Читать книгу Der Lehrling - Gabriele D`Amori - Страница 8
Platzangst
ОглавлениеEs fing eigentlich an dem Tag an, als Paul , der gerade erst zwei Wochen mit seiner Familie von Oggersheim nach Ludwigshafen umgezogen war, auf der Straße vor dem Mietshaus, in welchem sie jetzt wohnten, in eine altersgemäße Clique von Jugendlichen geriet, die ihm sagten, wo es am spannendsten war, zu spielen. Es war die ganz in der Nähe befindliche Ruine der ehemaligen Berufsschule, die im Krieg abbrannte, aber von der das komplette Kellergeschoss erhalten blieb. Der Schutt der oberen Gebäudeteile war weggeräumt und im ersten Moment hätte man den Eindruck haben können, es handele sich nur um einen großen Platz. Auf den zweiten Blick gewahrte man jedoch einige Öffnungen, die in die Erde zu gehen schienen. Diese Öffnungen führten zu einer eigenartigen Unterwelt, wie Paul bald feststellen konnte. Natürlich war das Gelände für jeglichen Zutritt gesperrt; wegen Einsturzgefahr, wie auf den Schildern, die an den Bauzäunen hingen, zu lesen war. Das kümmerte die Gruppe von Kindern und Jugendlichen jedoch nicht, durch etliche Löcher im Zaun auf das Grundstück zu gelangen.
Paul schloss sich drei Jungen an, die etwa in seinem Alter waren. Einer davon, ein kleiner, drahtiger Bursche namens Max, war ihr Anführer. Vor einer der Öffnungen in den Untergrund sagte Max: „Hört mal her, wir steigen hier ein, ich voran. Ihr bleibt dicht hinter mir. Wir robben bis zum Heizungsraum, den kennt ihr ja, dort treffen wir die anderen von der Dörrhorststraße, die haben heute eine Überraschung vor.“ Paul verstand nicht ganz, was Max mit robben meinte und erhielt an Stelle einer Antwort nur entgegengehalten: „Hast wohl Schiss, du Oggersheimer Landei. Kannst ja hier bleiben. Ist vielleicht besser so!“ Paul sagte schnell: „Ist ok.“ Er wollte sich doch nicht ausschließen lassen und vor den dreien blamieren. Es ging los. Max kroch als erster auf die Öffnung zu, die viereckig und gerade so groß war, dass ein Kind oder schlanker Jugendlicher hineinpasste. Ein Erwachsener würde hier stecken bleiben. Paul sah, wie Max auf dem Bauch liegend, von dem Loch verschlungen wurde, langsam, aber unaufhaltsam, bis auch die Füße verschwanden. Jetzt war der Nächste an der Reihe. Dann Paul, denn der Vierte im Bunde sollte die Nachhut bilden. Paul legte sich jetzt auch auf den Bauch und steckte, die Hände voran, den Kopf in die Öffnung. Dort war es finster und Paul zögerte, da hineinzukriechen. Jedoch drängte der Vierte: „Los jetzt, mach schon, sonst verlieren wir die anderen“, und schubste Paul einfach von hinten in die Öffnung. Paul kroch jetzt in der Dunkelheit voran, den Geräuschen der vor ihm befindlichen nach. In der Dunkelheit war er ganz auf seinen Tastsinn angewiesen. Er fühlte die Wände unter, neben und über sich. Ein seltsames Fühlen war das, das Fühlen eines beschränkten Raumes, von wenig Bewegungsfreiheit, von den mühsamen Bewegungen des Vorwärtskommens, begleitet. Und dann dieser dumpfe Kellergeruch, ein Geruch nach Staub, Schimmel, Feuchtigkeit und etwas metallischem in der Luft, was Paul nicht deuten konnte. Das Atmen fiel ihm schwer, was jedoch wesentlich durch die Kriecherei hervorgerufen wurde. Paul konnte gut hören, wie jemand vor ihm kroch, der Junge vor ihm, sein Atmen, das Geräusch des Kriechens. Sonst war Stille, Totenstille, keiner sprach etwas. Da begannen Pauls Gedanken zu arbeiten. Fühlt es sich nicht genauso an wie in einem Grab, in einem Sarg, hier drinnen? Was ist, wenn wir hier stecken bleiben? Was ist, wenn über uns die Decke zusammenbricht? Was ist, wenn es brennt und Rauch in den Kanal zieht? Paul versuchte sich zu beruhigen. Quatsch, die machen das doch nicht zum ersten Mal. Gleich wird das Ende der Strecke erreicht sein. Sprach Max nicht von einem kurzen Stück? Die Gedanken überschlugen sich. Aber dann passierte es! Der Kanal wurde auf einmal flacher, die Höhe reduzierte sich! Paul fühlte es deutlich, indem er den Kopf kaum noch anheben konnte; sein Rücken stieß oben an, das Kriechen war merklich erschwert. Schweiß brach aus allen Poren. Sein Herz schlug bis zum Hals. Er spürte das Ende näherkommen; er stellte jede Bewegung ein. Er war unfähig sich zu bewegen, zu denken. Es war ein Schock, so etwas hatte er noch nie erlebt.
Da erlöste ihn die Stimme des Jungen hinter ihm aus seiner Schockstarre, als der nun schrie: „Mensch krabbel endlich weiter, wir sind doch gleich da. Beweg dich, du Flasche, du Angsthase!“ Paul kam wieder zur Besinnung. Er nahm die robbenartige Bewegung erneut auf. Zentimeter für Zentimeter bewegte er sich voran. Dann, auf einmal konnte er den Kopf wieder anheben; die Engstelle schien überwunden. Und, oh Wunder, er erblickte vorn einen schwachen Lichtschimmer, der von der Seite zu kommen schien, und in welchem er auch seine Vorderleute undeutlich erkennen konnte. Nur noch einige Meter weiter und durch mehrere längliche, seitliche Öffnungen konnte Paul in einen großen Raum hinunterblicken, der durch ein Loch in der Decke erhellt wurde. Das Loch wurde durch ein äußeres Gitter abgedeckt, was notwendig erschien, denn die Deckenhöhe des Raumes betrug sicher vier Meter, wie Paul abschätzte, und hätte beim Hineinfallen in das Deckenloch, den sicheren Tod bedeutet. Der Kanal, in welchen Paul und seine Gefährten bäuchlings lagen, verlief direkt unter der Decke. Unten sah Paul zwei große Heizkessel stehen und drum herum etwa zehn Kinder und Jugendliche, die alle nach oben schauten und riefen: „Kommt endlich herunter, wir warten schon eine ganze Weile auf euch.“ Wie jedoch herunter kommen? Paul dachte, bin ich verrückt, dass alles hier mitzumachen; welchem Zweck, wozu soll das dienen? Verdammte Mutprobe! Seine Gedankengänge wurden jetzt von Max unterbrochen, der an der Spitze ihrer Gruppe lag und ankündigte: „Wir steigen über den Wasserboiler ab.“ Dieser Boiler war ein Warmwasserbereiter von gut zwei Meter Durchmesser und reichte in seiner Höhe fast bis zur Decke des ehemaligen Kesselraumes. Leider nur fast, denn zwischen dem Lüftungskanal, in welchem sie lagen und diesem aufrecht stehenden Behälter, klaffte eine Lücke von über einem Meter. Paul sah nun, wie Max, Beine voran, vorsichtig, sich rückwärts bewegend, aus dem Kanal kroch und Kontakt zu dem Boiler suchte. Er hatte Erfolg, verharrte einen Moment auf demselben, und war dann verschwunden. Paul hörte ihn kurz danach von unten rufen: „Jetzt der Nächste“, und auch vielstimmige Begrüßungslaute der Zuschauer. Der Junge vor Paul war dran und erledigte den gleichen Abstieg wie Max. Dann war Paul an der Reihe. Er schaffte es tatsächlich, den Deckel des Boilers zu erreichen und auf diesem zu knien. Wie aber weiter? In schwindelerregender Höhe, wie es ihm vorkam, wenn er nach unten schaute, erschien jede Bewegung ein Risiko, denn das obere des Behälters war gewölbt. Hilflosigkeit überkam ihn für einen Augenblick. Wie waren die beiden vor ihm nach unten gelangt; wie waren sie so plötzlich seinen Blicken entschwunden? Da sah er die Lösung; auf der einen Seite des Boilers führte eine verrostete Leiter nach unten. Endlich hatte er nach kurzer Zeit wieder festen Boden unter den Füssen. Ein großer Moment der Erleichterung überkam ihn und der Genugtuung, die durch die freudige Begrüßung der Anwesenden noch weiter verstärkt wurde. Paul stand erleichtert inmitten der Schar, die den Abstieg des letzten ihrer Gruppe beklatschten, und er konnte nun den ganzen Raum betrachten. Die beiden Heizkessel und der Boiler waren aller Rohrleitungen, Pumpen und Armaturen beraubt; demontiert und sicher dem Schrotthandel zugeführt. Die Wände waren geschwärzt; es hatte vermutlich gebrannt, hervorgerufen vielleicht durch eine Brandbombe, die die Decke durchschlagen hatte. Er sah auch die zwei Durchgänge ohne Türen, die von dem Heizraum weg, zu Nebenräumen führten, die im Dunkeln lagen. Offenbar war der Schulkeller weitgehend betretbar.
Die Betrachtungen Paul wurden jetzt unterbrochen durch einen älteren Jungen, der auf das Podest des einen Kessels gestiegen war, und rief: „Freunde, hiermit nehmen wir den Führerbunker in Besitz und erklären ihn zu unserem Hauptquartier. Hier können wir tun und lassen, was wir wollen. Als erstes wollen wir Brüderschaft trinken und schwören, unser Versteck niemanden zu verraten!“ Nachdem er dies gesagt hatte, griff er, unter Beifall der Drumherumstehenden, zu einer grünlichen Flasche zu seinen Füßen, öffnete den Schraubverschluss, nahm einen kräftigen Schluck und reichte die Flasche weiter. Als Paul an der Reihe war und einen Schluck genommen hatte, verspürte er das wärmende Brennen des Alkohols und den widerlichen Geschmack des Wachholderschnapses auf der Zunge, denn es handelte sich, dem Flaschenetikett nach, um billigen Gin. Während die Flasche weitergereicht wurde, kündigte der ältere Junge auf dem Podest ein Spiel in den Kellerräumen an, dessen Regeln Paul jedoch nicht so recht mitbekam, denn seine Gedanken kreisten um die Frage, wie die anderen hier hereingekommen waren, und um die bange Sorge des Rückweges.
Da plötzlich ertönte durch das Deckenloch das schrille Geräusch von Trillerpfeifen und von Hundegebell. Augenblicklich erstarb das Gerede im Heizraum, bis in die Stille hinein der ältere Junge, der vom Podest gestiegen war, ausrief: „Das ist die Polizei, wir sind verraten worden. Alles mir nach, wir müssen türmen!“ Dann rannte er in einen der zwei Ausgänge, die der Heizraum hatte, hinein und die ganze Meute hinterher. Paul war mitten darunter. Glücklicherweise hatte der Anführer eine schwache Taschenlampe dabei, so dass es in den Fluren, die sie durcheilten, nicht ganz so dunkel war. Trotzdem stieß Paul mehrmals mit anderen vor und neben sich zusammen, denn die wilde Flucht zeigte sich ziemlich ungeordnet. Diese Flucht endete unvermittelt in einem Raum, der von einem Lichtschacht notdürftig erhellt wurde. Der Schacht begann in einer Höhe von etwa anderthalb Meter und war, wie Paul sehen konnte, als er sich nahe an die Außenmauer gedrängt hatte, oben durch ein Gitter abgedeckt. Der erste, der in den Schacht einstieg, war der ältere Junge, der sie hierher geführt hatte. „Die Generäle bringen sich zuerst in Sicherheit“, wie im wahren Leben, dachte Paul zunächst, sah jedoch schnell die Notwendigkeit ein. Durch seine Körpergröße gelang es dem Jungen mit den ausgestreckten Armen bis an das Gitter heran zu kommen und es; da es offenbar nur lose auflag, mühsam zur Seite zu schieben. Dann benötigte er nur einen Klimmzug und war, dank seines trainierten Körpers, im Freien. Paul erkannte, beklommenen Herzens, die Notwendigkeit turnerischen Vermögens, welches er vermissen ließ. Jedoch war das noch nicht gefordert, denn die Meute stürzte jetzt auf den Lichtschacht zu, als ginge es um das nackte Überleben. Ein Getümmel entstand vor dem Aufstieg, das alle nur behinderte, wo doch ein geordnetes Vorgehen notwendig war. Alles wurde noch verschlimmert durch Geräusche im Hintergrund, die ahnen ließen, dass die Polizei oder wer auch immer hinter ihnen her war, bereits in die Kellerräume eingedrungen sein musste. Es war Rufen und erneutes Trillerpfeifen zu hören, was näher zu kommen schien. Nun hörte man die kräftige Stimme des älteren Jungen von oben durch den Lichtschacht rufen: „Aufhören zu drängeln! Der Reihe nach! Jeder kommt raus! Keine Angst, die sind noch weit weg!“ Und oh Wunder, man beruhigte sich durch die Wirkung seiner Stimme und begann jetzt geordnet nach oben zu steigen, ohne zu drängeln und einander zu behindern. Paul dachte bewundernd, der ist nicht einfach abgehauen, wie es möglich gewesen wäre. Der beweist Verantwortung für uns Zurückgebliebene. Ein wahrer Führer! Pauls Gedankengänge wurden unterbrochen, da er an der Reihe war, aufzusteigen. Dies gelang ihm trotz aller Bedenken, indem er die Löcher in der Außenwand nutzte, um sich bis zum Beginn des Schachtes hoch zu arbeiten. Als er sich in diesem aufgerichtet hatte, sah er, wie sich ihm von oben mehrere Arme entgegenstreckten, die er ergriff. Fast mühelos gelangte er nach oben ins Freie, in die Oberwelt, der Unterwelt entronnen. Alle kamen auf diesem Wege frei und als der Letzte draußen war, stoben sie wie auf Kommando auseinander, ohne, dass ihnen jemand folgte. Wie Paul später erfuhr, hatten umliegende Anwohner, welche die Kinder und Jugendlichen auf dem Gelände der ehemaligen Berufsschule beobachteten hatten, tatsächlich die Polizei verständigt. Mit einem Mannschaftswagen und vier Mann waren sie vorgefahren und zwei davon waren mit einer Leiter von oben in den Heizungsraum eingestiegen. Einen Hund hatten sie auch dabei, der jedoch nicht zum Einsatz kam, sondern nur an der Leine befestigt, kräftig bellen durfte. Die Polizei war erleichtert, in den Kellerräumen niemanden vorgefunden zu haben.
Die nachfolgenden Tage und Wochen wurde das Gelände intensiv beobachtet, bis zu jenem Tag, als ein Bagger ankam und ein Kran aufgebaut, kurz, eine Baustelle eingerichtet wurde. Der Rat der Stadt Ludwigshafen hatte beschlossen, die Berufsschule wieder aufzubauen. Und dieser Baubeschluss wurde jetzt umgesetzt. Mit dem Abenteuerspielplatz war es vorbei! Von diesem Erlebnis in der Berufsschule an, oder genauer gesagt, von dieser Todesangst im Kriechkanal ausgehend, verfolgten Paul hinfort in unregelmäßigen Abständen von Wochen oder Monaten des Nachts Albträume, die stets zum Gegenstand hatten, dass es beklemmend eng um ihn herum wurde, mit dem Gefühl verbunden, es gäbe hieraus kein Entkommen und keine Rettung im Ernstfall einer Störung oder eines Vorfalls. Er träumte einmal, er wohne im vierten Stock eines Hauses, in welchem ein Aufzug vorhanden war, er jedoch nur in die Wohnung gelangen konnte, wenn er vom Aufzug aus über eine enge Passage hindurchkroch. Dieses Hindurchkriechen war von den zuvor geschilderten Ängsten begleitet. Die Wohnung selbst war ganz üblich gestaltet und geräumig. Wenn er jedoch an das Ausgehen dachte oder, von außerhalb, an die Rückkehr in die Wohnung, dann brach in ihm eine Art von Panik aus und er erwachte dementsprechend in Schweiß gebadet. Ein anderes Mal steckte Paul im Traum in einer engen Röhre. Dicht an dicht mit anderen Personen in direktem Körperkontakt, versuchten alle sich langsam nach oben zu arbeiten. Pauls Gedanken dabei waren ängstlich mit der Frage beschäftigt, was wenn es nicht mehr vorwärts ginge, wenn eine Stockung einträte? Nach rückwärts gab es kein Entkommen, da drängten schließlich die anderen nach. Es gab nur die eine Rettung, nach oben; dort wo sich die Röhre erweiterte; hoffentlich! Nach dem Aufwachen aus solch einem Traum war Paul mit diesem eine ganze Weile lang beschäftigt, so dass er erst in den frühen Morgenstunden wieder Schlaf fand. Ein Traum, der durch das Aufwachen unterbrochen wird, ist meist noch länger in Erinnerung. Erst recht, wenn es sich um einen solchen Albtraum handelt. Paul erzählte niemand davon. Aber er hätte gerne die Meinung anderer dazu gehört. Wurden die Träume ausgelöst durch Ereignisse, die in der Vergangenheit lagen? War er im Krieg vielleicht als Kind verschüttet gewesen? Oder waren es einfach nur die kindlichen Ängste in den Luftschutzräumen, damals? Er wagte jedenfalls keine Frage dazu zu stellen.