach Hause entlassen wurde, das heißt überraschend für alle, unangekündigt in der Beethovenstraße ankam. Ihn hatte man, wie bereits berichtet, in Frankreich gefangengenommen, über den Atlantik an der Freiheitsstatue und New York vorbei nach Kanada verfrachtet, wo er mit anderen Gefangenen in den Wäldern Bäume fällte und diese mit Pferden im strengen kanadischen Winter abtransportierte. Von Bären wurden sie glücklicherweise verschont, nicht jedoch vom Weitertransport nach England, wo Emil in einer schottischen Bäckerei bei Glasgow arbeiten musste. Hier waren die Ernährung und die Arbeit, Emil war schließlich Bäckermeister, gut. Als er in Oggersheim ankam, traf ein gut ernährter Heimkehrer auf eine unterernährte Familie. Zunächst war Emil ein Störfaktor in der kleinen Familie, die bisher ohne männliches Oberhaupt ausgekommen war. Man musste sich erst aneinander gewöhnen. Das war nicht einfach, wie sich bereits am zweiten Tag herausstellte. Der sechsjährige Gerhard hatte beim Abendessen, wie er es leider oft tat, als erster nach dem größten Stück gegriffen, kaum hatten die anderen Platz genommen. Anna hatte die Schüssel mit Frikadellen gerade abgestellt, als Gerhard die größte davon blitzschnell ausgemacht hatte, mit der Gabel zustieß und hineinbiss, damit sie ihm nicht mehr weggenommen werden konnte. Da schimpfte der neue Mann im Hause los: „Du hast als Kleinster hier am Tisch gefälligst zu warten, bis du dran bist!“ Gerhard fing daraufhin an zu maulen und schleuderte die Frikadelle zurück in die Schüssel. Jetzt folgte ebenso schnell eine kräftige Ohrfeige, worauf Gerhard aufheulte und mit Tränen in den Augen zornig zur Mutter hingewandt schrie: „Schaff den Mann aus dem Haus, er soll weggehen!“ Mutter Anna versuchte die Situation zu entschärfen und die Streithähne zu besänftigen. Zu ihrem Mann sagte sie erklärend: „Emil, du musst verstehen, Gerhard wäre im Krieg als Baby beinahe an Diphtherie gestorben, es stand sehr schlimm um ihn; die Ärzte wollten schon aufgeben. Ich habe um ihn gekämpft und er hat überlebt. Danach habe ich ihn vielleicht etwas zu sehr verwöhnt.“
Vater Emil fand Arbeit in der Großbäckerei des Konsum in Ludwigshafen. Fast mitten in der Nacht ging er aus dem Haus, und, da so früh noch keine Elektrische fuhr, legte er den weiten Weg in die Stadt mit dem Fahrrad, später mit dem Moped, zurück. Um vier Uhr morgens begann die Arbeit in dieser Brotfabrik und war am frühen Nachmittag zu Ende, so dass er oft noch die Zeit fand, bei seinem alten Freund Georg vorbei zu schauen, den er noch von der Lehre her kannte. Dieser Georg betrieb in Oggersheim eine kleine Bäckerei, die Bäckerei Herrmann. Seine Backerzeugnisse waren im Ort nicht sehr berühmt, besonders die Brote waren einseitig zu dunkel gebacken. Georg führte dies auf den veralteten Backofen zurück, bei welchem die Feuerung nicht mehr richtig funktionierte. Da er die Bäckerei gepachtet hatte und der alte Besitzer keine Investition vornehmen wollte, war die Situation ziemlich verfahren. Emil half seinem unverheirateten Freund Georg, der ebenfalls wie er selbst, spät aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, bei verschiedenen Dingen, die außerhalb des eigentlichen Brötchenbackens lagen. So kam es, dass Paul eines Montagnachmittags von Vater Emil zur Bäckerei mitgenommen wurde, wo Georg davor bereits mit seinem Tempo Dreirad Lieferwagen wartete, um einem Gerichtstermin in Bad Dürkheim wahrzunehmen. Es ging im Amtsgericht um den Prozess mit seinem Vermieter wegen der Mietminderung, die er hinsichtlich der veralteten Einrichtung vorgenommen hatte. So ein Tempo Dreirad Lieferwagen, wie der von Georg, fuhren in der Nachkriegszeit viele. Vorne, vor dem zweisitzigen Fahrerhaus, befand sich die spitz zulaufende Motorhaube mit einem Zweitaktmotor darunter, welcher das Vorderrad antrieb. Diese Fahrzeuge konnte man bereits von weitem durch ihr typisches Zweitaktgeräusch, das sich wie eine Herzrhythmusstörung des Motors anhörte, sowie durch den strengen Geruch des Abgases nach verbranntem Öl, wahrnehmen. Paul nahm, da das Führerhaus mit Georg am Steuer und Emil als Beifahrer gut ausgefüllt war, auf der offenen Ladepritsche Platz. Mit mittlerer Geschwindigkeit ging es auf der Dürkheimerstraße bei schönem Wetter dahin. Maxdorf wurde passiert, Birkenheide hinter sich gelassen, als das Fahrzeug die Weinreben des Feuerbergs kurz vor Bad Dürkheim erreichte. Da, plötzlich, scherte der Lieferwagen unvermittelt nach rechts aus, fuhr holpernd über die Grasnarbe am Straßenrand, wurde abrupt abgebremst und kippte fast die steile Böschung hinab, als er zum Stehen kam. Paul wurde auf der Ladefläche hin und her geschleudert und hatte Glück, dass er sich an einer der niedrigen Seitenwände festkrallen konnte. Vater Emil entstieg nun dem Führerhaus, kam nach hinten und legte den Zeigefinger an den Mund. Er sagte zu Paul zuerst: „Pst, Georg ist eingeschlafen; lassen wir ihn ein wenig in Ruhe.“ Erst dann erkundigte er sich bei Paul nach dessen Befinden, was Paul nicht weiter krumm nahm, da er außer dem Schrecken unversehrt war. So saßen sie zusammen am Straßenrand und Vater Emil konnte seinem Sohn berichten, dass Georg plötzlich eingenickt sei und er als Beifahrer ins Steuer gegriffen und gleichzeitig die Handbremse mit aller Kraft angezogen habe, bis der Motor abwürgte. Paul erfuhr bei dieser Gelegenheit auch viel über das anstrengende Bäckerhandwerk mit seinen ungünstigen Arbeitszeiten, aber auch von dem einmaligen Geruches frisch gebackenen Brotes. Georg wachte nach einer guten halben Stunde wieder auf. Man fuhr weiter zum Gericht in der Seebacher Straße, übrigens das älteste linksrheinische Gericht Deutschlands, verlor den Prozess trotz Zeugenaussage von Emil über den miserablen Bäckereizustand, und fuhr wieder nach Oggersheim zurück. Wenig später kündigte Georg den Pachtvertrag und verdingte sich ebenfalls in der Konsum-Bäckerei. Die traditionsreiche Bäckerei Herrmann war damit Geschichte und wurde endgültig geschlossen.
Oggersheim besaß damals auch ein Kino, am Schillerplatz gelegen. Leider erhielten die Kinder der Zolas keinerlei Taschengeld, so dass der Besuch des Lichtspielhauses, wie es hochtrabend hieß, nicht möglich war. Außerdem mussten die Filme ja jugendfrei sein. Da geschah es, Paul konnte sich noch sehr genau an dieses Ereignis erinnern, als Vater Emil eines Sonntagnachmittags verkündete: „Wir gehen heute ins Kino!“ Der Einwand von Mutter Anna, das sei rausgeworfenes Geld, wurde von ihm überhört. Wie der Film hieß, wusste Paul später nicht mehr zu sagen, nur, dass es ein sogenannter Indianerfilm war, in schwarz weiß. Ein Film ab zwölf Jahren, wie es auf dem Filmplakat unten rechts stand. Das Problem der Familie Zola bestand darin, dass Söhnchen Gerhard eigentlich noch zu jung für den Film war. Vater Emil jedoch entschied: "Der ist alt genug!" Das Filmplakat noch handgemalt, wie damals üblich, zeigte einen Indianerhäuptling im Federschmuck und im Hintergrund eine Herde Bisons und Indianerzelte. Eigentlich eine Art Heimatfilm aus dem frühen Amerika. Man schritt also rechtzeitig, gemeinsam zur Hauptvorstellung um neunzehn Uhr dreißig in Richtung Schillerstraße. Der Andrang an der Kasse war bereits recht groß. Es gab ja damals weder Fernsehen noch andere Zerstreuungen, sondern nur das Kino und das Radio. Vater Emil erstand Eintrittskarten für die Mitte. Eine Kostenentscheidung. Die teuersten Plätze waren vorne, denn die Leinwand war sehr klein und die Sitzreihen nach hinten nicht überhöht. Wer hinten saß, sah schlecht oder fast gar nichts, wenn ein Sitzriese davor war. Kurz vor Vorstellungsbeginn war das Kino ausverkauft, wie es hieß. Bei zunehmend schlechter werdenden Luftverhältnissen in dem Kinosaal mit den vielen Menschen, begann die Vorstellung mit der Fox tönenden Wochenschau und danach folgte der Hauptfilm. Paul hatte Mühe, etwas zu sehen, denn vor ihm saß eine Frau mit Hut, was damals in Theater und Kino noch gestattet war. Von dem Film blieb ihm in der Erinnerung vor allem die Frage zurück, warum keiner der zahlreiche Akteure aufs Klo musste, während er doch ab der Mitte der Vorstellung einen zunehmenden Harndrang verspürte, der ihm die Kinovorstellung am Ende verdarb.