Читать книгу Wintergrauen - Gabriele Seewald - Страница 6

4. Leonore

Оглавление

Einige Stunden später erreichte George Hamilton Düsseldorf. Der noble Stadtteil Wittlaer lag im Norden direkt am Rhein. Als George in der ruhigen Villenstraße ankam, starrte er verblüfft auf sein Elternhaus. Durch den Vordereingang konnte er nicht, dort suchten eifrige Kriminalbeamte nach Spuren. Stirnrunzelnd entdeckte George am Ende der Villenstraße einen Wagen mit Kameras. Die Journalistenmeute hatte sich schon gierig über den Mordfall hergemacht. Auch wenn sich die Hamiltons immer in der Öffentlichkeit im Hintergrund gehalten hatten, nie mit ihrem Reichtum geprotzt oder exzentrisch gelebt hatten, jetzt waren sie direkt im Blitzlicht. George parkte seinen BMW etwas abseits vom Haupteingang. Gerade als er ausstieg, begann es zu schneien. Er hatte auf der Autobahn Glück gehabt mit dem Wetter. Er hörte die Kripobeamten fluchen. „Sauerei! Der blöde Schnee verdeckt jetzt auch noch die letzten Spuren.“ George hastete durch den Gärtnereingang. Leonore winkte ihm aus dem Küchenfenster des Gästehauses zu. Er schloss auf. Leonore kam ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen. „Oh George, ich bin freiwillig umgezogen. Die Turbulenzen in unserer Villa waren mir zuviel. Die Kripo hätte mich sowieso bald rausgeschmissen. Ich bin denen nur im Weg.“ George nahm seine Mutter in die Arme. „Wie geht es dir?“ Leonore schniefte etwas. „Doktor Schatz hat mir sehr starke Beruhigungsmittel gegeben. Anders ist es kaum zu ertragen.“ „Ich hoffe, die Kripo hat dich beim Verhör nicht zu sehr gequält.“ „Sie waren sehr rücksichtsvoll. Andererseits, die Beamten wollen ja weiterkommen.“ „Zu dumm, dass ich in Nürnberg war.“ „Dein Vater hat dich selber hingeschickt. Es war sozusagen sein letzter Auftrag für dich. Aber nun bist du da. Die Kriminalbeamten werden auch dich befragen. Ich habe vor Aufregung ganz vergessen, mit dir darüber zu sprechen. Sie haben jede Minute von mir überprüft, die Bankangestellten konnten sich erinnern, als ich die Markteinnahmen einzahlte und der Kellner im spanischen Restaurant in der Schneider-Wibbel-Gasse. Ausgerechnet, als es geschah, da habe ich mir Austern schmecken lassen.“ Ein paar Tränen rollten aus ihren Augen. George wischte sie mit seinem Handrücken weg. „Das konntest du doch nicht wissen.“ „Ich habe gestern mehrmals im Werk in Nürnberg angerufen, um dir von dem schrecklichen Ereignis zu berichten. Aber du warst nicht da, auch nicht an deinem Handy. Erst am Abend warst du zu erreichen. Das hat mich beunruhigt.“ George kniff die Augen zusammen. „Was meinst du?“ „Die Kripo braucht nicht zu wissen, dass Nürnberg eine Strafexpedition für dich war. Und nichts von dem bösen Streit mit deinem Vater, weil du ein ganz neues Geschäftskonzept aufziehen willst. Ich habe nichts darüber gesagt.“ „Aber die Knuse war dabei“, grübelte George. „Sie hat gehört, wie Vater mir drohte, mich zu enterben. Dabei bin ich als Adoptivkind genauso erbberechtigt wie Rieke.“ „Kordula Knuse ist auf dem Christkindlesmarkt in Nürnberg!“, sagte Leonore. „Die Kripo will am Montag mit der Befragung in unserem Werk hier in Düsseldorf beginnen. Das dauert, bis sie zur Knuse kommen. Aber dich werden sie fragen, wo du zur Tatzeit warst. Zu dumm, dass du nicht im Werk warst, dann könnten es alle Mitarbeiter bezeugen. Der Kommissar ist sehr energisch und könnte auf komische Gedanken kommen.“ Georges Stirnadern traten leicht hervor. „Ich war in unserer Nürnberger Wohnung! Wenn ich gewusst hätte, dass ich ein Alibi mit Massenauflauf brauche, hätte ich mich nackt auf den Christkindlesmarkt gestellt und die Presse eingeladen.“ Leonore tätschelte sich mit den Fingerspitzen die Stirn. „Hat dich ein Nachbar gesehen? Oder der Postbote?“ „Ich war nicht alleine, Mutter.“ Leonore öffnete erstaunt die Lippen. „Etwa eine Frau?“ „Ja Mutter! Ich gehe auf die Dreißig zu. Da kommt so was schon mal vor.“ Leonore suchte nach den richtigen Worten. „Und sie kann dir, ähm, aushelfen?“ George seufzte schwer. „Aushelfen? Sie wird meine Zeugin sein. Sie war die letzten Nächte bei mir und tagsüber in der Wohnung, um für ihre Prüfungen zu lernen.“ „Und gestern?“ George wich aus, Leonore bemerkte seine Unsicherheit. „George, kannst du sie überreden? Wo steckt sie jetzt?“ „Sie ist noch in unserer Nürnberger Wohnung.“, erwiderte George. „Eine fremde Person?“ „Ich kenne sie seit einigen Monaten, sie ist bezaubernd.“ „Liebt sie dich?“ George lächelte in der Erinnerung. „Die Faszination ist beiderseits.“ Leonore verzerrte ihre Lippen. „Ist sie zuverlässig? Wenn sie deine einzige Zeugin sein wird, hat sie dich damit in der Hand. Sie könnte dich erpressen. Du wirst ihr das Blaue vom Himmel versprechen müssen, einen Brillantring mindestens.“ „Stimmt“, murmelte George. „Die Dame sollte schnellstens ins Präsidium, um ihre Aussage zu machen. Dann hast du es hinter dir.“ George nickte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie brenzlig und eilig die Lage war. Sein Plan, Liane wie einen Esel mit einer Mohrrübe zu locken, der sich die Belohnung verdienen muss, verlor an Fahrt. George legte die Stirn in Grübelfalten. Liane mochte zu den schwer zu erobernden Frauen gehören. Aber wenn diese erst Feuer fingen, für den Mann, den sie liebten, taten sie alles. Ein Klingeln unterbrach seine Überlegungen. George rechnete mit Kripobeamten. Er wappnete sich mit einer würdevollen Trauermiene, aber es war Dr. Frank Schatz. George war erleichtert. „Frank! Danke, dass du Mutter beigestanden hast.“ Dr. Frank Schatz legte beide Hände auf Georges Schultern. „Mein Beileid, George. Ich muss euch beide kurz sprechen.“

Dr. Schatz folgte George ins Wohnzimmer. Der Besucher blieb vor dem Terrassenfenster stehen und starrte in den parkähnlichen Garten. Seine Gestalt war hager, fast asketisch dürr, die eine ausgebeulte schwarze Deminhose und ein dunkelgrauer weiter Kaschmirpullover noch betonte. Der Psychiater trug gerne saloppe Kleidung, um vor Patienten und Studenten einen jugendlichen Eindruck zu schinden. Sein dünnes graues Haar trug er schulterlang, was ihm einen Philosophentouch gab.

Dr. Schatz blickte angestrengt auf die Villa nebenan, in der mit hellen Plastikanzügen vermummte Gestalten an den Fenstern herum pinselten oder den Boden im Garten untersuchten. Zwischen den herumwirbelnden Schneeflocken wirkten sie wie ein groteskes Astronautenballett auf einem fremden Planeten.

Dr. Schatz faltete die Hände im Rücken. „Die Kripo wird bald fertig sein. Sie wollen das ganze Gelände aber eine Weile überwachen.“

„Ich werde keinen Schritt mehr in unsere Villa tun“, sagte Leonore. „Ich bleibe im Gästehaus.“

Dr. Schatz drehte sich zu ihr um. „Wenn mich mein Beruf nicht riefe, würde ich als Bewachung hierbleiben. Aber ich muss heute einen Vortrag halten. Solange der Mörder frei herumläuft, mache ich mir ernsthafte Sorgen.“

„Frank, du gruselst uns!“, entfuhr es Leonore. „Muss ich jetzt unter Polizeischutz leben?“

„Die werden nur von der Straße aus kontrollieren. Es ist in eurem eigenen Interesse, wenn ihr selber für Schutz sorgt. Es weiß ja niemand, ob nur T.J. im Visier des Mörders war. Oder auch die Firma, oder vielleicht sogar die ganze Familie Hamilton.“

George kniff grübelnd die Augen zusammen. „Du meinst, wir sollten uns nicht zu sorglos geben?“

„Außer einer gewissen Pietät erwartet man von der Familie Hamilton ein hohes Interesse an der Aufklärung des Mordes. Und solange sie nicht weiß, wer dahinter steckt ...“

George legte die Stirn in Falten. „ ... Angst haben muss. Und es nach außen demonstrieren sollte.“

Dr. Schatz nickte. „Nur der Mörder kann sich sicher fühlen.“

George war klar, es war nicht nur zu ihrem eigenen Schutz, auch ein Ablenkungsmanöver. Niemand sollte jemanden aus der Familie verdächtigen, die Mordkommission erst recht nicht. Ein schrilles Klingeln unterbrach sie. George ging öffnen.

„Laetitia“, sagte er erleichtert.

„Mein Beileid, George. Welch ein entsetzlicher Schicksalsschlag. Ihre Mutter sagte am Telefon, Sie wohnen jetzt im Gästehaus.“

„Kommen Sie rein.“ George nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe.

Laetitia folgte ihm ins Wohnzimmer. George stellte vor. „Doktor Frank Schatz. Frank, du kennst meine Sekretärin noch nicht. Das ist Frau Laetitia Cajani.“

Dr. Schatz erinnerte sich gut an ihre zufällige Begegnung vor einigen Wochen. Die hatte ihn verwundert, aber er verkniff sich eine Bemerkung. Schon da war ihm aufgefallen, die Frau war atemberaubend, eine Verheißung. Üppige Formen, die ihr zimtbraunes Kostüm nur mühselig verbargen. Tiefschwarzes Haar umrahmte ihr apart herbes Gesicht mit den vollen Lippen und den intensiv blauen Augen. Ein betörender, schwerer Duft umschwebte sie, mindestens Opium.

Laetitia reichte Leonore die Hand. „Mein Beileid, Frau Hamilton. Ich wollte kurz nach Ihnen sehen. Wenn ich helfen kann?“

Leonore schüttelte den Kopf. „Dass Sie am Wochenende und bei dem Schnee noch zu uns herauskommen.“

„Mein Mann Antonio und ich sind von der grausamen Nachricht geschockt. In der Firma wird es viel Gerede geben.“

George blickte seine Sekretärin ernst an. „Am Montag will die Kripo in unserer Firma Befragungen durchführen. Bringen Sie die Kripoleute im Konferenzraum unter und verköstigen sie die Beamten gut. Mit Sicherheit wollen die Vaters Büro inspizieren. Wir haben ja nichts zu verbergen. Beruhigen Sie die Kunden und jeden der anruft.“

Laetitia nickte. „Vor allem werde ich die Journalisten abwimmeln. Das Weihnachtsgeschäft muss unbehelligt weitergehen.“ Ihr Blick schweifte zur Fensterfront. „Hier ist aber eine Menge los.“

George blickte zur hell erleuchteten Villa. „Kriminalbeamte mit ihren Spurensuchern. Sie stellen alles auf den Kopf.“

Laetitia lächelte vage. „Dann sind Sie ja gut behütet.“

Leonore schüttelte sich. „Doktor Schatz meint, wir sollten uns um privaten Personenschutz kümmern.“

Laetitia reagierte schnell. „Eigene Bodyguards? Wir hatten letzten Sommer doch die Detektive im Betrieb. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf.“

Sie trank mit den Hamiltons eine Tasse Tee, dann ließ sie einen Zettel zurück. George brachte sie zur Haustür. Er drückte ihre Hände. „Vielen Dank, Laetitia. Vertreten Sie mich in der Firma so zuverlässig wie immer.“

George blieb in der Eingangshalle stehen. Er holte sein Handy aus der Jackentasche und drückte die Rufwahl.

„Chéri“, hörte er Lianes Stimme.

„Liebling.“ George legte schmachtende Sehnsucht in seine Stimme. „Ich vermisse dich. Übrigens, kannst du auf dem Polizeipräsidium bestätigen, dass wir gestern zusammen waren? Wann kannst du hier sein?“

„Oh, meine Wagen, die springt nischt mehr an. Isch muss kommen mit die Zug. So schnell wie möglisch isch dir helfen. Oh, meine arme Chéri.“

„Ruf mich an, Liebling. Ich hole dich vom Bahnhof ab.“

George steckte sein Handy wieder ein. Dr. Schatz hastete an ihm vorbei. „Ich muss zum Vortrag. Tschö, bis später.“

Leonore griff nach Laetitias Zettel vom Sekretär. „Die Adresse, Detektei Julius Norden. Doktor Frank Schatz ist sehr besorgt um mich.“

Kein Wunder, dachte George, gerade jetzt, wo du eine reiche Witwe bist.

Leonore wedelte mit dem Zettel vor Georges Nase herum. „Franks Idee mit dem Personenschutz ist genial!“

„Solange die Bodyguards nicht in deinem Bett schlafen!“, erwiderte George. Aber da wird wohl demnächst Dr. Schatz drin liegen, schätzte er. Seine Miene wirkte verdrießlich.

Leonore bemerkte seine Verstimmung und bemühte sich um Schadensbegrenzung. „Bald sind die Weihnachtsmärkte für dieses Jahr beendet. Da dein Vater nun tot ist, sollten wir auf deine exzellente Geschäftsidee überwechseln. Ich bin all die Weihnachtsmänner so leid.“

Wintergrauen

Подняться наверх