Читать книгу Wenn die Träume laufen lernen 1: IBIZA - Gabriele Ketterl - Страница 7
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Schwabing, München, Mai 1985
Die Wasserfront kam mit einer Wucht auf mich zu, die verdächtig an einen Tsunami erinnerte. Nun waren Monsterwellen auf der Münchner Leopoldstraße Gott sei Dank relativ selten, doch das hier genügte mir vollauf. Der Sprung nach hinten, mit dem ich mich in Sicherheit bringen wollte, endete im Rinnstein und damit, dass ich bis zu den Knöcheln in dreckiger Brühe stand. So viel zu weißen Turnschuhen!
»Du bescheuerter Volldepp!«
Mein Rettungsversuch war eine akrobatische Meisterleistung gewesen, doch trotz allem waren die Ausläufer der Welle bis zu meinen Waden geschwappt und hatten ein Fiasko an Hose und Schuhen veranstaltet.
Der BMW-Fahrer, der an alldem die Schuld trug, fuhr unbeeindruckt seines Weges.
Nun ja, der Ausdruck »Schuld« mochte hier relativ sein, denn ich hätte auch die trockene Unterführung an der Münchner Uni nutzen können, aber das dauerte geschlagene zwei Minuten länger. Typischer Fall von Sowas-von-selbst-schuld.
Wutschnaubend sprintete ich über den breiten Prachtboulevard, den ein heftiger Regenguss binnen knapp einer halben Stunde in einen Seitenarm der Isar verwandelt hatte. Da die Passanten mir respektvoll den Weg freimachten, konnte ich mir vorstellen, wie mein Gesichtsausdruck aussehen mochte. Oder sie wollten sich vor den Dreckspritzern in Sicherheit bringen, die bei jedem Schritt von meinen matschigen Converse in alle Richtungen stoben. Mir war es egal, ich wollte nur noch ins Trockene.
Noch immer ziemlich angesäuert stieß ich die Tür zum CADU, dem Café an der Uni, auf.
»Tu mir nichts, dann tu ich dir auch nichts. Cara, im Ernst, entspann dich.« Stefanie, meine Freundin und Kommilitonin, musterte mich besorgt.
Ich ließ mich auf den Korbstuhl, der neben dem Tisch stand, fallen und atmete ein paar Mal tief durch. »So, besser. Sehe ich echt so schlimm aus?«
Stefanie nickte mit sorgenvoll gerunzelter Stirn. »Ja, dir steht die Mordlust ins Gesicht geschrieben.«
»Also mal ehrlich, schau doch aus dem Fenster. Die vierte Woche in Reihe mit dem absoluten Dreckswetter. Wonnemonat Mai, dass ich nicht lache.« Knurrend versuchte ich meine langen Beine unter den Bistrotisch zu schieben, was angesichts des Platzmangels hier drin und den eng stehenden Sitzgruppen gar nicht leicht war. Seufzend schob ich die Ärmel meines pinkfarbenen T-Shirts hoch – meines tropfnassen, pinkfarbenen T-Shirts.
»Das ist unerträglich. Ich brauche Sonne, um zu leben, so existiere ich nur.«
»Was darf’s denn sein?« Meine Lieblingskellnerin Nina war neben uns aufgetaucht, wie immer so leise, dass ich sie zuerst nicht bemerkt hatte.
Ich zauberte ein Lächeln auf meine Lippen, denn sie konnte ja nun wahrlich nichts dafür. »Hi Nina, einen Milchkaffee bitte, eine Butterbreze und ein halbes Pfund Sonne.«
»Tut mir leid, Süße, Sonne ist leider gerade aus, der Rest kommt sofort.« Nina tätschelte mir mitleidig die Schulter und war so flott wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war.
Ich sah ihr bewundernd hinterher. »Ab und an ist sie mir unheimlich. So schnell kann sich doch kein normaler Mensch bewegen.«
Stefanie zog eine Grimasse. »Nina ist auch kein normaler Mensch. Nach acht Jahren Ballett kannst du dich gar nicht mehr anders bewegen. Glaube ich zumindest.« Sie drehte sich zu mir, stützte ihre Ellbogen auf der Tischplatte auf und legte ihr Kinn auf die ineinander verschränkten Finger. »Aber ich wollte eigentlich nicht über Nina reden. Du bist es, die mir Sorgen macht.«
»Ich?« Sofort war ich in Habachtstellung. »Mit mir ist alles in Ordnung, oder sehe ich so mies aus?«
»Alles in Ordnung? Cara, das kannst du deiner Oma erzählen. Ich bin deine beste Freundin, glaubst du im Ernst, ich würde es nicht bemerken, wenn dich etwas belastet? Seit einer Woche läufst du mit einer Leichenbittermiene durch die Welt, die erschreckend ist. Würde ich dich nicht besser kennen, dann hätte selbst ich ab und zu Angst vor dir.«
»Angst? Übertreibst du jetzt nicht ein kleines bisschen?«
Statt einer Antwort griff Stefanie mit einer fließenden Bewegung in ihre Basttasche und zog einen kleinen, runden Gegenstand heraus, den sie mir vor die Nase hielt. Erst als ich mich in ihrem Spiegel erblickte, verstand ich, wovon sie redete. Das war nicht ich, oder vielmehr war ich das schon, aber nicht so, wie ich sein sollte. Das war zwar mein Gesicht, aber nicht das einer Zweiundzwanzigjährigen. Nein, das waren die verbitterten Züge einer Frau, die im Leben keinen Spaß mehr erwartete. Meine blaugrünen Augen lächelten nicht mehr, so wie sie es sonst getan hatten. Sie sahen mich müde und traurig an, und ich rutschte schuldbewusst ein wenig tiefer in meinen Korbstuhl.
»O Mann, das sieht echt böse aus.«
Selbst meine langen, dunkelblonden Haare, die sonst dank Dichte und Glanz dafür sorgten, dass man nicht so genau auf mein Gesicht achtete, klebten feucht und stumpf an meinem Kopf.
»Ich sehe ja richtig scheiße aus.«
»So drastisch würde ich das jetzt zwar nicht sagen, aber du hast schon mal besser ausgesehen, das stimmt wohl.« Nina stellte den Pott mit dampfendem Milchkaffee vor mir ab und schob den Teller mit der Breze daneben. »Wann bist du denn mal wieder in Spanien? Das täte dir sicher gut. Sonne, Strand und spanische Lebensfreude.«
Na toll, nun machte sich schon unsere Bedienung Sorgen um meinen Allgemeinzustand.
»Mach dir keine Gedanken, Nina, das wird schon wieder. Und Spanien steht sicher bald wieder auf dem Plan.«
»Ja? Okay, dann bin ich beruhigt. Wenn ihr noch was braucht, einfach in meine Richtung winken, ihr wisst ja.« Nina entschwebte lächelnd und ich kippte fünf Stück Süßstoff in meine Tasse.
»Pfui Deibel, wie kannst du diese süße Brühe denn trinken?«
Ich rammte den langstieligen Löffel in den Milchkaffee und rührte um, als hinge mein Leben davon ab.
»Erstens mag ich es süß und zweitens ist das Leben bitter genug. Muss ich nicht auch noch beim Kaffee haben. Danke.«
Stefanie trank einen großen Schluck ihres schwarzen Tees, ehe sie sich mir gänzlich zuwandte. »So, und jetzt ist Schluss mit lustig. Cara, meine Liebe, du erzählst sofort, was los ist. Und keine Ausflüchte, haben wir uns verstanden?«
Ich nickte ziemlich kleinlaut. Wenn Steffi diesen Ton anschlug, dann war mit ihr nicht mehr gut Kirschen essen. Also holte ich tief Luft, trank von meinem Kaffee und suchte nach dem richtigen Anfang. »Also, nach dem Abitur habe ich nur auf ausdrücklichen Wunsch meines Vaters eine Ausbildung zur Reisekauffrau angefangen. Das war ja auch vollkommen in Ordnung, denn erstens wollte ich nicht studieren und zweitens kam das meinen Wünschen, später im Ausland zu arbeiten, sehr entgegen. Ich glaube, ich habe dir erzählt, dass mein Dad stinkwütend darüber war, dass ich mein Praktikum in Madrid und nicht in London gemacht habe. Für ihn scheint London das Auge der Welt zu sein, wenn’s um Ausbildung geht. »
Stefanie nickte mit grimmiger Miene. »Dein Vater hat ein Rad ab, aber das habe ich ja schon ein paar Mal angemerkt. Erzähl weiter.«
»Fakt ist, dass ich nach erfolgreicher Beendigung der Ausbildung für mein Leben gerne in Spanien arbeiten wollte.« Unglücklich nuckelte ich an meinem Getränk. »Aber er bestand darauf, dass ich unbedingt Anglistik studieren müsse, um meine internationalen Chancen zu verbessern. Du warst schließlich eine der Besten in deinem Jahrgang, willst du dein Können in einer spanischen Hotelklitsche vergeuden? Bloß weil er vor ewiger Zeit in London und Dublin studiert hat und seine Karriere dann auch in London losging.«
»Davon hab ich ja noch gar nichts gewusst. Da bin ich aber froh, dass er dir gestattet hat, in München zu studieren, sonst hätte ich dich überhaupt nicht mehr gesehen.«
Ich nickte. »Ja, aber das war trotzdem für mich eine verdammt schwere Entscheidung. Ich habe mich in die Ausbildung nur so reingehängt, weil ich hoffte, dann endlich unabhängig zu sein. Weg von ihm, von seinen überkandidelten Plänen in Sachen ›Das Leben meiner Tochter‹. Und nun sitze ich wieder für vier Jahre in einem Hörsaal fest.«
Meine Freundin legte mir tröstend ihre Hand auf den Arm. »Warum in aller Welt hast du denn dann wieder zugestimmt? Himmel noch eins, du bist schließlich volljährig.«
Ich wand mich ein bisschen. Ja, volljährig war ich wohl, aber andauernd standen mir meine Erziehung und mein wohlgenährtes Pflichtgefühl im Weg. »Ich hatte Angst, meine Eltern zu enttäuschen nach allem, was sie in mich investiert haben.« Ich biss frustriert in die knusprige Breze.
»Cara, hey, spinnst du? Erde an Cara, bitte melden! Du hast immer getan, was sie erwartet haben, hast ihre Wünsche erfüllt. Sag mal, gibt es dich da drinnen eigentlich noch irgendwo oder bist du nur noch eine wandelnde Hülle, in die deine Altvorderen ihre eigenen Wünsche projizieren?«
Autsch! Damit war es ihr gelungen, einen der wohl wundesten Punkte meines Daseins zu treffen. Andauernd lebte ich in der Angst, irgendwen zu enttäuschen oder gar zu verletzen. Dass stattdessen immer ich es war, die Enttäuschungen wegstecken musste, akzeptierte ich klaglos. Daher zuckte ich die Schultern. »Was soll ich denn tun? Glaub mir, ich habe so oft versucht, über meinen Schatten zu springen. Aber jedes Mal lande ich in dem übermächtigen meines Erzeugers. Der Herr Stararchitekt erwartet eben von seiner einzigen Tochter, dass sie ebenso erfolgreich wird wie er.«
»Aber das willst du doch gar nicht. Menschenskinder, wenn du tätest, was du möchtest, dann würdest du jetzt längst in einem Hotel irgendwo in Spanien sitzen oder für einen spanischen Ferienclub arbeiten, habe ich Recht?«
Ich nickte kleinlaut. »Ich habe noch während der Ausbildung Kontakt mit Melia Hotels aufgenommen. Die hatten mich schon eingeladen.«
»Und darum studierst du jetzt auch Anglistik, nicht wahr?«
Ich mochte Stefanies sarkastische Ader. »Schon gut. Ist ja nicht so, als wüsste ich das nicht. Aber das ist leider nicht alles.«
Die Hand meiner Freundin klatschte lautstark auf die Tischplatte. »Ha, ich wusste es, dass etwas passiert ist. Jetzt aber sofort raus damit.«
Ich krauste nachdenklich die Nase. »Mein Dad hat schon wieder neue Pläne mit mir.«
»Wie jetzt? Plant er den diplomatischen Dienst für sein Töchterlein?«
Ich grinste. »Beinahe. Er kam vor vier Tagen strahlend anstolziert und legte mir ein mehrseitiges Pamphlet auf den Tisch. ›Mein Kind, dank meiner guten Beziehungen ist deine Zukunft in trockenen Tüchern. Seit etwa einem Jahr ist einer meiner besten Freunde im obersten Management einer exquisiten amerikanisch-britischen Hotelkette. Du kannst sofort nach dem Studium einsteigen. Was sagst du? Zwei Telefonate und alles war in trockenen Tüchern‹. Steffi, er erwartet allen Ernstes, dass ich heute, am Ende des ersten Studienjahres, bereits meine Seele an eine Hotelkette verkaufe, die ich nebenbei nicht einmal mag.«
Stefanie musterte mich mit ernster Miene. »Cara, du hast doch hoffentlich nicht unterschrieben?«
Seufzend verneinte ich. »Das hab ich nicht übers Herz gebracht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich auf ein Leben in den gesellschaftlichen Riegen programmiert werden soll, die meine Eltern so erstrebenswert finden. Aber ich hasse es. Ich sehe überall nur noch Wände und Gitter.«
Stefanie lehnte sich mit gerunzelter Stirn zurück. »Wenn du diesen Vertrag unterzeichnest, dann frage ich mich wirklich, ob du noch selbständig denken kannst. Es ist offensichtlich, dass du eine Entscheidungshilfe brauchst. Also beantworte mir jetzt einfach aufrichtig die folgenden Fragen, okay?«
Ich nickte zaghaft und war neugierig, was nun kommen würde.
»Magst du dein jetziges Leben? Ich meine, magst du es wirklich?«
»Nein.«
»Magst du das dir aufgebrummte Studium?«
»Nein.«
»Nerven dich das Wetter und die miese Laune der Deutschen?«
»Ja.«
»Bist du glücklich?«
Ich zögerte ein wenig, das war eine sehr ernste Frage. Aber ich musste ehrlich sein. »Nein.«
»Also ich finde, das genügt haushoch, um endlich einmal eigene Entscheidungen zu treffen. Cara, du warst immer ein sehr lebensfroher, humorvoller Mensch. Du bist nur noch ein Schatten deiner selbst. So kann das nicht weitergehen.«
Ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. »Eigentlich weiß ich das ja, aber was soll ich denn tun?«
»Leben, Cara! Verdammt noch mal, du sollst leben, und zwar dein Leben und nicht das, was andere für dich vorbestimmen, um ihre eigenen Wünsche und Erwartungen zu erfüllen. Damit ist jetzt sofort Schluss. Du hast mir so oft von diesem Jaime erzählt. Den kontaktierst du noch heute. Hast du mich verstanden?«
Ich riss überrascht die Augen auf. »Den Chef vom Club Costa Azul? Der hat mir zwar mal angeboten, dass ich dort arbeiten könnte, aber ich habe keine Ahnung, ob das ernst gemeint war.«
Stefanie rollte genervt die Augen. »Warum sollte er es anbieten, wenn er es nicht so meint? Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist er glücklich verheiratet und damit fällt die Möglichkeit, dass er dich nur ins Bett bekommen wollte, schon mal flach, oder?«
Wenn ich an Jaime dachte, dann erschien automatisch auch das Bild seiner ausgesprochen schönen Frau Mercedes vor meinen Augen.
»Ja, das fällt sicher flach. Mercedes ist eine Schönheit und er betet sie an.«
Stefanie schnippte mir so fest und so schnell gegen den Arm, dass es brannte. »Das bist du auch, du Knallkopp. Also meistens wenigstens.«
Einen Sekundenbruchteil war ich verblüfft, dann lachte ich schallend los. »Weißt du, was ich besonders an dir liebe?«
Meine Freundin legte kokett den Kopf auf die Seite, sodass ihr ihre langen, fast schwarzen Haare ins Gesicht fielen. »Na, was könnte das denn sein? Meine unglaublich charmante Art?«
»Die, und dass ich immer weiß, woran ich bei dir bin. Glaubst du wirklich, dass ich das durchziehen könnte?«
Stefanie knurrte genervt. »Willst du es denn?«
»Das würde mir tierisch Spaß machen.«
»Du stellst es dir nicht zu leicht vor? Du hast keine rosarote Brille auf, in Bezug auf den Job?«
»Auf keinen Fall. Als ich im Costa Azul gewohnt habe, war mir sofort klar, dass das ein Knochenjob ist, und die langen Gespräche mit Jaime und Mercedes waren alles andere als ermutigend. Andererseits haben mir beide auch die Seiten gezeigt, die einfach super schön sind. Und allein die Locations. Das Costa Azul in Teneriffa, also die Hauptniederlassung der Clubkette im Norden der Insel, ist ein Traum. Das Meer, der Strand, die Palmen, die Sonne, die Lebensfreude der Canarios ...« Mein Blick fiel auf Stefanie und ich stockte verwirrt. »Was ist los, warum schaust du so komisch?«
Lächelnd beugte sich Steffi zu mir herüber und sah mir tief in die Augen. »Ich freue mich für dich.«
»Hä? Ich kapier gerade nicht, ich habe doch noch gar nichts entschieden.«
»O doch, das hast du sehr wohl.« Sie klang verdammt überzeugt.
»Und was macht dich da so sicher?«
»Weil du von innen strahlst, wenn du nur darüber sprichst. Du wärst so was von dämlich, wenn du hierbleibst.« Stefanie nahm meine Hand und drückte sie. »Auch, wenn ich bei dem Gedanken, dass du hier weggehst, jetzt schon heulen muss.«
Ich erwiderte ihren festen Händedruck und musterte sie nachdenklich. »Du glaubst, ich sollte das tatsächlich tun? Ich sollte es wagen und Jaime einfach fragen?«
Sie nickte nachdrücklich und sehr ernst. »Ja, Cara, das solltest du. Du musst hier weg, oder du gehst emotional und seelisch vor die Hunde.«
Noch am selben Abend, nach einem unerfreulichen Gespräch mit meinem Vater, der zum wiederholten Male nach dem unterzeichneten Vertrag fragte, saß ich im Schneidersitz auf dem Bett in meiner winzigen aber gemütlichen Wohnung. Ich starrte wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf das Telefon, das vor mir auf meiner pink und weiß gestreiften Bettdecke stand, und biss mir vor lauter Aufregung und Selbstzweifel die Lippen wund. Aber es nutzte nichts. Wenn ich es nicht fertigbrächte, einen einfachen Anruf zu tätigen, wie sollte ich dann ein komplett neues Leben meistern?
Es war schon nach neun Uhr abends, als ich endlich den Mut aufbrachte, nach dem Hörer zu greifen und eine ziemlich lange Nummer zu wählen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe es am anderen Ende klingelte. Als der Empfangschef das Gespräch annahm, hätte ich um ein Haar wieder aufgelegt. Ich musste zwei Mal kräftig räuspern, bevor ich es schaffte, mich zu melden und zu fragen, ob ich bitte … ich kam gar nicht so weit, als dass ich nach Jaime hätte fragen können.
»Cara? Cara, bist du das? Hey, ich bin’s, Silvio. Alles gut bei dir?«
Schon die erfreute und fröhliche Stimme zu hören tat gut. »Ja, alles prima.« Ich war sehr dankbar dafür, dass Silvio zu jenen Spaniern zählte, die Mitleid mit Nicht-Muttersprachlern bewiesen und nicht mit der Schnelligkeit eines abgefeuerten Maschinengewehrs redeten.
»Kommst du uns wieder besuchen? Das wäre klasse.«
»Ja, vielleicht, aber dazu müsste ich bitte kurz mit Jaime sprechen. Ist er da?«
Jetzt war es raus. Es gab kein Zurück.
»Jaime ist da, buchen kannst du aber auch gleich bei mir.« Er klang noch erfreuter.
Ich schmunzelte. »Nein, Silvio, das ist echt lieb, aber ich muss wirklich mit Jaime reden, verbindest du mich bitte mit ihm?«
Prompt mischte sich Enttäuschung in die Stimme. »Na gut, dann stelle ich dich zu ihm durch. Mach es gut. Hoffentlich bis bald mal wieder. Hasta lluego.« Weg war er.
Als Jaimes dunkle und ernste Stimme erklang, rutschte mir kurzfristig mein Herz in die Hose. Es kostete mich schon viel Überwindung, überhaupt zu sprechen, aber es gelang mir. »Jaime, guten Abend. Hier ist Caroline Montrose, ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnern kannst. Aber ich habe eine Frage an dich, eine sehr wichtige Frage.«
Jaime konnte sich erinnern.