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NOTEN VERGESSEN

17.3.2020

Heute morgen schien die Sonne und im See läuft nach dem langen Winter endlich wieder das Wasser ein. Ihr wisst ja, er wird wegen der Karpfen im Spätherbst immer abgelassen. Gleich beim Aufstehen stelle ich mich vor mein geöffnetes Schlafzimmerfenster, eingewickelt in eine Decke, atme tief durch und lasse einige Minuten die Schönheit von Himmel, Wasser und Wald auf mich wirken.

Ich wollte das schon lange machen. Jetzt habe ich das Gefühl, erstens genügend Zeit zu haben (die ich selbstverständlich vorher auch hatte) und zweitens alles was möglich ist tun zu müssen für meine psychische und physische Stärkung. Wer weiß, sage ich mir, wie lange die Puste reichen muss, lieber Vorräte anlegen.

Viele Leute antworten zur Zeit auf die Frage wie es ihnen geht mit „Noch gut“. Darin steckt wie auch in meinen morgendlichen Atemübungen der Gedanke, dass wir uns auf eine lange Zeit unter Einschränkungen und womöglich mit Krankheit einstellen müssen. Noch ist schwer vorstellbar, dass zwei Drittel der Bevölkerung infiziert sein werden – wie die Kanzlerin neulich verkündete. Noch glaube ich wie wahrscheinlich die meisten, dass es ganz so schlimm nicht werden wird. Doch auch wenn es weniger schlimm ausfällt, wäre das noch heftig genug.

Es ist seltsam. Man lebt in einer von der Ausbreitung des Virus noch relativ unberührten Gegenwart. Persönlich kenne ich niemanden, der oder die wissentlich infiziert ist, ich kenne aber Menschen, in deren Familie es Infizierte gibt – mit denen sie in den letzten Wochen glücklicherweise nicht in engem Kontakt standen. Von Toten im nahen oder weiteren Umfeld habe ich noch nichts gehört. Allerdings beschleicht mich eine Spur Angst, wenn ich an mein bereits mehrmals aufgeschobenes Telefonat mit Maria denke. Ich befürchte zu erfahren, dass in meiner zweiten Heimat Piobbico, einer Gemeinde mit zweitausend EinwohnerInnen in den Bergen der Provinz Pesaro/Urbino, seit Wochen rote Zone, inzwischen Menschen an der Infektion gestorben sind, möglicherweise Menschen die ich kenne. Von meinem Freund Claudio, der fünfzig Kilometer entfernt an der Küste wohnt, habe ich genau das bereits gehört: Zwei seiner Freunde haben den Aufenthalt auf der Intensivstation nicht überlebt, einer kämpft um sein Leben.

Wir in Deutschland erleben die Gegenwart, in der als fühlbare Veränderung das öffentliche Leben und die meisten privaten Treffen fehlen, mit dem Wissen, dass gerade etwas unvergleichlich Schlimmes auf uns zurollt. Es ist als nähere sich ein Zug, den man nicht mehr aufhalten kann, und wir stehen wie festgeklebt auf den Schienen.

Man könnte jetzt einwenden, gerne religiös/philosophisch unterfüttert, dass der Zug unseres Todes sich in jedem Moment des Lebens unaufhaltsam nähert. Im Moment mag ich die Rede vom höheren Sinn aber nicht hören; Pandemie als Schule des Lebens und Sterbens finde ich grade zynisch. Mir ist unwohl beim Versuch, die Coronakrise ideologisch aufzuwerten als Chance zur Läuterung. Wovon ich hingegen viel halte ist: das Beste aus der Situation zu machen, für sich und andere. Doch was ist das Beste? Viele Menschen bevorzugen die Verdrängung. Und für die allseitige Beliebtheit der Verdrängung lege ich als Psychotherapeutin meine Hand ins Feuer.

In der Bedrohung durch ein klitzekleines Virus sind wir aufgefordert, zumindest partiell nicht zu verdrängen, denn sonst würden wir die neuen lebensrettenden Regeln nicht einsehen. Wegen der Beliebtheit der Verdrängung wäre es auch keinen Tag früher möglich gewesen, die Theater zu schließen und Fußballspiele vor leeren Stadien abzuhalten. Die Menschen hätten es nicht akzeptiert. Geschickt fand ich, wie uns der Entscheidungsprozess über die Schulen überdeutlich als schwierig dargestellt wurde. Denn erst Schulschließung bedeutete – mehr noch als leere Stadien und Konzerthäuser –, dass es nun richtig ernst wurde.

Mit der Verdrängung ist es kompliziert. Ein gewisses Maß davon hilft beim guten Schlaf, um auch mal alle Fünfe grade sein zu lassen und für Momente leicht und locker zu werden. Erinnert Ihr Euch an die Augenblicke in den letzten Tagen und Wochen, in denen das Leben so schien wie immer? Die kleinen Auszeiten ohne das Gefühl der Bedrohung sind vermutlich gerade selten und kostbar. Bei mir ereignen sich Momente der Selbstvergessenheit wenn ich mich auf die Natur einlasse. Aber auch beim Essen und Trinken, an einem schön gedeckten Tisch mit etwas Feinem vor mir und in guter Gesellschaft fühle ich mich herrlich unbeschwert, gerne, Ihr kennt mich, mit einem guten Wein. Da fällt mir auf: Ich muss mit Sigrid vereinbaren, dass wir am Esstisch nicht über Corona sprechen.

Außerdem sehe ich gerade gerne Krimis. Es kommt mir vor, als würden sie mich entspannen, obwohl, einer tieferen psychologischen Sondierung hält dieser Effekt nicht stand, denn letztlich lenken sie nur ab. Zumindest bin ich eineinhalb Stunden von etwas ganz anderem gepackt und durchgeschüttelt. Mit Corona habe ich mir sofort den großen Fernsehfreifahrtschein ausgestellt. Normalerweise beschränke ich mich auf ein Mal die Woche, sonntags Tatort oder Polizeiruf reichte bisher.

Zu unserem Glück beschenkt uns die Natur großzügig – nicht nur morgens vor dem Schlafzimmerfenster. Wenn ich auf Vögel lausche, einen Baum umarme oder die sich gerade wieder intensivierenden Düfte erschnuppere geht’s mir prima. Aber auch da: Lieber nicht ständig mit Sigrid auf dem Spaziergang über die Coronalage reden oder alleine darüber nachdenken. Vielleicht am besten dosieren? Hinweg ja, Rückweg nein?

Sobald ich mit Kindern spiele konnte ich immer wunderbar abschalten. Doch mich mit den drei hier lebenden Kleinen zu treffen verbietet sich leider gerade. Physische Distanz bei unseren üblichen quirligen Unternehmungen wäre unmöglich. Sobald sich die Gelegenheit ergibt werde ich erklären, warum wir jetzt nicht näher zusammenkommen dürfen. Vielleicht begreifen sie ja, dass ich ihnen auch aus der Distanz nahe bin, das wäre schön – aber unwahrscheinlich.

Klavierspielen wollte ich wieder anfangen, gute Gelegenheit, steht schon ewig auf dem Zettel. Offensichtlich habe ich jedoch so lange pausiert, dass ich die Noten teilweise nicht mehr lesen konnte. Bei Satie sind sie aber auch besonders schwierig, tröste ich mich. Bisher hatte ich mich auch nach längerer Unterbrechung einfach auf den Hocker gesetzt und los gespielt, erst holprig, dann allmählich besser. Webrecherche hat geholfen. Die Noten sind mir wieder klar. Gespielt habe ich noch nicht. Fragt ruhig nach. Aber nicht so bald.

Lesen könnten wir jetzt alle ganz ausgiebig. Theoretisch. Gestern habe ich „Die Winterbienen“ recht zügig, man könnte sagen hektisch, quergelesen. Ein tolles Buch, ich schob meine Aufmerksamkeitsdefizite darauf, dass es für mich nicht ganz das richtige war, vielleicht zu sehr Männerbuch – habe es ja auch für einen Nachbarn zum Geburtstag gekauft. In der Regel lese ich das zu verschenkende Buch vorher ganz behutsam durch, man merkt es kaum. Sollte Ihr jemals von mir ein Buch bekommen – jetzt kennt Ihr mein Geheimnis. Meine Schwierigkeit, in Ruhe und Seite für Seite zu genießen hängt, so schwant mir, damit zusammen, dass ich momentan die innere Gelassenheit einfach nicht aufbringe. Trotzdem suche ich weiter nach dem richtigen Buch. Die genau passenden Lektüre zu finden ist ein heikles aber lohnendes Vorhaben, welches Wochen in Anspruch nehmen kann. Jetzt sollte es schneller gehen.

Vom Münchner Frauenbuchladen bekam ich eine Mail „Wir sind weiter für euch da“. Nun endlich werde ich nicht mehr beim Großversand, den man auch vorher keinesfalls unterstützen sollte, bestellen, sondern da wo es segensreich und nötig ist. Versprochen.

Gedanken, Gefühle und Impulse zu disziplinieren scheint mir jetzt mehr denn je zuträglich. Gestern Abend habe ich bewusst nicht „Hart aber fair“ gesehen – nur heute die Zusammenfassung gelesen. Es war mir zu viel, ich brauchte einen Abend, an dem ich früh zu Bett ging, Yoga praktizierte und meditierte, und vor allem benötigte ich erholsamen Schlaf. Zu letzterem, das weiß ich, trägt eine aufwühlende Sendung, auch wenn sie um halb elf zu Ende sein sollte, nicht bei. Und ja, es hat geklappt. Damit keine Missverständnisse aufkommen, ich glaube, ich habe die Sendung mit Frank Plaßberg noch nie in meinem Leben ganz gehört, nur jetzt mache ich das anders. Es liegt daran, dass ich verbunden bleiben möchte mit einer Art kollektivem Corona-Bewältigungsprozess, und dazu dienen mir auch Fernsehsendungen. Selbst den gefühlt zwanzigsten Mehrteiler über die Nachkriegszeit, mit wahlweise Anna Mühe, Iris Berben oder Maria Furtwängler in taillierten Blümchenkleidern, derben Schuhen und Flechtfrisuren – ich werde ihn mir anschauen, denn ich will dabei sein.

Zudem glaube ich, dass uns jetzt eine Menge über die Kriegsund Nachkriegszeit hochkommen wird, nicht nur bei denen, die es erlebt haben, sondern aus unserem gemeinsamen Unbewussten. Corona bedeutet zwar nicht Krieg und Kriegsmetaphern im „Kampf gegen das Virus“ finde ich fehl am Platze, doch wir leben in einem Ausnahmezustand, der Besorgnis hervorruft und drastische Verhaltensänderungen erfordert. Außerdem beeinträchtigt das Virus die ökonomische Sicherheit und Planbarkeit der Zukunft.

Auch wenn der Spruch, den ich auf Italienisch gelesen habe, stimmt „Von unseren Großvätern wurde gefordert, dass sie in den Krieg ziehen, wir hingegen sollen nur auf dem Sofa sitzen bleiben und Serien schauen“ beschreibt er nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite spielt es keine Rolle, wenn Corona verglichen mit dem zweiten Weltkrieg deutlich harmloser ausfällt. Psychologisch gesehen macht die Unterscheidung zwischen mehr oder weniger zerstörerisch, mehr oder weniger grausam und blutig, keinen Sinn. Ein Zustand, der kollektiv enorme Angst und Verunsicherung erzeugt, fordert die emotionale Stabilität nun mal heraus. Wir wissen nicht, was auf uns zukommen wird, und wir wissen vor allem nicht, ob wir den Folgen dessen, was möglicherweise auf uns zukommen wird, gewachsen sein werden. Werden wir in der Lage sein durchzuhalten? Wer wird womöglich auf der Strecke bleiben? Und was können wir tun?

Liebe Elke, Judith, Claudia, Birgit, Gabi, Susanne, Ulrike, Kerstin, Ute, Uschi, Mari, Eva, Anette, Christine, Dagmar,

Petra und die drei Sigrids,

Freue mich sehr über die tolle Resonanz! Da kommt eine feine und gar nicht mal so kleine Gruppe von Adressatinnen zusammen! Die am weitesten entfernten leben in Galicien (Hallo Eva und Anette von Knulps-Reisen!), Südfrankreich, die Schweiz und natürlich die italienischen Marken sind vertreten, außerdem Berlin, Hamburg, Daudieck, Bonn, Stade, Hannover und die Pfalz. Der Osten fehlt noch mangels korrekter E-Mail-Adresse, wird sich aber hoffentlich demnächst dazu gesellen.

Über Rückmeldungen wie „Tut so gut die Texte zu lesen“ und „Bitte weiter schreiben, warte schon auf mehr“ hab ich mich doll gefreut. Schön wäre es, wenn eine Art Gemeinschaft durch die Rundbriefe ermöglicht würde.

In diesem Sinne take care und Danke Gabriele

Luft holen

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