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ITALIENISCHE VERHÄLTNISSE

20.3.2020

In letzter Zeit träume ich viel. An den Traum der letzten Nacht erinnere ich mich deutlich. Unerklärlicherweise, ich hatte ja mein Handy nicht wieder aufladen können (Laden ist geschlossen) und nahm daher an, dass der Vertrag ausgesetzt sei, bekam ich vorgestern Mittag eine SMS. Es kam mir vor, als sei die Nachricht aus dem All zu mir durchgedrungen – noch mehr als ich den Absender sah, meinen Freund Alberto auf Levanzo, einer kleinen Insel vor Sizilien. Auch dass er meine deutsche Handynummer kannte schien mir wie ein Wunder. Prompt träumte ich in der darauf folgenden Nacht vom Schwimmen in türkisfarbenen sizilianischen Meeresbuchten und Wanderungen durch windzerzauste Pinienwälder. Es war herrlich, mein ganzer Körper lebte auf. Und ich befand mich ganz weit weg von Angst und Bedrohung.

Oh wie schön ist Levanzo! Gestern hätte dort das wichtigste Dorffest San Giuseppe stattgefunden, San Giuseppe ist der Schutzpatron der Insel. Normalerweise wird dann gemeinsam an langen Tischen auf der Dorfstraße gegessen und alle, die sich gerade auf der Insel befinden, sind zu gegrilltem Fisch und Wein eingeladen. Alberto zündet danach auf den Felsen überm Meer den großen Reisighaufen an, welchen er in den Tagen zuvor kunstvoll aufgeschichtet hat. Seit vielen Jahren ist das Feuer seine Aufgabe, auf deren Erfüllung er, das würde er natürlich nie zugeben, ein bisschen stolz ist. Vorletztes Jahr konnte ich mich von der Pracht des San-Giuseppe-Feuers persönlich überzeugen.

Auf Facebook sah ich heute morgen, von einem anderen Inselfreund gepostet, dass im Dorf ein Gebet angepinnt wurde, welches in sizilianischem Dialekt bittet: Beschütze uns, oh San Giuseppe, vor dem Übel, welches Coronavirus heißt. Vielleicht handelt es sich um eine ähnlich wirksame Maßnahme wie die Ausgangssperre?

Es wird ja gerade befürchtet, die Ausgangssperre in Italien habe nicht viel gebracht. Von vorgestern auf gestern sind die Zahlen der Toten und Infizierten gestiegen wie nie zuvor. Der Effekt soll sich ja nach frühestens zwei Wochen bemerkbar machen. Aber die zwei Wochen sind nach meiner Rechnung vorbei.

Als Antwort auf die Frage, warum es in Italien mit Corona so schlimm gekommen ist, kursieren momentan drei Theorien: Mehr sehr alte Menschen als in anderen Ländern, die überwiegend mit den jungen eng zusammen wohnen, herunterprivatisiertes Gesundheitssystem und einfach Pech gehabt, die ersten gewesen zu sein.

Mir ging ein zusätzliches Licht auf im Gespräch mit Gudrun. Weil wir danach eine Veranstaltung im Schauspielhaus besuchen wollten, hatten wir uns im ersten Stock des Chinesischen Restaurants direkt daneben getroffen. Es entbehrte nicht der Komik, dass Gudrun, Chefin des Gesundheitsamtes, während Anfang März die Coronawelle bereits anrollte, eine Nachricht geschickt hatte „Wie immer beim Chinesen?“. Gudrun und ich sind zusammen zur Schule gegangen, sie ist eine meiner ältesten Freundinnen. Bei kantonesischen Vorspeisen erinnerten wir uns an schöne gemeinsame Stunden in den Marken und kamen schnell auf das Desaster in der Lombardei. In ihren Kreisen, so berichtete sie unter Vorbehalt, gehe man davon aus, dass in Italien große Versäumnisse passiert seien. Zwischen den ersten zwei Fällen in Rom und der explosionsartigen Ausbreitung zwei Wochen später im Norden sei entweder rein gar nichts oder krass zu wenig unternommen worden. Diese Einschätzung, so stellte ich später fest, findet man nicht im Netz, sie wurde offenbar wenig bis gar nicht weiter verbreitet. ÄrztInnen weltweit üben sich momentan in anerkennenswerter professioneller Loyalität und sprechen mit Achtung von den tapferen italienischen KollegInnen, die sich einer entsetzlichen Situation gegenüber sehen. Auf die Hintergründe wird nicht eingegangen, man behandelt die Lage so, als sei sie wie eine Naturgewalt über das Land gekommen.

Das allerdings stimmt so nicht. Die Lombardei, eine wohlhabende Industrieregion mit der Hauptstadt Mailand, wird von der Lega regiert, einer Partei der hiesigen AfD vergleichbar. Dadurch sind in der am schlimmsten betroffenen Region PolitikerInnen am Ruder, die wenig Regierungs- und Verwaltungserfahrung besitzen und – so möchte man hinzufügen – auch wenig moralische Kompetenz. Das haben sie in einer Notlage tragisch unter Beweis gestellt, indem sie beispielsweise viel zu spät reagierten und Hilfe von anderen Regionen anforderten. Die von der Lega geförderte Privatisierung des Gesundheitswesens führte unter anderem dazu, dass während die Pandemie bereits wütete, die Verhandlungen mit privaten Kliniken zur Aufnahme von Covid-PatientInnen wertvolle Zeit kosteten – und wie mein Freund Claudio versicherte, nicht immer erfolgreich waren. Der Schwerpunkt des politischen Handelns lag deutlich auf der Erhaltung der Wirtschaftskraft der Region, nicht auf dem Wohl der Menschen.

Ein weiterer Faktor, der die Tragödie begünstigte, wenn nicht gar ausgelöst hat (PatientIn Nummer Null ist nie gefunden worden) ist die Präsenz der chinesischen Textilarbeiterinnen in der Gegend von Mailand bis Venedig. Fast die gesamte italienische Textilindustrie („Made in Italy“), die sogenannte pronto moda, basiert auf der Ausbeutung von zu großen Teilen illegal im Land lebenden ChinesInnen. Wenn man eine Karte dieser Betriebe und eine Karte der Ausbreitung des Coronavirus nebeneinanderlegt dann sind beide fast identisch.

Um es mal drastisch zu sagen: Die Toten, die gestern von den Armeelastwagen in ihre Dörfer heim gebracht wurden, haben den Preis gezahlt für die Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen, den Rechtsruck in der Bevölkerung und die billigen italienischen Textilien. Punkt.

Zurück zum Ruf nach der Ausgangssperre. Meine anfänglich rein gefühlsmäßig begründete Abwehr hat sich nach längerer Überlegung verstärkt. Gerade melden sich der Präsident des weltweiten Ärztebundes, der deutsche Städte- und Gemeindetag und viele andere Institutionen und Einzelpersonen mit Bedenken gegen eine solche Maßnahme, die ja momentan auch hier zur Diskussion steht.

Überwiegend speist sich der Wunsch nach noch drastischeren Einschränkungen aus der Angst – und den Stellungnahmen von VirologInnen. Die Angst der Menschen ist natürlich ernstzunehmen, denn sie bildet eine starke Kraft. Psychologisch gesehen stellt die Wut auf Menschen, die Coronaparties feiern oder sich sonst nicht an die Auflagen halten, ja eine Angstverschiebung dar. Es ist einfacher wütend zu werden als die Angst auszuhalten. In der Wut hat man noch den Eindruck etwas aktiv tun zu können, man fühlt sich nicht dermaßen ausgeliefert und ein Gefühl kann sich entladen. Emotionale Entlastung können wir grade alle gebrauchen. Irgendwie tut es gut, wahlweise über die Regierung oder die unvernünftigen Bürgerinnen herzuziehen.

Nur ob wir damit Entscheidungen begründen sollten ist eine Frage, die sorgfältig erörtert werden will. Außerdem kann ich mich nicht erinnern zugestimmt zu haben, dass wir statt von PolitikerInnen von VirologInnen regiert werden. Zumindest sollte man bei solchen Entscheidungen auch PsychologInnen, SoziologInnen, MedizinerInnen, WirtschaftswissenschaftlerInnen, Historikerinnen, KulturwissenschaftlerInnen, PädagogInnen und PhilosophInnen (jemanden vergessen?) hinzuziehen.

Viel spricht gegen Ausgangssperre: Die Beeinträchtigungen der Gesundheit werden hoch sein, wenn Menschen nicht mehr ihre vier Wände verlassen können. Für das Immunsystem versprechen Bewegungsmangel und wenig frische Luft nichts Gutes. Wenn man Gesundheit nicht nur unter dem Aspekt des Coronavirus betrachtet bedeutet häusliche Isolation Gefahr. Natürlich sollte die Eindämmung des Virus an oberster Stelle stehen. Aber der menschliche Körper ist und bleibt ein äußerst komplexes System von Wechselwirkungen. Und ein Virus kann günstige Bedingungen vorfinden um sich anzuheften oder weniger günstige. Depressionen, Angstzustände und andere, im Moment noch im Zaum gehaltene psychische Störungen werden zunehmen und bilden einen Nährboden für körperliche Erkrankungen. In meiner Umgebung beobachte ich bereits jetzt, wie die Bedrohung durch Corona Menschen mit fragilem Nervenkostüm an ihre Grenzen bringt. Gewalt gegen Frauen und Kinder wird zunehmen. Es ist ja nicht so, dass alle Menschen mit ihren Liebsten und wunderbaren Familien zuhause eingeschlossen sind. Zahlreiche Menschen leben gezwungenermaßen zusammen mit anderen, die sie hassen, von denen sie sich längst hatten trennen wollen und mit denen sie außer ökonomischen Zwängen nichts verbindet.

Dient es wirklich der Vernunft während der Pandemie die Bevölkerung per Dekret zu Hause festzuhalten? Die meisten Formen der Unvernunft werden dadurch nicht verschwinden. Ein beliebiges Beispiel: Erwachsener Sohn lebt bei seinen alten Eltern, war schon immer eigenbrötlerisch, so in Richtung, ich blicke durch, die Menschheit ist verrückt. In der aktuellen Situation glaubt er, dass gewaltig übertrieben wird und hält das Virus für harmlos. Er ist derjenige, der Auto fährt und für alle einkauft. Er schützt sich und andere nicht, Hygieneregeln und Distanz findet er lächerlich. Die Eltern versuchen gerade ihn zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, weil sie Angst haben, dass er sie anstecken könnte.

Eine Ausgangssperre verhindert nicht Rücksichtslosigkeit und Ignoranz, sondern könnte sie im Gegenteil noch verstärken. Wir freuen uns in den letzten Wochen, wie viele Menschen füreinander einstehen, sich helfen und stärken. Aber das ist nicht die ganze Realität – und der andere, uns alle gefährdende Teil besteht nach meiner Einschätzung nicht primär darin, dass einige Jugendliche den Abstand nicht einhalten – immerhin taten sie es in der Öffentlichkeit und die Polizei konnte eingreifen. Die Macht des Unbewussten fürchte ich mehr als Coronaparties.

Freiheit und Individualität werden hierzulande hoch geschätzt, Zurückhaltung und Opfer für das Gemeinwohl weniger.

So gesehen bedeutet es schon eine Menge, dass im Großen und Ganzen gerade Einschränkungen zugunsten des Schutzes der sogenannten Risikogruppen akzeptiert werden.

Der Wunsch, durch eine Ausgangssperre mehr Sicherheit zu erzeugen, gründet wesentlich auf die vermeintlichen Erfolge in China. Mir fällt es schwer, die Erfolgszahlen, die von dort übermittelt werden, für bare Münze zu nehmen. Viel konnte durchgesetzt werden, weil in China längst ein fast lückenloses System der Überwachung installiert wurde. Umfangreiche Kontrolle von Verhalten und Gefühlsleben der Menschen ermöglicht ein völlig anderes staatliches Vorgehen – doch unter solchen Bedingungen leben wir hier nicht.

Zum Schluss noch was Schönes. Sigrid und ich können ja nicht von Balkonen singen. Ich kann nicht singen und wir haben keine Balkone.

Weil wir auch an einem schönen kollektiven Ritual teilhaben wollen werden wir heute Abend um 19 Uhr über Livestream mit Mutter Meera meditieren.

Liebe Coronaschwestern und Brüder,

Heute endlich herrliche Frühlingssonne, passend zum Datum, hoffe viele von Euch konnten das wunderbare Wetter ebenfalls draußen genießen … Morgen mache ich wohl mal eine Pause, wenn ich es selbst entscheiden konnte hab ich sonntags immer aufs Arbeiten verzichtet – und das Verfassen der Texte macht mir zwar viel Freude, Arbeit ist es aber trotzdem.

Stay safe and as happy as you can Gabriele

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