Читать книгу Wintergrauen - Gabriele Seewald - Страница 3
1. Der Senior
ОглавлениеHamilton, du altes Schwein. Dafür wirst du bezahlen! Er hatte schon einige solch widerlicher Drohbriefe erhalten, natürlich anonym. Aber er ahnte stark, vom wem sie stammten, obwohl es eine Reihe von Leuten gab, die Grund genug hatten, ihm die Pest an den Hals zu wünschen. Er hatte die Briefe gesammelt, als rechtliche Handhabe für seine Anwälte, die würden endlich aufräumen damit! Die Beweise waren jetzt vorerst sicher aufgehoben, bei jemandem, dem er zutiefst vertraute, dem einzigen Menschen. „Zum Teufel damit!“, fluchte Hamilton. Er musste sich endlich wieder auf seine Geschäfte konzentrieren. Er strich über sein silbergraues Haar, er trug es stoppelkurz, das machte weniger Aufwand. Bei ihm musste alles schnell gehen, für Firlefanz und Faxen hatte er keine Zeit. Eigentlich hieß er Thomas Jake, aber seine Frau und seine besten Freunde nannten ihn T.J. Für seine Angestellten war er der Hamilton Senior und sein Sohn der Juniorchef. Selbst heute im privaten Büro seiner Villa war er korrekt gekleidet, trug ein Oberhemd und einen Anzug, um keinem Schlendrian Vorschub zu leisten, die Jacke hing akkurat an der Garderobe. Niemals hätte er sich in seinem Trainingsanzug hier hinein gesetzt, um zu arbeiten. Der Fabrikant vertiefte sich in die aktuellen Verkaufszahlen. Wenige Tage vor Weihnachten sprengten sie wie üblich seine Konten. Von wirtschaftlichen Schwierigkeiten spürten die Hamilton-Werke wenig, ihre Weihnachtsartikel liefen ausgezeichnet. Zudem hatten sie neue Märkte erschlossen, zu den USA gesellte sich jetzt auch Japan. Sie konnten dieses Jahr kaum mit der Produktion nachkommen. Sie arbeiteten all die Monate nur für diese wenigen Wochen vor Weihnachten. Im nächsten Jahr wollte sich Hamilton nach neuen Produktionsstätten umsehen, auf dem Plan standen zwei weitere Betriebe in Asien. Wenige Wochen vor seinem fünfzigsten Geburtstag konnte sich der Selfmade Multimillionär dank unentwegter Arbeit und geschickter Verkaufsstrategien die Hände reiben. Wie üblich hatte er seine Marktstände auf den Weihnachtsmärkten in fünf Städten an den teuersten, aber besten Stellen postiert: Hamburg, Nürnberg, München und Berlin. Hier in Düsseldorf hielt seine Frau die Stellung. Seine Frau! Hamilton rümpfte die Nase. Leonore war ein dicker Wermutstropfen in seinem Leben, ebenso wie sein Sohn, der benahm sich für Hamiltons Geschmack neuerdings zu querulantisch. Und seine Tochter, die hatte Hamilton lange nicht gesehen. Aber nach Weihnachten wurde es Zeit, in der Familie für grundlegende Bereinigungen zu sorgen.
Es klingelte plötzlich, ärgerlich sah Hamilton auf. Er erwartete niemanden. Wer mochte bei diesem miesen Regenwetter vor der Tür stehen? Einer von den eifrigen Spendensammlern? Es klingelte zum zweiten Mal, langanhaltend und schrill. Hamilton hasste es, in seiner Arbeit gestört zu werden. Lästiges Volk, dachte er und eilte zur Haustür. Er sparte sich, durch den Spion zu gucken. Dem Störenfried wollte er die Meinung geigen. Das war doch eine Frechheit!
Er riss die Tür auf und blickte überrascht auf die Gestalt, die vor ihm stand. Sie trug einen knielangen roten Mantel mit weißem Fellsaum, und Knöpfen wie Schneeflöckchen. Ein silberweißer Bart reichte ihr bis zur Brust. Unter der roten Weihnachtsmütze runzelten sich weiße Watteaugenbrauen über einem strengen Röntgenblick. Der Weihnachtsmann!
T.J. Hamilton öffnete den Mund, dann grinste er. „Hohoho!“
Aber der Weihnachtsmann schwieg. Mit stechenden Augen musterte er sein Gegenüber.
„Gute Verkleidung, um Spenden zu sammeln!“, sagte Hamilton. „Oder wollen Sie mir was schenken? Wo hamm Sie denn Ihren Sack?“
Der Weihnachtsmann zog seinen Bart tiefer, bis unter das Kinn, damit Hamilton sein Gesicht erkennen konnte.
Hamilton durchzuckte es kurz. „Aber, das ist ...! Warum?“
„Warum?“, zischelte der Weihnachtsmann, hasserfüllte Wortfetzen folgten.
Blitzschnell glitten seine behandschuhten Finger in die Weiten seines roten Mantels. Und plötzlich schoss die Hand wieder hervor. Der Lauf einer Pistole grinste Hamilton an. Er hob abwehrend die Hände, sein Hirn signalisierte ihm: „Wegrennen!“
Aber seine Beine fühlten sich so schwer an wie Zementklötze. Millisekunden tropften zäh dahin.
Der Weihnachtsmann lächelte kalt und zielte auf Hamiltons Brust. Zwei Schüsse peitschten durch den Regen.
Hamilton griff sich an die Brust. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, fraß sich in sein weißes Oberhemd, schreiend rot, so rot wie die Zipfelmütze des Weihnachtsmannes.
Vor den hell erleuchteten Weihnachtshäuschen am Carsch-Haus herrschte reger Betrieb. Zwischen dicker Winterkleidung, wolligen Mützen und Schals stachen die Uniformierten heraus. Leonore Hamiltons dunkle Augen unter den perfekt gezupften Brauen fixierten die Handvoll Polizisten, die direkt auf sie zukamen. Ein breiter, blonder Mann in Zivil schälte sich aus dem Pulk. Er hielt ihr seinen Dienstausweis unter die Nase.
„Kripo Düsseldorf, Hauptkommissar Dieter Schwenk!“
Leonore Hamilton öffnete den Mund. Aber der Kommissar sprach direkt weiter. „Mordkommission. Leider müssen wir Ihnen eine traurige Nachricht überbringen. Ihr Ehemann ...“
Leonore schnappte hechelnd nach Luft, dann begann sie zu hampeln und haltlos zu schreien. Erst nach zwei Minuten verdrehte sie plötzlich die Augen und sackte zusammen. Ihre Angestellte konnte sie gerade noch auffangen.