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Drei Jahre später

Club Costa Azul, Santa Eulalia, Ibiza, August 1988

Das Grauen hatte ein Gesicht!

Und zwar meines, wenn ich gezwungen wurde, um vier Uhr dreißig aufzustehen – und zwar am Morgen. Aber alles Jammern half nichts, heute war ich an der Reihe, die britischen Gäste zu verabschieden, die uns nach einer oder wahlweise zwei Wochen wieder verließen. Die Brit-Bomber, wie wir die Maschinen der englischen Billig-Airline zu nennen pflegten, flogen zu unmöglichen Zeiten. Nur so war es ihnen möglich, die Tiefpreise zu garantieren, zu denen sie ihre Passagiere durch die Welt karrten. Unter anderem auch hierher nach Ibiza. Sie kamen vorrangig aus den weniger wohlhabenden Gegenden von Liverpool und Manchester. Viele konnten sich nur wegen der günstigen Preise einmal im Jahr den Urlaub leisten. Für sie war das Costa Azul eine Luxusdestination und unsere Chefs wussten das. Während andere wie die Deutschen, Italiener und Schweden, die den Großteil unserer Gäste ausmachten und genug Geld mitbrachten, den Luxus einer anständigen Reiseleitung genossen, waren die Brit-Bomber nach Ankunft und Verfrachtung in den Bus sich selbst überlassen. Unser Clubchef Leon fand das traurig, deshalb fiel uns die Ehre zu, die Verabschiedung der Gäste zu übernehmen – morgens um halb fünf!

Ich fuhr mir mit der Bürste durch die Haare, putzte mir die Zähne, schlüpfte in mein Poloshirt in den Clubfarben Blau und Gelb und traf nach dem dritten Versuch auch das zweite Hosenbein meiner Shorts. Make-up war um diese Tageszeit sowieso zwecklos, also beließ ich es bei einem Hauch Rosé auf den Lippen, einer guten Dosis Deo sowie einem Tröpfchen Moschusöl, das zumindest annähernd meine Lebensgeister weckte. Den Lichtschalter fand ich erst nach dem dritten Anlauf – okay, das mit den Lebensgeistern sollte ich noch mal üben. Leise, um Silvie, meine deutsche Mitbewohnerin, nicht zu wecken, schlich ich mich aus unserem Apartment, das wir uns mit Carlos und Andy teilten. Ein durchaus erwähnenswerter Umstand, da wir nicht – wie eigentlich üblich - mit zwei weiteren Frauen zusammenwohnten. Doch sowohl Carlos als auch Andy weigerten sich beharrlich, ein Apartment mit Fernando und José, den beiden Rettungsschwimmern, Surflehrern und – im Notfall – Barkeepern zu teilen. Sie schätzten die Ruhe und Ordnung bei Silvie und mir, und nachdem wir nur zu gut wussten, wie es meist bei Fernando und José aussah, hatten wir vollstes Verständnis dafür. Abgesehen davon waren wir eine eingeschworene Gemeinschaft, die vier Musketiere, die so leicht niemand voneinander trennen konnte.

Drei Zimmer, Küche, Bad, Gästetoilette und eine uneinsehbare, leicht verwilderte, kleine Terrasse, die zum Meer hinausging. Dass man es nur hören, aber nicht sehen konnte, lag daran, dass wir am Rand der Anlage direkt an der blickdichten, hohen Hecke wohnten. Alles hat seine Vor- und Nachteile. Worauf ich noch immer mit großer Neugier harrte, war der Tag, an dem unser englischer Technikprofi Andy endlich zugeben würde, dass er die räumliche Nähe zu Silvie noch aus einem ganz anderen Grund sehr schätzte. Es war kompliziert. Männer!

Die Nächte waren nicht sehr viel kühler als die Tage. Dieser Sommer war besonders heiß und 38°C waren keine Seltenheit. Jetzt, zu dieser frühen Morgenstunde, zeigte das Thermometer an unserer Hauswand bereits respektable 22°C. Ich steckte die Hände in die Taschen meiner Shorts und trabte, noch ein wenig geistesabwesend, in Richtung Empfangsbereich.

Der salzige Geruch nach Meer lag in der Luft, vermischt mit dem Duft zahlloser Blüten. Wenn man sah, wie üppig hier Pflanzen blühten, die in Deutschland oder England gerade mal respektable Blumentopfgröße erreichten, dann verstand man den Frust zahlloser Hobbygärtner. Immer wieder kauften sie Samen und Setzlinge und wunderten sich sehr, warum diese Pflanzen dann im heimischen Garten nie so aussahen wie hier. Nur mit Kakteen klappte es halbwegs. Ich mochte sie als Hauspflanzen, ja, Kakteen waren pflegeleicht und die konnte daher selbst ich durchaus in die engere Wahl nehmen.

Ich lief über die bereits von dienstbaren Geistern sauber gefegten Pfade des Clubs, vorbei an der großen, nierenförmigen Poolanlage, dem Schwimmerbecken und dem inzwischen, wie jeden Morgen, wieder ganz vernünftig riechendem Kinderbecken. Ich liebe Chlor!

Als ich gerade auf den Hauptweg abbiegen wollte, der direkt an der Rezeption endete, vernahm ich eine altvertraute Stimme.

»Corazon, du bist die Liebe meines Lebens. Ich werde dich mehr vermissen, als du ahnst.«

Eigentlich wäre es nicht nötig gewesen hinzusehen, doch ich konnte es mir, wie immer, nicht verkneifen. Dort, im schwachen Schein einer Laterne, unter einem der weißen Torbögen, die das Gelände überzogen und stets von Unmengen an bunten Bougainvillea überwuchert waren, stand er und hielt ein hellblondes, leise schluchzendes Mädchen in den Armen.

Carlos! Der größte und erfolgreichste Ladykiller seit Giacomo Casanova.

Der berühmte Italiener hätte sich verflucht warm anziehen müssen, um mit dem geborenen Madrider mithalten zu können. Kaum kam eine neue Reisegruppe an, schon war es um mindestens die Hälfte aller weiblichen Gäste geschehen, und ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Mit gut einem Meter neunzig, einem gestählten Körper, der wohl noch nie ein Gramm Fett angesetzt hatte und somit an der Grenze zur Perfektion stand, bot Carlos einen beeindruckenden Anblick. Dazu kamen seine dichten, dunkelbraunen Haare, die ihm in ungebändigten, seidig glänzenden Wellen bis über die breiten Schultern fielen, die fast schwarzen Mandelaugen, die von Wimpern beschattet wurden, für die jede Frau – und zwar wirklich jede – auf der Stelle töten würde, ganz abgesehen von diesem sinnlichen Mund, der unsere weiblichen Gäste in Ekstase versetzen konnte. Um dem Gesamterscheinungsbild die Krone aufzusetzen, bewegte sich der ausgebildete Tänzer und gelegentliche Werbeträger für Herrendüfte mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze. Und dieser Ausbund an Jungmädchenfantasien stand nun etwa fünf Meter von mir entfernt und versuchte sein Möglichstes, um Susi, June, Robin oder wie auch immer sein aktuelles Opfer heißen mochte zu beruhigen und die letzten Minuten ihres Aufenthaltes unvergesslich zu gestalten. Er stand an den Torbogen gelehnt und hielt sie in den Armen, während sie sich an ihn klammerte und haltlos schluchzte. Natürlich erspähte er mich sofort und ich grinste ihn breit an. Er formte mit seinen Lippen einen Luftkuss und klimperte mit den Wimpern. Wenn ich jetzt laut lachte, hätte er ein Problem. Aber er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich das nie tun würde. Daher verdrehte ich lediglich die Augen, schüttelte betont entrüstet den Kopf und trollte mich zur Rezeption. Als ich die Tür zum Büro öffnete, begrüßte mich grelles Neonlicht, das jeden Menschen umgehend in einen Zombie verwandelte, ganz besonders zu dieser Tageszeit. Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.

»Leute, kann mir einer sagen, warum in jedem, aber wirklich jedem Büro dieses abgrundtief hässliche Neonlicht sein muss?«

Lupe, die kleine, rundliche und selbst zu dieser Zeit gut gelaunte Rezeptionistin, lächelte mir nachsichtig entgegen. »Damit du, meine liebe Cara, etwas hast, das dich aufweckt. Aber warte mal, ich hab da eine Idee, wie ich deine Laune verbessern könnte.«

Lupe, blass wie immer, rückte ihren gigantischen, schwarzen Dutt zurecht und wuselte in die Miniküche, die sie sich hier vorne eingerichtet hatten, um nicht wegen jedem Kaffee in eines der Restaurants laufen zu müssen. Nur ein paar Augenblicke später kam sie zurück und balancierte eine bauchige Tasse, aus der es himmlisch duftete. Strahlend hielt sie mir das Getränk entgegen.

»Café con leche, aber mit Vanillesirup, nicht das heftige Zeug aus der Maschine. Na, ist das was? Wirkt sich das positiv auf deine Stimmung aus?«

Ich war gerührt. Jedes Mal, wenn ich am frühen Morgen hier anschlurfen musste, hatte sie etwas für mich auf Lager.

Vorsichtig griff ich nach dem Kaffee und drückte Lupe gleichzeitig einen dicken Kuss auf die runde Wange. »Danke, Lupe! Und schon wieder rettest du mir das Leben.«

Sie seufzte leise. »Na, dafür bin ich doch da.« Ihr wacher Blick, für den ich sie wahrlich bewunderte, wanderte durch den Raum. »Wo stecken denn die anderen eigentlich?«

»Na, hier zum Beispiel.« Aus dem Ledersofa im Durchgang zum weitläufigen Empfangsraum erhob sich eine schmale Silhouette, die sich erst einmal herzhaft reckte und streckte.

Lupe schob ihre Brille auf die Nase und musterte die verschlafene Gestalt über die Ränder hinweg. »Ah, Roberta, na los, nun heißt es aber wach werden und zwar schnell. Magst du auch einen Kaffee?«

»Nein Leute, keine Zeit mehr.« Ich deutete durch die offene Hintertür hinaus auf die Wege.

Langsam und sichtlich müde kamen die Gäste auf das Gebäude zu. Ihre Koffer wurden derweil von dienstbaren Geistern auf knatternden Transportwägen vor dem Club abgestellt, um in die Busse verladen zu werden, sobald diese eintrafen. Ich trank ein paar Schlucke von meinem leckeren Gebräu und hielt Roberta die halb volle Tasse unter die Nase. Die niedliche Italienerin war bei uns für die Kinderbespaßung zuständig und an den Abenden Teil der Club-Show. Ihr schwarzer Wuschelkopf war heute noch ungebändigter als sonst und die runden Haselnussaugen verrieten eklatanten Schlafmangel.

»Na komm, trink, du siehst aus, als ob du es nötig hättest.«

Sie verzog nur das Gesicht. »Frag nicht. Ich hab miserabel geschlafen, und dann nach drei Stunden wieder raus, das grenzt an Folter.« Dankbar schlürfte sie den heißen Kaffee. Ich blickte noch einmal durch den Türspalt und sah, dass nun auch unser beliebtester Rettungsschwimmer Fernando am Horizont auftauchte. Der Kopf mit den langen hellbraunen Haaren, in die sich von der Sonne gebleichte blonde Strähnen mischten, war gesenkt, der Blick auf den Boden gerichtet. Wie so oft am frühen Morgen, kam Fernando noch im Halbschlaf und in Flip-Flops angeschlappt, die Hände tief in den ausgebeulten Taschen seiner Jeans versenkt. Immerhin konnte er sich dazu aufraffen, das Club-Poloshirt zu tragen, das er stets eine Nummer zu klein orderte, um seine Muskeln besser zur Geltung zu bringen. Wir argwöhnten seit geraumer Zeit, dass Fernando entweder ein Vampir war oder aber die Gene einer Fledermaus in sich trug. Mit schlafwandlerischer Sicherheit wich der Kerl jedem Hindernis aus, ohne auch nur den Blick zu heben. Er musste Schallwellen aussenden, eine andere Erklärung gab es nicht. So auch heute. Zielstrebig trabte er auf die Rezeption zu und wich in allerletzter Sekunde dem Mauervorsprung aus, auf dem diverse Blumentröge standen. Jeder andere hätte in diesem Augenblick an der Rückwand des Gebäudes geklebt, nicht so Fernando. Er fand problemlos den Eingang, und genauso problemlos fand sein Kopf Lupes Schulter.

»Gmpf!«

Lupes ausgeprägter Mutterinstinkt verhinderte, dass sie den frechen Bengel einfach abschüttelte wie ein lästiges Insekt. »Nando, ich habe dich ja auch lieb, aber wir sind alle müde, außerdem müsst ihr jetzt sofort raus, ich höre die Busse.«

Tatsächlich ertönte in der morgendlichen Stille das Geräusch der beiden großen Reisebusse.

»Na dann«, ich stupste Roberta sachte in die Rippen, »wollen wir wieder einmal ›Bye Bye‹ sagen.«

Wie von Zauberhand erschien auf unseren Gesichtern ein strahlendes Lächeln, was vor allem bei Fernando ausgesprochen amüsant wirkte, und wir traten in die Einfahrt des Clubs, wo die beiden Busse soeben fauchend ihre Türen öffneten.

»Wie viele?« Ich warf Lupe einen Blick zu. Die nahm ein Klemmbrett von ihrem Schreibtisch und blätterte durch die Liste. »Zweiundvierzig.«

Roberta und Fernando stellten sich an den Einstieg des ersten Busses, ich winkte den soeben atemlos herbeieilenden Carlos zu mir. »Konnten wir uns mal wieder nicht losreißen, was?«

Er verzog keine Miene. »Ich schon, aber sie nicht. Keine Panik, jetzt bin ich ja da.«

Aus dem Augenwinkel nahm ich ein verweintes, rotes Gesicht wahr. Eine schwere Reisetasche schleppend, war das Mädel schon wieder in Carlos‹ Richtung unterwegs.

»Achtung!«

»Danke, ich sehe sie schon.«

Carlos nahm von Lupe die Liste für Bus 2 in Empfang und wir stellten uns neben den Eingang.

Ich holte tief Luft. »Guten Morgen, liebe Gäste. Wir wissen, ihr seid müde und wollt nur eure Ruhe. Aber ihr kennt uns ja inzwischen, ein bisschen nerven müssen wir einfach, sonst sind wir nicht glücklich.« Verhaltenes Gelächter war die Antwort und ich fuhr erleichtert fort.

»Wir hoffen, ihr habt noch ein vernünftiges Frühstück bekommen, sofern man um diese Zeit überhaupt etwas hinunterbringt. Abgesehen davon müssen wir uns nun von euch verabschieden. Es hat uns allen großen Spaß mit euch gemacht, wir wünschen eine gute Heimreise und hoffen, dass ihr uns in guter Erinnerung behalten werdet, trotz allem, was wir mit euch angestellt haben.«

Da alle applaudierten – Müdigkeit hin, früher Morgen her –, schien ihr Aufenthalt den Erwartungen gerecht geworden zu sein.

»Carlos und ich werden nun die Namen all derer aufrufen, die in Bus 2 einsteigen müssen, um uns dann um euer Gepäck zu kümmern, Roberta und Fernando tun das Gleiche bei den Gästen, die für Bus 1 vorgesehen sind.«

Abwechselnd und zügig hintereinander riefen wir die Namen der Passagiere auf, hakten ab, drückten Hände, umarmten lieb gewonnene Gäste, wobei ein Paar Arme länger als nötig Carlos Hals umklammerte, ehe er sie vorsichtig löste und beruhigend auf das todtraurige Mädchen einredete. Endlich war auch es im Bus, die beiden Fahrer grüßen, wir nickten, die Türen schlossen sich, was immer nach Raumschiff klang, und schon fuhren sie langsam aus der Einfahrt.

Wieder einmal entschwanden zweiundvierzig Menschen, die eine kleine Weile unser Leben begleitet hatten, auf wahrscheinlich Nimmerwiedersehen.

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