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KRISENGESPRÄCHE

18.3.2020

Heute waren 18 Grad und Sonne angekündigt, ich freute mich auf einen herrlichen Frühlingstag. Gabi wollte aus Hamburg zu Besuch kommen und wir planten eine Wanderung, zum ersten Mal mit Anwendung der Abstandsregeln. Gabi war froh raus aus der Stadt zu fahren und nicht immer so viele Leute vor der Nase zu haben wie an Elbe und Alster. Allgemein, haben wir festgestellt, gehen die Menschen jetzt mehr spazieren. Über Gut Daudieck wälzen sich an schönen Tagen Massen von SpaziergängerInnen wie wir sie vorher nie gesehen haben.

Als Gabi aus dem Auto stieg zeigte sich der Himmel bedeckt und grau, der Wind wehte kühl. Wir beschlossen trotzdem gleich loszugehen. Die übliche Umarmung wurde aus der Ferne mittels geöffneter Arme angedeutet, der gemütliche Stop in meiner Wohnung fiel flach. Wir achteten immer schön auf einen Meter fünfzig zwischen uns, was eine gewisse Anspannung hervorrief, aber auch nicht sonderlich schwierig war. Statt Tee auf dem Sofa hatten wir den Rucksack mit der Thermoskanne dabei. Auf der gewohnten Bank am nächsten Fischteich war reichlich Platz an beiden Enden. Eine vorbei joggende Nachbarin kommentierte unsere Sitzordnung leicht ironisch mit: Na ihr macht das aber vorbildlich. Gegen Abend waren wir vier Stunden an der Luft gewesen und hatten mit den unterschiedlichsten Leuten geredet, immer auf Distanz, alle hatten sich bereits eingestellt, mitten in der Pampa.

Sogar die Kinder, die ich am späten Nachmittag auf dem Trampolin vorfand, rannten nicht wie sonst auf mich zu. „Coronavirus“ krähte der Vierjährige als ich gerade Luft holte für eine längere Erklärung. Danach hab ich die drei bestimmt zwanzig Minuten aus der Ferne beobachtet. Gelegentlich warfen sie einen kurzen Blick über die Schulter: Ihre Salti und kleinen Ringkämpfe, so redete ich mir ein, waren auch für mich. Ich versuchte, tapfer zu sein, ahnte jedoch bereits, dass der Kontakt mir schmerzlich fehlen würde.

Vor der großen Scheune stand T. und wollte grade in sein Auto einsteigen. „Na, alles paletti bei euch“ rief ich salopp und dachte dabei an seine Familie. Für einen Moment war mir entfallen, dass T. der Bürgermeister ist, ich sehe ihn immer nur privat, meist mit Bier in der Hand, beim Grillen oder Fußballschauen zur WM-Zeit. Mein Aussetzer dämmerte mir erst als er mich nicht unfreundlich, aber doch perplex anschaute „Meinst du den Krisenstab?“

Unsere Unterredung kreiste dann um den Tenor, dass die Krise doch gut bewältigt würde hierzulande. Wir wollten uns, so schien mir, rückversichern, dass kein Grund für allzu große Sorge bestehe, dass wir in einem guten Land leben. Die PolitikerInnen, so waren wir uns einig, machten das grade ganz anständig. T. warf ein, dass man in Berlin etwas früher hätte reagieren können mit den drastischen Maßnahmen, er kritisierte den hemmenden Föderalismus. Ich hielt kurz dagegen, die Bevölkerung hätte die Schließungen und Beschränkungen keinen Moment früher akzeptiert. Ohne Akzeptanz ginge Prävention nach hinten los. In Italien, so hatte ich auf social media gelesen, war bereits Anfang Februar die Gegend um Codogno, einem Zentrum von Infektionen, abgeriegelt worden, natürlich nur an den Hauptverkehrsstraßen. Die AnwohnerInnen seien dann die ganze Zeit auf Schleichwegen rein und raus gefahren.

Die Karten zur Eindämmung des Virus vorzeitig zu verspielen wäre ein fataler Fehler. Zumindest ein Ass im Ärmel haben wir ja noch, meinten wir, abermals in schöner Einigkeit: die Ausgangssperre. Außer mir glaubten alle, Birgit war noch dazu gekommen, dass eine strenge Ausgangssperre uns bald verordnet werden würde, nächste Woche lautete die Vermutung. Das mochte ich mir gar nicht vorstellen – auch wenn wir persönlich, wie wir augenzwinkernd versicherten, so weit draußen weiterhin Möglichkeiten finden würden, unbemerkt durch Wald und Wiesen zu stromern. Schon halb im Auseinandergehen wurde die Hoffnung laut, dass Angela Merkel heute Abend in ihrer Fernsehansprache die passenden Worte finden möge, um die Bevölkerung zu überzeugen. Nur wenn alle die Regeln befolgten könnte ein kompletter Lock-Down wie in Italien hier abgewendet werden. Meine Güte, dachte ich im Weggehen, so viel Staatstreue war selten, die Kanzlerin als große Heilsbringerin, hatte ich noch nie erlebt.

Mitten im Wald waren Gabi und ich auf ein Paar mit Hund gestoßen. Die beiden halten mich seit Jahren bei jedem zufälligen Aufeinandertreffen über die Fortschritte ihres nervösen Pinschers auf dem Laufenden. Inzwischen kenne ich auch die Fortschritte ihres Badezimmerausbaus und allmählich werden die Gespräche etwas zu ausufernd für meinen Geschmack, zumal es kaum zu schaffen ist, den Redestrom der Frau zu unterbrechen. Heute war das Thema völlig klar. Die Frau, wir haben uns nie einander vorgestellt, vertrat die These vom Meineid der Politiker am deutschen Volk. Gabi und ich schauten verständnislos. Die Politiker, erklärte sie streng, hätten geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuhalten und genau das würden sie jetzt nicht tun. Ich hielt sogleich dagegen, man würde die Bevölkerung sehr wohl schützen, das sei doch der Sinn der ganzen Regeln. Wie befürchtet wurde ich ohne Federlesen nieder geredet. Man hätte viel früher und strenger reagieren müssen, man habe die Lage verharmlost und Kritiker mundtot gemacht. Und man habe sowieso keine Ahnung da oben. Ich konterte mit der notwendigen Einsicht der Bevölkerung als Voraussetzung für die Akzeptanz von Maßnahmen. Als ich mit dem Beispiel aus Italien kam, wie tausende aus Mailand am Abend vor dem Lockdown die Flucht in den Süden angetreten hatten, war ich gespannt auf die Replik. Sie lautete wider Erwarten nicht, die Deutschen seien regelkonformer als die ItalienerInnen, sondern schlicht: Das Volk ist nun mal dumm. Hallo?! Das Volk dumm und die Regierung ja sowieso? Bei den beiden handelt es sich demnach um die einzigen Gescheiten? Das aufgebrachte Paar, schoss mir bei unserem eiligen Weitergehen durch den Kopf, hielt mich jetzt vermutlich nicht nur wie bisher für eine Katzenliebhaberin und Wanderlustige, sondern mindestens für eine wackere Sozialdemokratin. Ich hingegen hielt sie für unmögliche GesprächspartnerInnen. Beim nächsten Mal: nur noch der Hund. Im Höchstfall das Wetter.

Dass ich mich in letzter Zeit beruhigt fühle, wenn Heiko Maas versichert die Deutschen aus Marokko zurückzuholen, Angela Merkel Rücksicht durch physische Distanz anmahnt und Altmaier und Scholz die Bereitschaft sehr viel Schulden zu machen verkünden (um diesmal nicht „die Wirtschaft“, sondern „die kleinen Selbständigen“ zu unterstützen), kommt mir schon seltsam vor.

In der Schulzeit opponierte ich gegen die Schulleitung und natürlich gegen die Bildungspolitik von Stadt und Land (als einziges nicht kommunistisches Mitglied des Landesschülerrates). Später argumentierte ich gegen Professoren (Professorinnen gab es noch nicht am Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg), die meisten Seminare und die Lehrpläne (als Mitglied des Frauenfachschaftsrates). Als Feministin kämpfte und kämpfe ich gegen das Patriarchat, gegen Diskriminierung, Doppelstandards und Männergewalt. Zusammen mit vielen anderen UmweltschützerInnen protestierten wir in Brokdorf und Gorleben gegen die Atompolitik. Und in jüngster Zeit haben wir freitags wieder angefangen mit dem Demonstrieren für eine bessere Zukunft. How do you dare, rufen wir: Wie könnt ihr nur die Zukunft vergeigen.

Meine Generation liebäugelt wahrhaftig nicht mit Regierungen. Wir hielten wacker dagegen und hatten oftmals prima Ideen zur Veränderung, von denen wir einige umsetzten. Ich gründete beispielsweise zusammen mit anderen Psychologinnen 1980 das Feministische Frauentherapiezentrum in Hamburg. Wir haben, das dürfen wir sagen, vieles erkämpft, von dem jetzt andere profitieren. Unseren Eltern haben wir als Orientierung meist wenig vertraut, sie im Gegenteil zur Rede gestellt wegen des Schweigens über Krieg und Faschismus – und uns frühzeitig abgeseilt. So standen wir bisweilen etwas alleine auf der Flur, aber immer entschlossen in kritischer Distanz.

Für die in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren in Westdeutschland Geborenen fühlt es sich wie etwas Besonderes an, ich möchte fast sagen Kostbares, den gewählten VolksvertreterInnen zu vertrauen. Nicht wenige der alten KämpferInnen scheinen gerade das Gefühl zu haben, in einem guten Land zu leben, in dem für sie gesorgt wird.

Ein Systemwandel, den wir zweifellos dringend brauchen, wird sich dennoch keineswegs von selber einstellen. Hinterher, nach Corona, werden wir uns jede einzelne Verbesserung bei Klimaschutz, Geschlechtergerechtigkeit, Daseinsvorsorge, Bildungschancen und Gemeinwohlökonomie hart erkämpfen müssen. Wenn wir das nicht tun, wird die Chance verpuffen und die Krise des Systems bald vergessen sein als wäre sie nie dagewesen.

Liebe Elke, Judith, Claudia, Birgit, Gabi, Susanne, Ulrike, Kerstin, Ute, Uschi, Mari, zwei Mal Eva, Anette, Christine, Dagmar, Petra, Karen, Rüdiger und drei Sigrids,

Wenn ich etwas länger werden sollte mit den Texten liegt es daran, dass ich mich langsam einschreibe und an einer Rückmeldung wie „Ooh, schade, schon zu Ende“ (Winkewinke nach Kleinmachnow!), einige haben geschrieben, dass sie sich freuen, Teil der Gruppe zu sein, das finde ich ganz bezaubernd – wer weiß, wohins noch führt …

Allen Arbeitenden viel Kraft dafür und allen überhaupt innere Stärke für die Bewältigung von nie Dagewesenem Gabriele

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