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„Also, mal so janz aus Neugierde, watt wird dit denn? Auswandern? Australien? Mal so eben umme janze Welt?“ Keuchend und prustend wuchtete der bemitleidenswerte Taxifahrer Sophias wahrlich gigantischen Reisekoffer in den Wagen.

Es war zwar nicht so, dass sie ihn nicht bedauern würde, aber dabei konnte sie dem Mann leider nicht helfen. „So was in der Richtung. Nur nicht ganz so weit.“ Ihr Bedürfnis nach Konversation war gerade wenig ausgeprägt.

Der Taxifahrer schien das nicht krummzunehmen. „Na, watt soll’s, Frauen und kleenet Jepäck, wa? Na, dann fangen wa doch mal mit dem Flughafen an, richtig?“ Lächelnd hielt er ihr die Hintertür auf.

„Danke, genau da will ich hin.“

„Hab ick mir doch fast jedacht.“

Sophia glitt mit einem erleichterten Seufzen auf den Rücksitz, zupfte die weiße Bluse zurecht und versuchte, sich in der Scheibe zu erkennen. Was hatte sie eigentlich an? Himmel, sie sollte sich wirklich langsam wieder ein wenig auf das konzentrieren, was sie tat, auch wenn es verdammt schwerfiel. Na ja, Jeans, besagte weiße Bluse, hellbraune Wildlederslipper und dazu die dünne braune Leinenjacke. Das ging fast schon als passendes Ensemble durch. Ihre langen, rotbraunen Haare waren zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Styling war heute definitiv nebensächlich gewesen. Sie stützte den Ellbogen an der Wagentür ab und sah hinaus auf die vorüberziehenden Straßen, Menschen, Autos und Fahrräder. Das alles verschwamm vor ihren Augen zu einer einzigen wabernden Masse, aus der sich, sehr zu ihrem Leidwesen, schon wieder ziemlich deutlich die Ereignisse der vergangenen Nacht schälten.

Stefan, der Mann, mit dem sie – eigentlich – ihr Leben hatte verbringen wollen, arbeitete seit Wochen hart für den neuen Auftrag, den er auf Biegen und Brechen für die Agentur an Land ziehen wollte. Natürlich unterstützte sie ihn, wie immer, was auch sonst? Sie waren nicht nur als Paar ein eingespieltes Team, sondern auch im Job. Seine Kampagnen waren perfekt durchdacht, strukturiert und zielorientiert. Zusammen mit ihrer Kreativität und ihrer Erfahrung war das Team Weißenfels-Hauser derzeit auf dem Markt beinahe unschlagbar. Klang vielleicht ein wenig überheblich, entsprach aber, betrachtete man die Erfolge, durchaus den Tatsachen. Die Ideenjäger, die Agentur, in der Stefan angestellt war und für die sie als Freelancerin regelmäßig Aufträge erledigte, war derzeit die erfolgreichste Werbeagentur im kompletten Bereich Ost.

Sophia rutschte noch ein wenig tiefer in ihren Sitz und lehnte ihren schmerzenden Kopf an das Rückenpolster.

Gestern, bei einem unverschämt schönen Sonnenuntergang, war ihr Fotoshooting in Friedrichshain, in einem Abrisshaus mit diesem speziellen, morbiden Charme, nicht nur sehr unterhaltsam gewesen, sondern auch schneller vorüber als geplant. Die leicht durchgeknallten Musiker, die sie ablichten sollte, erwiesen sich als ausgesprochen nette, umgängliche Vollprofis, mit denen die Arbeit Spaß machte. So konnte sie schon um kurz nach neun Uhr ihre Ausrüstung einpacken und sich beschwingt auf den Heimweg machen.

Da das Haus, in dem sich die Ideenjäger samt ihren Büros einquartiert hatten, nur ein paar Ecken entfernt lag, entschloss sich Sophia, Stefan zu überraschen und ihn, da ihr Magen lautstark knurrte, zu ihrem Lieblingsitaliener auf der anderen Straßenseite zu entführen.

Stefan arbeitete so viel und so lange, dass ihm eine Auszeit sicher gelegen käme. Sie fand in dem fast verlassenen, dreistöckigen Haus, in dem einstige Lagerflächen gekonnt in moderne, hippe Büroräume verwandelt worden waren, auch im Halbdunkel ihren Weg zu Stefans Büro. Es lag am Ende des langen Flurs in der obersten Etage.

Tja, wie auch immer man Arbeit definieren mochte, auf jeden Fall arbeitete er. Hart, schweißtreibend und mit, wie sie es mehr oder weniger laienhaft einschätzte, optimalem Einsatz. Sein breiter, ausladender Schreibtisch, von allen – zumindest in diesem Augenblick – sinnlosen Dingen wie Arbeitsmaterial befreit, bot die passende Grundlage für das, was er mit einer schätzungsweise zwanzig Jahre alten, sehr blonden Frau praktizierte.

Ihr eigenes Liebesleben kränkelte ja nun seit einiger Zeit etwas. Nicht, dass es komplett tot gewesen wäre, nein, er mühte sich redlich. Um ein Haar hätte sie bei diesem Gedanken gelacht, obwohl ihr vielmehr zum Heulen zumute war. Sich hinter dem breiten, hölzernen Türrahmen verbergend, überlegte sie angestrengt, wie nun eine möglichst theatralische Reaktion ihrerseits aussehen könnte. Eine ausgesprochen schwere Frage, insbesondere, da sich statt eines vernünftigen Drehbuchs fortwährend neue Details der Szenerie in ihr Bewusstsein drängten. Alleine dieses Nichts von einem knallroten Slip, das da höchst dekorativ über Stefans Sessellehne baumelte, lenkte sie schon enorm ab.

Sophia selbst war in Sachen Dessous eher der Typ schlichte Eleganz.

„Ja, du bist so gut, so unfassbar gut, Stefan, so gut.“ Nun ja, besonders kreativ war Blondie ja gerade nicht. Offenbar war sie schon mal nicht aus der Textabteilung und falls doch, dann gute Nacht Ideenjäger! Was sollte das hier eigentlich noch werden? Leider folgten keine weiteren, kreativen Ergüsse.

Nach ein paar Minuten, in denen sie den Blick nicht von dem skurrilen Schauspiel auf der Tischplatte abwenden konnte, entschied sie sich für geordneten Rückzug. Angesichts der Umstände und der banalen Tatsache, dass sich ihre Kreativität in Sachen Dramaqueen offensichtlich in Luft aufgelöst hatte, schien ihr das die einzig praktikable Möglichkeit.

Wie sie nach Hause gelangt war, entzog sich – auch langfristig – ihrer Kenntnis, was sie im Nachhinein geringfügig beunruhigte. Kaum in ihrer gemeinsamen Wohnung angekommen, war der Drang, erst einmal alles zu zertrümmern, nicht so einfach in den Griff zu bekommen. Daher musste als Erstes ein kaltes Pils für ein wenig Abkühlung sorgen.

Wenn sie doch nur gewusst hätte, wohin mit ihrem Zorn und ihrer ja schließlich gerechtfertigten Aggression, doch selbst in diesem Moment war da diese ruhige Stimme der Vernunft. „Wenn du jetzt das Geschirr zerdepperst, stehst du nachher inmitten der ganzen Scherben, lass dir was Sauberes einfallen!“

Sauber? Arsen? Eine durchaus erwägenswerte Möglichkeit, doch leider waren ihre Arsenvorräte wohl gerade auf ein absolutes Minimum geschrumpft. Nein, das war leider, wenn auch durchaus akzeptabel, nicht der Weisheit letzter Schluss. Kaum fiel ihr Blick auf die wunderschöne, handgearbeitete Maske, die sie von ihrem letzten Kurzbesuch bei ihrer Freundin Saskia mitgebracht hatte und die von Stefan als „extremst kitschig“ bezeichnet worden war, öffnete sich unvermittelt ihr geistiger Vorhang:

Venedig!

Natürlich, warum war sie nicht sofort darauf gekommen? Nichts wie weg! Wobei das Häuschen, das Saskia und ihr Lebensgefährte Maurizio bewohnten, schon arg klein war. Außerdem war sie doch erst vor … Sekunde einmal … waren das wirklich schon wieder vier Jahre, seit sie die beiden besucht hatte und durch Venedig gebummelt war? Falsch, gebummelt waren! Ihre erste gemeinsame Reise mit Stefan. Ach Mist, musste das jetzt sein? Sie erinnerte sich bestens. Stefan fand Venedig zwar ganz nett aber auch ziemlich heruntergekommen. Gut, sie war da gänzlich anderer Meinung, denn das war der Charme der Jahrhunderte – das war einfach die Patina der Geschichte, kein Dreck. Stefan fühlte sich in Singapur oder Hongkong wohler als in den Gassen Venedigs. Umso besser, dann würde er ihr wohl kaum folgen … wahrscheinlich. Jetzt erst einmal logisch denken und möglichst viel Abstand zwischen ihn und sich selbst bringen, um sich darüber klar zu werden, wie es weitergehen sollte.

Tausendeinhundert Kilometer waren da ein guter Anfang, wie sie fand.

„Tja, meine Dame, da haben wir wohl fünf Kilo zu viel.“

Sophia sah an sich hinunter, blickte erneut den netten Bodensteward hinter seinem Counter an und erklärte lächelnd: „Finden Sie? Und ich dachte, meine Figur wäre ganz akzeptabel.“ Gott sei Dank! Zumindest ihre Schlagfertigkeit war also wieder im Anmarsch.

Der junge Mann versuchte nach Kräften, die Contenance zu wahren, versagte jedoch nach einigen Sekunden kläglich. „Der war gut, richtig gut. Und lediglich, weil die Maschine heute, mitten unter der Woche, nur zu zwei Dritteln gebucht ist, drücke ich jetzt alle Augen zu. Zwei Kilo sind im Ermessenspielraum der Airline und drei gehen als Kreativitätsbonus durch.“

Sophia strahlte ihn an, so gut sie das heute konnte. „Vielen Dank, das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.“

Er reichte ihr die Boardingkarte zurück, wies ihr den Weg zum richtigen Gate und wünschte mit charmantem Lächeln einen guten Flug.

Ging doch! Folglich konnte man sogar im hohen Alter von knapp dreißig noch punkten, auch wenn man inzwischen schon verflixt erfindungsreich werden musste. Sophia passierte die Kontrollen, kaufte sich im Duty-Free-Bereich ein überteuertes Hochglanzmagazin und einen noch teureren Milchkaffee, setzte sich in eine möglichst entlegene Ecke des Wartebereichs und versuchte zum wiederholten Mal ihre Gedanken zu ordnen.

Das Telefonat mit Saskia am vergangenen Abend war so verlaufen, wie es zu erwarten gewesen war. Mit der ihr eigenen Bodenständigkeit und Logik analysierte Saskia die Situation.

„Der Kerl ist doch das Letzte, vor allem nach dem, was du vor drei Tagen für ihn abgezogen hast. Du packst natürlich sofort deine Sachen und kommst hierher. Dieser Volltrottel, typisch Y-Chromosom. Du buchst jetzt auf der Stelle einen Flug, ich kann dich zwar nicht abholen, da wir morgen bei Maurizios Tante sind, aber das ist kein Problem. Unsere Adresse kennst du, der Schlüssel liegt unter dem großen Blumentopf mit dem Basilikum gleich rechts neben der Tür. Ich freu mich auf dich.“

Saskia war kein Freund des langen Überlegens. „Nägel mit Köpfen“ entsprach schon eher ihrer Devise. So wie damals, als sie kurz vor dem Abschluss das Studium schmiss, um Maurizio nach Venedig zu folgen. Auf die Frage „Innenarchitektur oder Liebe“ gab es für Saskia nur eine Antwort. Liebe. Und entgegen aller damaligen Unkenrufe hielt diese Liebe noch immer.

Nachdenklich rührte Sophia in ihrem Kaffee. Fünf Jahre war sie mit Stefan zusammen, fünf Jahre, in denen sie sich so viel zusammen aufgebaut hatten. Traumwohnung, Traumurlaube, Traumauto, Traumjob … nun ja, bei so viel Traum hätte sie eigentlich damit rechnen müssen, eines Tages aufzuwachen. Wenn dieses Aufwachen nur nicht so verflucht weh tun würde. Allerdings war sie seit der vergangenen Nacht richtig wach. Das lange Telefonat mit Thilo, ihrem einzigen Vertrauten bei den Ideenjägern, war mehr als aufschlussreich gewesen. Thilo, mit seinen fast vierzig Jahren einer der Ältesten im Team, war ihr von Anfang an ein treuer und guter Berater gewesen. Wo Stefan eher Sturm und Drang vertrat, war Thilo das überlegende, abwägende Element. Damit hatte er ihr zu Anfang nicht selten den Hintern gerettet. Dank Thilo war es ihr gelungen, die Vorstellungen der Chefetage stets perfekt umzusetzen.

Warum er beim letzten Firmen-BBQ so schweigsam gewesen war, wusste sie seit vergangener Nacht auch. Blondie war bei Weitem nicht Stefans erster liebestechnischer „Nebenjob“. Nur zögerlich – und das nicht, um Stefan zu schützen, sondern weil er ihr nicht weh tun wollte – rückte Thilo mit der Wahrheit heraus. Grob geschätzt kam er auf acht Praktikantinnen, Sekretärinnen und – was besonders delikat war – Kundinnen. Nun, da die Katze aus dem Sack war, sah Thilo keine Notwendigkeit mehr, etwas zu verschweigen. Giftmord rangierte nach diesen Enthüllungen in ihren Überlegungen im oberen Bereich der Möglichkeiten. Insbesondere, da Thilo zusicherte, sie tatkräftig bei der Entsorgung der Leiche zu unterstützen.

Wie konnte sie dermaßen blind gewesen sein? Auf beiden Augen wohlgemerkt! Die Antwort war relativ einfach. Durch die viele Arbeit, die ja so ganz nebenbei auch noch Spaß machte, war ihr keine Zeit für Überlegungen geblieben. Wann bitteschön hätte sie misstrauisch werden sollen? Stefan war immer hervorragend vorbereitet gewesen. Aus dem Büro brachte er fertige Präsentationsmappen mit, rief zwischendurch immer wieder an, überraschte sie mit spontanen Wellnessurlauben und Einladungen in edle, teure Restaurants.

„Sophia, denk jetzt mal nach, bitte. Ohne dich ist er in der Agentur nur die Hälfte wert.“ Thilos Statement hatte so viel mehr beinhaltet als nur den Umstand, dass sie ihren Job gut machte. Natürlich war es Stefan daran gelegen, sie bei Laune zu halten. Eindeutig mit Erfolg, denn bis vergangene Nacht hatte sie tatsächlich nichts bemerkt.

Die zweite Tasse Kaffee half, ihren Koffeinlevel einzupendeln, und das Denken klappte noch besser.

Nichts aufgefallen? Wie man es nahm. Wenn aus drei Mal pro Woche Sex irgendwann zwei Mal pro Monat wurde, sollte man eigentlich stutzig werden. Warum war sie es denn dann nicht geworden? Was war nur los mit ihr? Mit Scheuklappen durch die Welt zu laufen war doch nicht ihre Art gewesen und nun war es dennoch so weit gekommen? Das musste sich ändern, und zwar flott.

Mit dem letzten Schluck ihres Muntermachers kam die Durchsage, dass sich der Flug nach Venedig leider um voraussichtlich eine Stunde verzögern würde – wegen technischer Probleme der Maschine. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Nach eineinhalb Stunden war Sophia beim vierten Kaffee angelangt und kannte die Kolumne über geistige Fitness im Alter auswendig. Immerhin stellte die freundliche Stimme aus dem Lautsprecher nun in Aussicht, dass das Boarding für den Flug nach Venedig in zwanzig Minuten beginnen könne. Also trank sie aus, hängte ihre Handtasche über die Schulter, klemmte sich das Magazin unter den Arm und verzog sich auf die Toilette. Das war nötig, um eventuell notwendige Restaurierungsarbeiten an ihrer Erscheinung vornehmen zu können, bevor sie im Flieger saß und die knackigen Italiener sie zu Gesicht bekämen.

Vor dem langen Spiegel in der Damentoilette musterte sie sich erst einmal kopfschüttelnd. Knackige Italiener? Sag mal, hast du sie noch alle? Sogar dein eigener Kerl rührt dich kaum mehr an und du machst dir noch Hoffnungen?

Wobei. Eigentlich war ihr Spiegelbild, das ihr zweifelnd entgegenblickte, gar nicht so übel. Die gut schulterlangen, rotbraunen Haare waren tatsächlich noch ohne Grau, die grünen Augen noch nicht von Sorgenfalten überschattet und dem Mund fehlte auch noch der gefürchtete Faltenwurf. Gut, die Produkte, die sie sich regelmäßig ins Gesicht schmierte, kosteten auch ein kleines Vermögen, irgendwie musste sich das ja bemerkbar machen.

Vor längerer Zeit hatte Stefan einmal die Bemerkung fallen lassen, ihr Lächeln sei unbezahlbar – er hatte ja keine Ahnung, wie nah das der Realität kam.

Sie zog sich den schwarzen Haargummi von ihrem Pferdeschwanz und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare. Der halblange Pony fiel ihr in die Stirn und Make-up kaschierte die tiefen, dunklen Augenringe recht passabel. Grundgütiger. Eine Nacht ohne Schlaf und sie sah aus wie Draculas Schwester, wie hatte sie das denn früher gemacht? Nächtelang feiern, nach Hause, duschen, Kaffee oder je nach körperlichem Befinden eiskalte Cola und ab in die Uni. Dabei auszusehen wie das blühende Leben war auch möglich gewesen. Und nun? Thilos Frau Silvia hatte das an ihrem Vierzigsten recht treffend erkannt: Altwerden ist nichts für Weicheier. Sie hatte ja so Recht!

Mit viel Bedacht zog sie sich die Lippen mit kupferfarbigem Lippenstift nach und tupfte ein wenig Gloss darüber. Dann noch ein Hauch Rouge und etwas Puder, sah doch ganz nett aus. Für das Malheur unter den Augen wäre Camouflage eine gute Lösung, aber das befand sich nicht in ihrem Notfallset. Sie schnitt sich eine leicht genervte Grimasse, packte ihre Beauty-Utensilien wieder ein und machte sich auf den Weg zum Gate.

Ein Traummann zum Dessert

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