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Drei Jahre zuvor

Teneriffa, Flughafen Reina Sofia, Juni 1985

Es war früher Nachmittag, als ich vor etwas über drei Jahren nach meiner Abreise aus Deutschland auf Teneriffa gelandet war. Jaimes letzte Nachricht am Telefon hatte gelautet, dass er seinen Chefchoreografen Carlos schicken würde, um mich abzuholen. Er beschrieb ihn mir kurz, und schon da war ich mir sehr sicher, dass ich ihn erkennen würde.

So war es dann auch. Kaum verließ ich den Zollbereich und hatte meinen Gepäckwagen, der natürlich in eine komplett andere Richtung wollte als ich, mit Müh und Not hinaus ins Getümmel bugsiert, hielt ich nach Carlos Ausschau. Er war nicht schwer zu erkennen. In einem ärmellosen Jeanshemd und einer kunstvoll zerrissenen, ausgebleichten Jeans sowie dunkelbraunen Cowboystiefeln stand er, die Hände tief in den Hosentaschen versenkt, mit mürrischer Miene an eine Säule gelehnt. Er ließ den Blick aus dunklen Augen gelangweilt über die ankommenden Fluggäste schweifen. Sonderlich begeistert von seinem Auftrag, mich hier aufzusammeln, schien er nicht zu sein. Was mich spontan für ihn einnahm, war die Tatsache, dass an seinem rechten Arm annähernd so viele Armbänder und -reifen baumelten wie an meinem. Ich musste ihn wohl angestarrt haben, denn plötzlich blieb sein Blick an mir hängen. Er musterte mich kurz mit ernster Miene, dann erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. Er stieß sich von der Säule ab, nahm die Hände aus den Taschen und kam langsam auf mich zu.

»Caroline? Caroline Montrose?«

O Mann, was für eine Samtstimme.

Ich war mir der Funktionstüchtigkeit meiner Sprachwerkzeuge nicht ganz sicher und beließ es bei einem freundlichen Nicken.

Er sah auf den Gepäckwagen, dessen Griff ich haltsuchend umklammerte. »Ist das dein ganzes Gepäck?«

Ich räusperte mich umständlich, um mit viel zu hoher Stimme zu antworten. »Ja, das reicht doch eigentlich auch, oder?«

Er lächelte vielsagend. »Bei euch Frauen weiß man das nie. Hattest du einen guten Flug? War alles in Ordnung?«

Wieder nickte ich. »Alles super, danke. Der Kaffee hat beschissen geschmeckt, aber sonst war alles gut.«

Das Lächeln vertiefte sich einige Nuancen. Eigentlich sah das sehr schön aus, doch leider hatte es auf mich den Effekt, dass sich meine Gesichtsfarbe von Schottisch-dezent-Kalkweiß zu Venezianisch-Rot wandelte - ich spürte es genau. Carlos schien es nicht zu bemerken. Er zeigte auf den Gepäckwagen und schmunzelte. »Na komm, ich fahr ihn raus. Lass uns hier verschwinden.«

Ich fand das eine prima Idee, ehe ich mich noch komplett zum Affen machte. Also ließ ich ihm den Vortritt, umklammerte statt des Griffs die Träger meiner Umhängetasche und trottete hinter ihm her, während er zielsicher und problemlos den Wagen durch die Menschenmenge manövrierte. Nur langsam begann ich meine Umgebung wieder wahrzunehmen, und dazu gehörten auch die zahllosen neidvollen Blicke, die mich verfolgten, als ich hinter Carlos hertrabte. Ich konnte die Gedanken diverser Exemplare holder Weiblichkeit regelrecht auf deren Mienen ablesen: Was will denn der spanische Halbgott mit diesem unscheinbaren, nichtssagenden Wesen?

Schließlich siegte mein – wenn auch kleines – Ego, ich straffte meine Schultern und setzte meine »Dumm-gelaufen-für-dich«-Miene auf.

Carlos steuerte auf eine Tür zu und wir verließen das Flughafengebäude. Sofort umfing mich ein Gemisch aus Wärme und salziger Luft, dazu der typische Geruch der Coronas und die Geräuschkulisse, die ich so liebte. Gleich fühlte ich mich besser. Carlos hielt auf einen offenen Jeep Wrangler zu, an dessen Türen das Logo des Costa Azul prangte.

»Wow, ihr habt neue Autos?«

Carlos nickte mit strahlendem Lächeln. »Ja, cool, nicht wahr?«

Er verstaute mein Gepäck und ich brachte den Gepäckwagen zur Sammelstelle. Kaum war der abgestellt, hupte es bereits neben mir und ich glitt, schon wieder leicht errötend, auf den Beifahrersitz. Wenige Minuten später erreichten wir die Autobahn in Richtung Norden. Carlos kramte schweigend im Handschuhfach, schob schließlich eine Kassette in den Rekorder und wir bretterten zu Creedence Clearwater Revivals Who’ll stop the rain über den Highway. Rechts neben uns donnerte der Atlantik an die Küste und zu allen Seiten erhoben sich in unterschiedlichsten Formationen die sandfarbenen Felsen, die so typisch für den Süden der Insel waren.

Nach etwa fünfundvierzig Minuten verließen wir die Autobahn und bogen ab auf die Straße nach Puerto de la Cruz, die am alten Flughafen Los Rodeos vorbeiführte. Als wir die Bergkuppe erreichten, hinter der man zum ersten Mal den grünen Norden der Insel sehen konnte, bremste Carlos ab. Zu den Klängen von CCRs Lodi fuhren wir langsam auf eine kleine Ausbuchtung am Rand der Straße zu und ich genoss den Ausblick, der sich mir bot. Üppige, dunkelgrüne Bananenplantagen säumten rechterhand die Straße, während sich vor uns eine hügelige Ebene in allen erdenklichen Grüntönen ausbreitete, gesprenkelt mit farbenprächtigen Blumen, Büschen und verteilt liegenden, kleinen weißen Häusern. Rechts sah man den Atlantik, der in unterschiedlichsten Blautönen glänzte und glitzerte. Weiße Schaumkronen tanzten auf den Wellen, während sich im Norden das eindrucksvolle Bergmassiv des Pico del Teide auftürmte. Ich spürte, dass Carlos mich offenbar sehr interessiert musterte. Dann erklang seine Stimme, in der eindeutig ein Lächeln mitschwang. »Ah, jetzt.«

Ich brauchte eine Weile, ehe ich begriff, dass das mir gegolten hatte.

»Wie, jetzt

Er lächelte, streckte eine Hand aus und strich mir eine Haarsträhne hinter mein Ohr.

»Jetzt bist du angekommen. Willkommen zuhause, Caroline.«

»Cara, einfach nur Cara.« Die Bemerkung war mir entschlüpft, ehe ich mir der Zweideutigkeit bewusst wurde. Cara hieß auf Spanisch ja nun einmal meine Liebe.

Sein Lächeln war eine Unverschämtheit. »Das auch, sehr gerne sogar.«

Ich zog eine – hoffentlich – tadelnde Grimasse. »Nicht das Cara. Mich nennt eben jeder nur Cara, nicht Caroline.«

»Was habe ich denn deiner Meinung nach gerade gedacht?«

Seufzend war ich tiefer in meinen Sitz gerutscht. »Ich sag jetzt gar nichts mehr, ehe ich mich um Kopf und Kragen rede.«

Er lag schon richtig. Ich war zuhause.

Der Empfang im Costa Azul, etwas außerhalb von Puerto de la Cruz direkt an den Klippen gelegen, war sehr herzlich. Jaime begleitete mich in den Proberaum des Teams, wo bereits alle mit neugierigen Blicken auf uns warteten. Hier sah ich die meisten von ihnen zum ersten Mal.

Ich kannte nur Fernando von meinem letzten, noch privaten, Aufenthalt. Wie ich erfuhr, war Carlos seinerzeit noch im Süden der Insel gewesen, um die Crew in Playa de las Americas auf Vordermann zu bringen. Schade eigentlich. Jaime stellte mich als neues Crewmitglied vor und ich wurde sofort zehn Zentimeter kleiner. Die Mädchen waren bildhübsch und warteten mit tollen Figuren auf. Die Jungs sahen fast alle aus wie aus einem Modemagazin, groß, muskulös und verflixt attraktiv. Ich lernte Andy kennen, der sich als technisches Mädchen für alles vorstellte und mich ein wenig an Sweet-Sänger Brian Connolly erinnerte. Mit Oliver, dem Poolguard aus Frankreich, und José, dem Rettungsschwimmer, ging es weiter. Irgendwann surrte mir der Kopf und ich hatte die Hälfte aller Namen wieder vergessen.

Silvie, die bis dahin Alleinregentin über ein geräumiges Studio gewesen war, bekam mich kurzerhand als Mitbewohnerin zugeteilt.

Ich hatte in diesem Moment vor allem eines: Angst.

Wie sollte ich mit diesen durchtrainierten und eleganten Wesen mithalten können? Ich stolperte ja schon bei normalem Discofox über meine eigenen Füße. Langsam beschlich mich die Furcht, ich könnte diese Aktion doch ein wenig unterschätzt haben. Mist! Kaum wagte ich den ersten Schritt in eine selbstbestimmte Zukunft, zack, schon steckte ich im Schlamassel.

Als hätte Jaime meine Gedanken gelesen, wandte er sich mir nach der Vorstellungsrunde zu. »Caroline, du bist nicht nur neu, du kennst auch die aktuelle Show nicht. Ich denke, es ist das Beste, wenn Carlos dich so schnell wie möglich unter seine Fittiche nimmt und mit dir trainiert.«

Ich wurde noch kleiner. Super! Nun musste der Arme schon wieder für mich Kindermädchen spielen. Leider war Jaime aber noch nicht fertig. »Carlos ist Perfektionist. Der hat dich sehr schnell da, wo du sein musst, um in der Show mitmachen zu können.«

Perfektionist? O Gott, das wurde ja immer schlimmer. Ich kam nicht dazu, weiter über meine Situation nachzugrübeln. Carlos warf einen Blick auf die über dem Eingang hängende Uhr.

»Na dann, liebe Cara. Lass uns keine Zeit vergeuden. Wir sehen uns in einer halben Stunde hier. Turnschuhe und bequeme Sportkleidung hast du dabei?« Ich nickte zaghaft. Zu einer Antwort sah ich mich nicht in der Lage. Ich würde mich bis auf die Knochen blamieren, so viel war sicher.

Silvie, die von meinen wirren Überlegungen nichts mitbekam, ergriff meine Hand und zog mich mit sich. »Komm, ich zeig dir dein zukünftiges Zuhause. Dann kannst du dich auch gleich umziehen.«

Okay, hier wurde nicht lange gefackelt.

Eine gute halbe Stunde später stand ich in weißem Shirt, rosa Jogginghose und meinen Sportschuhen vor dem Proberaum. Von drinnen erklang bereits laute Musik. In diesem Augenblick allerdings übertönte mein wummernder Herzschlag alles andere, zumindest für meine Ohren. Auf mein Klopfen reagierte niemand, also trat ich ein.

Carlos tanzte in engem Shirt, Jeans und barfuß zu einem spanischen Lied durch den Raum. Das sah so leicht, so elegant und gekonnt aus, dass ich am liebsten sofort umgekehrt wäre.

Dummerweise erblickte er mich sofort. »Gut, da bist du ja. Dann können wir gleich anfangen. Hattest du schon einmal Tanzunterricht?«

Ja, den hatte ich gehabt. Ganze drei Stunden, bis ich die Frotzeleien der anderen nicht mehr ertragen konnte und die letzten sieben Stunden schwänzte.

»Nicht so richtig.« Ich knetete meine Hände und wich seinem fragenden Blick so gut wie möglich aus. »Ich bin nicht so die Ginger Rogers. Mir mangelt es an Grazie.«

Er schwieg eine gefühlte Ewigkeit. »Sag mal, kann es sein, dass du dir nicht allzu viel zutraust?«

»Erfahrungswerte«, brummelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart.

»Das lass bitte mich beurteilen. Du willst bei uns mitmachen? Dann musst du zeigen, was in dir steckt.«

Genau da lag mein Problem. »Tänzerisch ist das wohl nicht so viel.«

»Wir werden sehen.« Er ging zu der Stereoanlage, aus deren Boxen noch immer spanische Klänge ertönten. Sein Blick glitt über einen Stapel mit Schallplatten. »Ah, da ist es. Du stellst dich neben mich und tust exakt das, was ich tue, okay?«

Ich mochte seinen Optimismus.

Carlos legte eine alte Nummer von Elvis auf und stellte sich in Position.

»Komm, es geht los.«

Und ich musste tanzen. Nein, nicht frei durch den Raum schweben oder so. Ich musste Schritte lernen, immer und immer wieder. Aus Minuten wurden Stunden, aus Stunden Tage.

Nach drei Tagen war ich körperlich und nervlich am Ende. Zwar begannen meine Füße langsam damit, das zu tun, was von ihnen erwartet wurde, nur drohte nach den Anstrengungen mein Körper zu versagen. An diesem Nachmittag hatte Carlos mich bereits vier Stunden durch den Raum gehetzt. Inzwischen kannte ich jede Bodendiele. Nicht vom Tanzen, vom Hinfallen! Meine Füße taten so weh, dass mir übel war. Trotzdem kam es mir nicht in den Sinn, mich zu beklagen. Schließlich hatte ich es so gewollt.

Nach einer weiteren halben Stunde Bee Gees knickten meine Knie ein, einfach so. Ich schaffte es nicht mehr, mich aufzurichten. Mein ganzer Körper bestand nur noch aus Schmerzen. Die Tränen liefen mir in Strömen über die Wangen und ich verbarg mein Gesicht in den Händen.

Die Musik verstummte und rasche Schritte näherten sich mir.

»Cara! Nimm die Hände weg, bitte!«

»Nein. Ich schäme mich so.«

Sanft legten sich seine Finger über die meinen. »Wieso solltest du dich schämen? Du arbeitest wie eine Wahnsinnige, du tust dein Möglichstes, und das ist bewundernswert. Komm, steh auf, ich helfe dir.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Es tut so weh.«

»Was tut weh?« Carlos‹ Stimme klang besorgt.

»Meine Füße. Und meine Beine auch, ich kann sie nicht mehr bewegen.«

Carlos half mir, mich zu setzen. Dann zog er mir vorsichtig meine Turnschuhe und Socken aus. »Mein Gott, Cara, warum sagst du denn nichts? Das müssen ja tierische Schmerzen sein. Ich helfe dir, warte.« Er stand auf und verschwand.

Langsam ließ ich meine Hände sinken und riskierte einen Blick auf meine Füße. Die Zehen waren dunkel von verkrustetem Blut und an beiden Fersen prangten dicke Blutblasen. Oha, das sah ja noch schlimmer aus, als ich erwartet hatte.

Carlos kam im Laufschritt auf mich zu, einen Verbandskasten in den Händen. Er verarztete gekonnt meine malträtierten Füße. Dann setzte er sich neben mich, zog ein sauberes Taschentuch aus der Hose und beugte sich zu mir. »Sieh mich an.«

»Das willst du nicht sehen.«

»Überlass mir, was ich sehen will.« Unbeeindruckt von meiner Gegenwehr hob er meinen Kopf an. »Cara, ich will doch nur, dass du endlich erkennst, was wirklich in dir steckt. Los, putz dir die Nase und dann hab ich eine Überraschung für dich.«

»Mag nicht.« Ich biss mir auf die Zunge. War ich jetzt vollkommen verblödet?

Ihn störte das offenbar nicht. Ohne viel Federlesen hielt er mir das Tuch an die Nase. »Nun mach schon.«

Da ließ ich mir von einem Mann, den ich bis vor vier Tagen noch nicht einmal gekannt hatte, die Nase putzen. Ich musste übergeschnappt sein. Lange grübeln konnte ich nicht. Carlos stand auf und nahm mich kurzerhand auf die Arme.

»Sekunde, du willst mich doch jetzt nicht tragen, oder?« Ich musterte ihn vollkommen entgeistert.

»Das siehst du doch.«

Er trug mich durch den Seiteneingang des Proberaumes hinaus zu den Jeeps, öffnete mit einem Fuß gekonnt eine Beifahrertür und setzte mich auf dem Sitz ab. »Ich zeig dir was, das dir sicherlich gefallen wird.«

Ich machte mich so klein wie irgend möglich. Die ganze Sache war mir unfassbar unangenehm und ich argwöhnte schon, dass dies eine Art Abschied werden sollte.

Weit gefehlt. Carlos fuhr mit mir zu einem abgelegenen Strand, an dem nur ein paar Canarios in die gewaltigen Brecher sprangen.

»Ich geh aber nicht schwimmen, das sag ich dir gleich. Es sei denn, du willst mich ertränken, was ich durchaus verstehen könnte. Dann wäre dein Problem gelöst und du hättest mich von der Backe.«

Er schüttelte nur leicht den Kopf und sah mich vorwurfsvoll an. »Was denkst du eigentlich von mir. Ist das der Eindruck, den du von mir hast?« Carlos setzte sich auf eine der strandnahen Klippen und zog mich auf seinen Schoß. »Ich zeige dir heute den schönsten Sonnenuntergang der Insel, den hast du dir wahrlich verdient.«

Und tatsächlich versank wenige Minuten später die Sonne hinter den Bergen und tauchte den schwarzen Strand in ein rotgoldenes Licht. Es war traumhaft schön. So schön, dass ich um ein Haar vergaß, dass ich auf Carlos‹ Schoß saß, ungeschminkt und wahrscheinlich noch immer etwas verheult.

»Gefällt es dir? »

Ich nickte leicht und fand endlich meine Stimme wieder. »Ja, sehr schön, vielen Dank.«

»Warte kurz hier. Nicht weglaufen.«

»Sehr witzig. Aber nein, es ist viel zu toll. Wo willst du hin?« Er blieb mir die Antwort schuldig.

Carlos holte von einer kleinen Bodega Tapas, Orangensaft und ein paar der leckeren spanischen Vanillekekse.

Während wir schweigend aßen, musterte er mich fortwährend. Ich wagte nicht, den Mund aufzumachen. Ich wollte weder diese spezielle Stimmung zerstören noch das hören, von dem ich fürchtete, dass er es sagen könnte. Nämlich, dass ich meine Koffer packen sollte und zurück nach Deutschland fliegen. Endlich begann er zu reden.

»Cara, du musst lernen, an dich zu glauben. Denn das tust du nicht. Die wahre Cara versteckt sich hinter Sarkasmus und Scherzen auf deine eigenen Kosten. Hör auf damit. Das hast du nicht nötig. In den letzten Tagen hast du enorme Fortschritte gemacht. Ich werde ab heute ein Auge auf dich haben.« Ich hörte ein leises Glucksen. »In jeder Beziehung.«

Carlos hielt mir seine Saftflasche entgegen. »Na komm, einen Toast auf eine Freundschaft, von der ich mir sicher bin, dass sie eine ganz besondere wird. »

Den nächsten Tag durfte ich mich vom Training ausruhen und wurde dafür von Silvie und Jaime mit Beschlag belegt. Jaime arbeitete mich in den organisatorischen Ablauf ein, Silvie zeigte mir, wie die Pläne für die Animation aufgestellt wurden. Ich gab mir große Mühe und tatsächlich behielt ich nicht nur alles, ich schaffte es auch, mit Silvies Hilfe den Plan für die nächste Woche zusammenzustellen.

Kaum war ich fertig, entführte Silvie mich zur Kinderbetreuung. »Auch das musst du im Notfall können. Wenn eine der Kinderanimateurinnen krank ist, müssen wir einspringen.« Silvie verzog gequält den Mund. »Du wirst eines schnell lernen: Wer nervt, sind nie die Kinder, es sind fast immer die Eltern. Mit den Knirpsen kommt man gut zurecht.«

Hier traf ich die Italienerin Roberta sowie Lise, die aus Holland kam, zum ersten Mal, da sie mit den Kindern am Strand gewesen waren, als ich mich dem Team vorgestellt hatte. Beide Frauen erwiesen sich als ausgesprochen sympathisch und liebten ihren Job.

»Kinder sind einfach klasse, die Erwachsenen sind eher nicht so mein Ding.«

Schon nach den wenigen Tagen im Club wusste ich genau, wovon Roberta sprach.

An diesem Abend half ich zum ersten Mal an der Rezeption des Costa Azul aus, da ich für die Show noch untauglich war. Silvio freute sich über die Unterstützung, noch dazu, da für den nächsten Tag eine sehr große Gruppe erwartet wurde und noch viel vorbereitet werden musste. Wir arbeiteten fröhlich plaudernd vor uns hin, bis langsam das Ende in Sicht kam. Ich füllte den letzten Gästebogen aus und legte ihn samt Schlüssel in das passende Fach. Mein Blick fiel auf die Uhr im Rezeptionsbereich. »Schon so spät. Ob ich es noch schaffe, einen Teil der Show zu sehen? Heute hat Carlos doch seinen großen Auftritt in der Flamencotruppe.«

»Aha, Carlos.« Silvio verdrehte theatralisch die Augen.

Ich verstand nicht ganz. »Was genau meinst du mit: Aha, Carlos?«

Silvio zupfte nervös an seiner blauen Clubkrawatte herum. »Na ja, nichts Bestimmtes. War nur so klar, dass du auch sofort auf ihn abfährst.«

Aber sonst ging es ihm gut? Ich holte tief Luft. »Moment mal. Ich fahr hier auf niemanden ab, auch nicht auf Carlos. Wie kommst du denn bitte auf die schräge Idee?«

Schulterzuckend lehnte er sich an den Tresen. »Das bietet sich doch an. Er sieht ja auch wirklich gut aus, das muss ich ihm lassen. Abgesehen davon ist er ein hervorragender Tänzer und seinen Job macht er auch prima. Seit er hier ist, sind die Shows der Hammer.«

Ich versuchte mich an einem gelangweilten Blick. »Ich weiß noch immer nicht, worauf du letztendlich hinauswillst.«

Silvio seufzte herzerweichend. »Caroline, bitte, du bist ein kluger Kopf und weißt sehr gut, was ich meine. Jede Frau auf diesem Gelände, ob Angestellte oder Gast, fällt jedes Mal beinahe in Ohnmacht, wenn Carlos am Horizont auftaucht. Ich denke einfach, du solltest wissen, dass er alles poppt, was nicht bei Drei auf der nächsten Palme ist. Der Kerl ist nichts für eine Beziehung. Ich will nur nicht, dass du nachher sagst, niemand hätte dich vor ihm gewarnt.«

Gut, hier musste ich dringend für klare Verhältnisse sorgen. »Silvio, ich habe nicht im Geringsten das Bedürfnis, mich in eine wie auch immer geartete Beziehung zu stürzen, okay? Ich habe wirklich genug mit mir selbst zu tun. Das was ich hier tue, das will ich gut machen. Falsch! Das muss ich gut machen, das bin ich mir schuldig. Ich bin Carlos einfach nur dankbar, dass er so geduldig mit mir arbeitet und mir dabei hilft, voranzukommen. Du musst wissen, ich bin eine bekennende Bewegungs-Legasthenikerin. Wer denkt, aus mir eine Tänzerin zu machen, der muss schon sehr viel Vertrauen haben.«

Ich wandte mich zu einem Ehepaar um, das an den Tresen kam, um seinen Schlüssel abzuholen. Es bekam den Schlüssel und ein paar Tipps für Ausflüge in die Berge samt kanarischen Lokalen. Als die zwei sich verabschiedeten, nickte Silvio mir zu.

»Das machts du ziemlich professionell.«

Ich nickte erleichtert. »Für irgendwas muss meine Ausbildung ja gut gewesen sein.«

An diesem Abend schlenderte ich sehr nachdenklich zurück zu unserem Studio. Auf dem Weg vernahm ich die Klänge einer Gitarre und blieb stehen. Ich warf einem Blick auf meine Armbanduhr. Kurz vor Mitternacht. Lief die Show etwa doch noch? Neugierig spähte ich um die Ecke des gemauerten Amphitheaters des Clubs. Nein, das war nicht mehr die Show. Die Gäste waren weg, nur ein Großteil der Crew saß auf den blauen Holzbänken und blickte gebannt auf die Bühne.

Ich konnte nicht genau erkennen, was dort geschah, und da ich mir nicht sicher war, ob ich stören würde, wandte ich mich wieder ab.

»Cara, hey, Cara! Komm her!«

Überrascht drehte ich mich wieder um. Fernando winkte mir zu und rückte demonstrativ ein Stück zur Seite. Erfreut huschte ich zu ihm und setzte mich neben ihn. Nun konnte ich auch erkennen, was meine Kolleginnen und Kollegen so begeisterte.

Carlos!

Nur mit einer schwarzen, engen Hose bekleidet, tanzte er zum Spiel des Flamencogitarristen eine Sevillana. Er tat es voller Anmut, mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze und einer gehörigen Portion Sexappeal. Seine langen Haare fielen ihm ins Gesicht und man sah die dunklen Augen zwischen den Strähnen blitzen. Langsam wurde mir klar, wovor Silvio mich warnen wollte. Verdammt, war der Kerl anziehend.

Der Nacht wurde noch lang und schön. Der Barkeeper, der eigentlich schon aufräumte, mixte für die anderen Mädels und mich eine leichte Lumumba mit Sahne und Schokostreuseln. Fernando gab seine Anekdoten vom Strand zum Besten, und als Carlos sich umgezogen hatte, gesellte er sich zu uns.

Silvie stupste mich irgendwann fragend an. »Na, was meinst du, kannst du es mit uns allen eine Weile aushalten?«

Ich nickte so heftig, dass meine langen Ohrringe gegen meine Wangen klatschten. »O ja, und ich denke nicht nur eine Weile.«

Roberta schmunzelte, nahm ihr Glas und meinte: »Das trifft sich gut. Wir haben nämlich beschlossen, dich nicht mehr herzugeben.«

Carlos erhob sich von seinem Sitzplatz, kam langsam auf mich zu, legte einen Zeigefinger unter mein Kinn und hob es leicht an. »Da hörst du es. Du kommst hier nicht mehr weg.« Dann spürte ich einen Kuss auf meinen Haaren und weg war er.

Ich war im Himmel gelandet.

Das Leben im Himmel war anstrengend, und zwar verdammt anstrengend. Es kostete mich noch einmal vier Wochen, Unmengen an Pflaster für meine Füße und viele, viele Tränen. Nicht nur einmal wollte ich alles hinwerfen und aufgeben. Das aber ließ Carlos nicht zu.

»Vergiss das sehr schnell. Was du begonnen hast, das bringst du zu Ende. Hier wird auf gar keinen Fall gekniffen. Feigheit steht dir nicht, weißt du?«

Und so machte ich weiter. Ich trainierte täglich, absolvierte meine Schichten in den diversen Einsatzgebieten und lernte von Roberta Badminton. Hier stellten sich die Erfolgserlebnisse schneller ein als beim Tanzen. Schon nach einem Monat wurde ich für die Badminton-Stunden mit den Gästen eingeteilt. Ein Lichtblick am Horizont!

Während ich mir einredete, dass ich niemals als Teil der großen Abendshow auf der Bühne stehen würde, zumindest bei den Tänzen, sah Carlos das ganz anders. Es waren weitere sechs Wochen ins Land gegangen, als er eines Nachmittags nach zwei Stunden hartem Training die Musik abstellte und mich musterte. »Ich denke, es ist so weit.«

Ich schluckte. »Was ist so weit? Du machst mir Angst, Carlos.«

»Ich möchte, dass du am Wochenende bei der großen Show dabei bist.«

Ich erschrak. »Ich bin noch nicht bereit dafür. Ganz sicher nicht.«

Er nickte. »O doch, das bist du. Du tanzt die beiden Nummern, die wir in den letzten Tagen einstudiert haben.«

»Grease und Footloose? Das schaffe ich niemals.« Ich war entsetzt und verunsichert.

Carlos seufzte laut. »Hörst du sofort damit auf, alles was du tust, alles was du kannst, infrage zu stellen? Muss ich wirklich ärgerlich werden, ehe du endlich aus deinem Schneckenhaus kommst? Du stellst dich am Samstagabend auf die Bühne, keine Widerrede. Ich will nichts mehr hören.«

»Ich bin zu groß und zu dick. Ich pass nicht in die Kostüme. Mit was soll ich denn tanzen?«

»Himmel, Cara! Wenn du so weitermachst, schicke ich dich im Taucheranzug auf die Bühne. Ernsthaft. Manchmal weiß ich bei dir tatsächlich nicht weiter.« Er sah auf die Uhr. »Okay, wir haben etwas Zeit. Geh duschen und zieh dich um. Ich hol dich in einer halben Stunde bei euch im Studio ab.«

Er schob mich kurzerhand aus dem Proberaum und ich trottete wie ein begossener Pudel zu Silvie.

In Windeseile verwandelte ich mich wieder in ein menschliches Wesen und half Silvie, während ich wartete, unsere Behausung auf Vordermann zu bringen. Silvie war für ihre Verhältnisse ungewöhnlich schweigsam.

Sie machte mich neugierig. »Ist etwas passiert? Du bist doch sonst nicht so ruhig?«

Sie pflückte zwei Shirts vom Sofa und warf sie in den Wäschekorb. »Hm, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es ist schwer in Worte zu fassen. Weißt du, wir alle mögen Carlos sehr, er ist ein wunderbarer Kerl, aber wir kennen auch die andere Seite.«

Ah, da lag der Hase im Pfeffer. »Du meinst die Seite, die teilweise zwei Touristinnen gleichzeitig den Urlaub versüßt?«

Sichtlich überrascht wandte sie sich mir zu. »Du weißt es ja doch.«

Ich schüttelte nachsichtig den Kopf. »Natürlich. Was denkst du denn? Ich müsste ja blind sein.«

»Ähm, ja dann. Denkst du, du kannst ihn …« Silvie stockte. Das Gespräch war ihr eindeutig unangenehm. »Also, ich meine, glaubst du, dass du ihn ändern kannst?«

»Nein, warum sollte ich. Er ist perfekt, so wie er ist.«

Ein ungläubiger Ausdruck schlich sich auf ihr Gesicht. »Bedeutet das, dass du gar keine Beziehung mit ihm willst?«

Ich schnaubte leise. »Jetzt hast du es erfasst. Nein, will ich nicht. Die Freundschaft, die sich zwischen uns entwickelt, ist einfach nur schön. Mehr will ich nicht. Das habe ich Silvio auch schon gesagt.«

Silvie prustete lauthals los. »War ja klar, dass der dich vor ihm warnt. Nur weil er niemanden abbekommt, spielt er das Gewissen für uns alle. Roberta hat er auch schon vor Fernando gewarnt. Aber im Ernst, ich bin erleichtert. Ich habe wirklich Angst gehabt, du könntest verletzt werden.«

»Da besteht keine Gefahr, versprochen.«

Im selben Moment klopfte es an unserer Tür, und ohne ein »Herein« abzuwarten, steckte Carlos seinen Kopf ins Zimmer.

»Hey Silvie, ich entführe Cara nach Puerto de la Cruz. Wir gehen shoppen.«

»Wir tun was?« Ich fühlte mich geringfügig überfahren.

»Einkaufen, mein Liebling, ich helfe dir dabei, dein Image aufzumöbeln. Und jetzt auf, auf, die Zeit ist knapp. Beweg dich, corazón.«

Ich bedachte meine feixende Freundin mit einem drohenden Blick und flüsterte. »Du sagst jetzt lieber nichts.«

Seit einer guten Stunde schleppte Carlos mich auf der Promenade von einer Boutique in die nächste. Noch nie hatte mir einkaufen so viel Spaß gemacht. Es war aber auch herrlich, wenn man mit einem Mann wie ihm im Laden stand, er Klamotten auswählte und ausgiebig an mir herumzupfte, sobald ich darin steckte. Mittlerweile war ich im Besitz von zwei neuen Jeans, einem sexy himmelblauen Corsagen-Oberteil und einem engen, ärmellosen weißen Rollkragenpulli.

Nicht nur, dass er alles bezahlte (»Keine Bange, das hol ich mir schon wieder ...«), nein, er schleppte auch noch die Tüten. Gerade standen wir auf der Promenade mit Blick auf das Meer und Carlos musterte mich mit sorgenvoll gerunzelter Stirn.

»Was? Du willst nicht noch etwas kaufen, oder? Das genügt doch wohl.«

Er trat hinter mich, legte seine Lippen an mein Ohr und flüsterte: »Wann es genügt, sage immer noch ich.«

»Macho!«

Schmunzelnd deutete er auf eine kleine Boutique, zu der einige Stufen hinaufführten. »Da hinein, los mach schon.«

Die Verkäuferin wandte sich uns mit gelangweiltem Blick zu, als wir den Laden betraten. Kaum entdeckte sie Carlos, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck wie von Zauberhand. »Hola, was kann ich für euch tun?«

»Wir brauchen ein niedliches Sommerkleid für die Lady hier.«

Sie betrachtete mich eingehend und strahlte. »Da hab ich genau das Richtige, Augenblick bitte.«

Sie eilte geschäftig von dannen und mir graute es. Sommerkleider und ich, das passte nicht zusammen. Allzu gut erinnerte ich mich an den charmanten Kommentar meiner Mutter: Kind, du bist einfach der Typ für elegante Hosenanzüge. Deine Beine und dein Hintern sehen in Röcken wirklich nicht gut aus.

Viel grübeln konnte ich nicht, denn die Verkäuferin kam mit einem bodenlangen Traum in Pink und Weiß zurück.

Carlos war sichtlich angetan. »Schön, das probierst du bitte an.«

Gut, er würde ja dann sehen, was er davon hatte. Mit zusammengekniffenen Lippen schnappte ich mir das Kleid und verschwand in der Umkleidekabine. Es passte wie angegossen. Die weißen Träger gingen an der Brust langsam in Rosé über. Ich schnürte das Oberteil, so gut ich konnte, und rückte meinen Busen zurecht. Ab der Taille fiel das Kleid weit und fließend bis zum Boden. Der Farbton wurde zunehmend kräftiger und war am Saum richtig schön knallig pink. Ich drehte mich unentschlossen vor dem kleinen Spiegel. Es half alles nichts, wenn ich mich ganz sehen wollte, musste ich aus der Kabine und vor den großen Spiegel. Unsicher schob ich den Vorhang zur Seite und trat in den Verkaufsraum. Die Verkäuferin klatschte begeistert in die Hände. »Ich wusste, dass es dir perfekt stehen wird. Das Kleid ist wie für dich gemacht.«

Carlos, der an einem Kleiderständer diverse Oberteile betrachtete, drehte sich zu mir um. Seinen Gesichtsausdruck zu deuten war nicht schwer. Er strahlte und begutachtete mich eingehend von Kopf bis Fuß, sagte allerdings kein Wort. Nicht gut für mein Ego, gar nicht gut.

»Carlos, was meinst du? Soll ich es lieber wieder ausziehen?«

Er schüttelte nur den Kopf, kam auf mich zu, fasste mich an den Schultern und schob mich vor den Spiegel. »Sieh dich an. Du bist wunderschön, meine Prinzessin. Verstehst du denn immer noch nicht, was da für eine wunderbare Frau in dir steckt? Lass sie heraus, ich bitte dich.« Es schien ihm egal zu sein, dass die Dame uns mit großen Augen und offenstehendem Mund beobachtete. Er drehte mich zu sich herum und legte seine Hände an meine Wangen. »Ab heute bitte ich mir Selbstbewusstsein aus, hast du mich verstanden? Ich will, dass du an dich glaubst, auf dich und dein Können vertraust. Ich will die starke Cara sehen, die du bist, auch wenn du es noch immer nicht zu glauben scheinst. Ich bin so stolz auf dich. Ich lasse dich ab sofort nicht mehr aus den Augen.« Er küsste mich auf die Stirn. »Du und ich, wir werden ein Dream Team, hast du verstanden? Und du wirst nie wieder allein sein. Versprochen.«

Er sollte Recht behalten.

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