Читать книгу Luft holen - Gabriele Freytag - Страница 10
ОглавлениеVERSORGUNGSKETTEN
19.3.2020
Mal wieder nicht besonders gut geschlafen, doch das geht sicher vielen so. Beim Aufwachen schweiften meine Gedanken in die Ferne und ich fragte mich für einen Moment, ob es denn noch erlaubt sei ans Meer zu fahren. Wir müssen dazu ja nicht, so versicherte ich mir, nach Schleswig-Holstein, wo wir nicht mehr hin dürfen, sondern einfach die Bundesstraße 73 weiter fahren Richtung Küste. Nach einer Stunde wären wir, immer schön in Niedersachsen geblieben, an der Nordsee bei Cuxhaven und – yippieh – das ist noch möglich. Nett Einkehren und Kaffee Trinken geht natürlich nicht, dafür aber Thermoskanne und Picknick.
Interessant, wie schnell ins Unterbewusste gesickert ist, dass nichts mehr als selbstverständlich angenommen werden kann. Ein krasses Erlebnis hatte ich am Tag davor, während ich Filter und Sieb der Spülmaschine säuberte, wozu man bekanntlich etwas länger das Wasser laufen lässt. Ich fragte mich tatsächlich, das allerdings wirklich nur ganz kurz, wie lange wohl das Wasser aus der Leitung noch zur Verfügung stünde und ob wir eines Tages den Hahn aufdrehen würden und es käme nichts mehr außer einem Zischen.
Diese Sorge muss mit der Biokiste zusammenhängen. Kurz vorher hatten Sigrid und ich ein wenig gebangt, wie lange die Bio-Kiste uns noch geliefert wird – im Moment geht nämlich alles was wir brauchen an Lebensmitteln (und sogar Putzmittel) über die wöchentliche Lieferung von Gärtnerei Kronacker. Gestern kam eine Mail, dass man dem Fahrer bitte fern bleiben solle wenn er die Kiste(n) am Übergabeort deponiert. Ansonsten würden sie mit allen verfügbaren Kräften für unsere Versorgung arbeiten und hofften, das noch lange tun zu können. Kronacker ist ein kleiner Familienbetrieb. Wenn jemand infiziert würde wäre es schnell vorbei mit den regelmäßigen Kisten, alle ab in Quarantäne. Uns war mulmig geworden.
Das Arbeiten für die Versorgung wird endlich gebührend gewürdigt. Bei ihr in Eimsbüttel, so erzählte Gabi, wurde gestern Abend um 22 Uhr zum ersten Mal von den Balkonen geklatscht: für all diejenigen, die den Betrieb am Laufen halten.
Nicht nur bei der Vorstellung vom kollektiven Applaudieren traten mir schon vor zehn Uhr die Tränen in die Augen (Ihr wisst, ich weine schnell), auch als ich am frühen Morgen die Bilder von den Armeelastwagen sah, die in der Nacht aus Bergamo herausgefahren waren mit Särgen an Bord. Die Toten können nicht mehr in der Stadt kremiert werden, die Zahl ist zu groß, sie werden in ihre Heimatorte gebracht. „Piango“ schrieb ich schnell auf Federicas Account, wo ich den kurzen Handyfilm gefunden hatte, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Wie so oft in letzter Zeit war ich mir unsicher, was von meinen Gefühlen in Italien ankam.
Endlich habe ich es geschafft in Piobbico anzurufen. Es war wider Erwarten fast beruhigend. Und wie meistens, wenn man das italienische Leben liebevoll zuspitzt, hatte es auch einen komischen Aspekt.
In Piobbico – meinem italienischen Heimatort – ist noch niemand wissentlich infiziert, außer dem Bürgermeister, denn der kommt herum, und zwei jungen Krankenschwestern, letztere asymptomatisch. Piobbico liegt im Tal, auf allen Seiten umgeben von Bergen. Die Mentalität ist annähernd so verschlossen wie die geographische Lage und die Piobbicesen reisen wenig. Seit Jahren, was sag ich seit Jahrzehnten, wollen mich einige von ihnen in Daudieck besuchen. Jedes Frühjahr, jeden Sommer und jeden Herbst reden wir darüber – doch sie werden nie kommen und das wissen wir alle ganz genau. Nun, mit Corona wird die Standorttreue durchaus zu einem Vorteil. Allerdings herrscht komplette Ausgangssperre, bereits die zweite Woche, und das ist nicht einfach, besonders für ItalienerInnen, deren Leben sich gewöhnlich nur zum Schlafen in den eigenen vier Wänden abspielt. Kein Spazierengehen, keine Bar- und Restaurantbesuche, man verlässt das Haus jetzt nur noch zum Einkaufen oder mit einem Passierschein für einen Arzttermin.
Meine Güte, sage ich eine Spur listig zu Maria, die bereits seit Januar zu Hause sitzt mit gebrochenem Fußgelenk, was macht denn dann Giulio, der fährt doch bestimmt nach wie vor mit seiner Ape in den Bergen herum? Ape, das sind diese dreirädrigen fahrbaren Untersätze, praktisch die italienischen Tuktuks.
Nun ja, antwortet sie, ganz so einfach ist es im Moment nicht. Der Maresciallo hat ihren Mann gleich angehalten (streng): Was machst du denn da, Giulio, das geht aber jetzt nicht mehr. Darauf Giulio (Mann vom Lande): Ich habe meine Hühner, den Hund und die Katze oben auf dem Berg zu versorgen. Trotzdem, so der Maresciallo (bereits etwas weniger streng, er stammt nicht aus dem Dorf): Vorschrift ist Vorschrift. Darauf Giulio (bauernschlau): Dann sollen die Tiere also verhungern?
Besagte Katze, die das Tierensemble auf dem Berg gerade verstärkt, ist übrigens meine. Wer besitzt jetzt eine außerordentliche Fahrerlaubnis? Worauf ist meine Katze konditioniert seit Giulio ihr Futter bringt?
In den Bergen der Marken scheint zumindest einiges noch so wie vorher, das beruhigt mich ungemein. Gleichzeitig hat die Provinz Pesaro-Urbino die höchste Infiziertenrate in der ganzen Region, so das Resultat einer Testung nach dem Zufallsprinzip diese Woche. Die Zahl realisiert sich jedoch in den größeren Orten an der Küste, weniger im Hinterland. Das Krankenhaus in Urbino, unser 25 Kilometer entferntes Bezugskrankenhaus (in dem ich auch einmal einen Tag in der Notaufnahme verbrachte, andere Geschichte), hat, ich konnte es kaum glauben, gegenüber Coronainfizierten geschlossen. Die sollen nämlich an die Küste.
„Leader of the democratic world“ titelt heute die New York Times über Angela Merkel und ihre Rede an die Nation. Donnerwetter, unsere Kanzlerin, zeigt flotte Führungsqualitäten. Wenn ich noch an ihre Neujahrsrede denke, die fand ich völlig blutleer. Danach hab ich zu Sigrid gesagt, die Frau ist völlig ausgebrannt, wenn sie nicht so pflichtbewusst wäre hätte sie längst abgedankt. Ihre Ansprache gestern hingegen war phantastisch. Schreibt sie eigentlich selber? Kann ich mir kaum vorstellen bei ihrem Programm. Den Menschen, die einen solchen Text verfassen, sollte man mal vom Balkon applaudieren, mindestens fünf Minuten.
Die Sprache war einfach, wirklich an jeden und jede gerichtet, ohne jemals platt zu sein, an sich schon hohe Kunst. Es kamen keine Beweihräucherungen vor über unser tolles Land oder was wir schon alles geschafft haben. Es wurde nicht gedroht – das überlässt sie anderen. Was eine Demokratie von einer Diktatur unterscheidet erklärte die Kanzlerin noch einmal prägnant: nicht Zwang oder gar Gewalt, sondern geteiltes Wissen und gemeinsames Engagement.
Mir fällt auf, dass viele, und damit meine ich nicht nur Rechte, jetzt mehr Durchgreifen fordern. In einer bedrohlichen Situation möchte man offensichtlich gerne drastische und strenge Maßnahmen sehen. Der Staat soll Stärke zeigen, der Laden laufen, die Bevölkerung spuren. Letzteres ist glücklicherweise unrealistisch. Unsere Antwort auf die Corona-Situation kann nur ein Prozess sein und der muss sich zurecht ruckeln.
Genauso wenig wie ich zu einer krisengeschüttelten Patientin sagen könnte „Nun ändern sie mal flugs ihr bisheriges Verhalten, dann geht es ihnen gleich besser!“ könnte man einem Volk urplötzlich einschneidende Änderungen verordnen. Das richtige Timing sollte scharf im Auge behalten werden. Widerstände wollen berücksichtigt sein. Für den Erfolg muss der Prozess in Gang gehalten werden, hartnäckig, mit Geduld, Einfühlung und dem Ziel fest im Blick.
Ebenso wie eine Pandemie befinden sich übrigens auch Psychotherapien in einem Wettlauf gegen die Zeit. TherapeutInnen müssen zügig arbeiten angesichts von Suizidrisiken, aber auch wegen anderer möglicher Gefahren, körperlicher zum Beispiel. Wenn die Lösung zu lange dauert würden sich möglicherweise irreparable Schäden einstellen. PsychotherapeutInnen arbeiten mit dem Risiko im Hinterkopf, dass es schief gehen könnte, und sie setzen alles dran, damit das nicht passiert. Wir therapieren am Rande der Gefahrenlinie auf einem schmalen Grat. Das passende Timing wird immer wieder neu ausgeklügelt: Was geht grade? Was geht noch nicht? Was muss jetzt unbedingt sein? Und was kann man noch aufschieben?
Nicht dass die Kanzlerin Psychotherapeutin wäre, zu unser aller Glück ist Angela Merkel Physikerin und Politikerin, aber gestern kam sie mir psychologisch ziemlich gewieft vor.
Liebe treue LeserInnen,
Ich hoffe, ich bin heute nicht zu polemisch geworden, ich will ja nicht fertige Meinung(en) verbreiten, sondern Tiefe, Bewegung und Zusichkommen fördern …
Gebt mir gerne Rückmeldung (über die bisherige, gar nicht so wenige, gar nicht so knappe, freu ich mich doll!)
Alles Liebe von Gabriele