Читать книгу Yoga rette sich wer kann - Gaby Beiersmann - Страница 6
Sehnsucht
ОглавлениеFür die kreative Luna gibt es nirgendwo auf der Welt eine Unterkunft, die nicht mit wenigen Accessoires und im Handumdrehen zu einem typischen ‚Luna-Zuhause’ gemacht werden kann. Für Sylt hatte sie von langer Hand geplant und liebevoll aber wirklich alles in Meeres-Blau eingepackt. Am Ende eines langen Tages endlich in ihrem 1-Frau-Haus angekommen, freut sie sich nun, endlich ihren tonnenschweren Koffer auspacken zu dürfen und es sich für die Woche auf Sylt hier so richtig gemütlich zu machen. Ein paar Teelichter, farbenfrohe Handtücher, das eigene Schafwoll-Kuscheloberbett, Bettwäsche von ihrer holländischen Lieblingsdesignerin, ein paar Bücher, eine feine Auswahl Räucherstäbchen und natürlich ein Bild von ihrem Pferd Stardust.
Mit wenigen gezielten Handgriffen hat Luna alles arrangiert und damit im Handumdrehen aus dem spartanischen Gartenhäuschen ein heimeliges Holzhaus-Ressort mit Wohlfühlgarantie gezaubert. Alles harmoniert wunderbar in verschiedenen Blautönen miteinander. Begeistert klatscht sie in die Hände. So würde es die Hütte jetzt sicher in jede Hochglanz-Country-Style-Gazette schaffen. Zu ihrer Freude stellt sie dann fest, dass das Bett mit dem Kopfende genau richtig in Richtung Norden zeigt, den Magnetfeldlinien der Erde folgend. Einem erholsamen Schlaf steht also nichts im Weg. Luna atmet tief durch. Geschafft. Angekommen!
Mit dem Duft eines echt japanischen Räucherstäbchens schläft sie immer besonders gut ein. Für den ersten Abend wählt Luna Suzukaze, was übersetzt ‚flüsternder Wind’ heißt und die Luft mit Sandelholz, Vanille, Zimt und Narde erfüllt. Luna ist bereit für die erste erholsame Nacht in ihrem Dünenparadies-Häuschen.
Das denkt sie jedenfalls. Doch kaum liegt sie im Bett, muss sie zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich feststellen, dass sie noch gar nicht müde ist. Hmmmm....und jetzt? Die mitgebrachten Bücher interessieren sie gerade herzlich wenig. Das ist ihr noch nie passiert. Das Abtauchen in Fantasybücher, Vampirromane oder Thriller ist ein fester Bestandteil ihres Lebens. Nun liegt sie einfach so da. Ohne Buch. Ihr wird bewusst, wie still es plötzlich ist. Luna legt eine Hand auf ihr Herz, die andere auf ihren Bauchnabel und horcht mit geschlossenen Augen in sich hinein. Sie kann sich nicht erinnern jemals eine so pure Stille und Ruhe gespürt zu haben. Das weckt sogleich die Sehnsucht nach mehr. Luna fühlt sich, als ob sie seit Jahren keinen solchen Moment der Ruhe erlebt hat.
Aber wie kann das sein? Bei ihr zuhause ist es doch auch ganz ruhig. Gemeinsam mit ihrem Mann, zwei Katzen und Hund lebt sie in einer traumhaften Dachgeschosswohnung auf einem restaurierten alten münsterländischen Gräftenhof. Die absolute Traumwohnung. Von jedem Fenster Blick ins Grüne. Keine Autos. Kein Stadtlärm. Käuzchen und Rehe und ab und zu die Geräusche von Wind und Regen. Sonst hört man dort nichts.
Luna horcht weiter in sich hinein und spürt, wie weich und entspannt ihre Hände sich anfühlen. Die Wärme ihres Körpers fühlt sich fast fremd an. Überhaupt fühlt es sich ganz ungewohnt an, sich selbst so intensiv zu spüren.
„Ja“, denkt sie, „ich habe mich unendlich lange selbst nicht mehr richtig gespürt.“ Langsam dringt das Rauschen des Meeres zu ihr vor. Einem plötzlichen Impuls folgend steht sie wieder auf, zieht sich rasch ein paar Sachen an, greift nach der warmen Jacke und der Taschenlampe und verlässt ihr Häuschen. Obwohl der Mond noch lange nicht voll ist, weist sein Licht Luna den Weg zum Meer. Am Strand angekommen macht sie es sich im Schneidersitz im Sand bequem. Wie herrlich! Es gibt nur sie und das gleichmäßige Kommen und Gehen der Wellen. Mit jeder Welle und jedem Atemzug kommt Luna mehr bei sich an. Ein warmes Gefühl tiefer Zufriedenheit erfüllt sie.
"Wooowwhh! Tut das gut! Wann habe ich zuletzt so ein Glücksgefühl gehabt? Schon lange her", stellt sie fest. Genau genommen liegt es fast sechs Jahre zurück, es war jene Nacht, als sie ihren Mann kennen gelernt hat. Ja, das war eine unglaubliche Geschichte! Wie aus einem mitreißenden Liebesroman. Er hatte in Luna eine selbstbewusste, erfolgreiche Unternehmertochter gesehen. Sie in ihm den starken Prinz mit breiten Schultern zum Anlehnen. Der Klassiker eben. Doch die Romantik war viel zu schnell wieder verflossen. Mit seiner Entscheidung, sich einen neuen Job zu suchen, um dann zusammen ziehen zu können, war das entspannte, romantische Verliebtsein schnell verdrängt worden. Klar, so hatte die frische Liebe schnell erste Risse bekommen.
Mitten in der nun wolkenlosen Septembernacht hockt Luna ganz allein am Meer. Im Licht ihres Namensgebers wird ihr plötzlich klar, dass ihre Ehe auf den Prüfstand gehört. Und damit ihr Leben. Gemeinsamkeiten gibt es schon lange keine mehr zwischen ihr und ihrem Mann. Sie hat ihren Job als Werbetexterin, kocht, macht den Haushalt, den Garten und beschäftigt sich in ihrer freien Zeit mit Hund und Pferd. Er arbeitet.
Der Plan, als Architekt in einem größeren Büro zu arbeiten, war gescheitert und so hatte ihr Mann sich dann selbstständig gemacht. Und obwohl er mit seiner hohen Spezialisierung einen echten Glücksgriff hatte, was ihm der Erfolg immer wieder bestätigte, schien er nicht zufrieden zu sein. Und immer stand die Arbeit an erster Stelle.
Urlaub? Nein. Unmöglich, er könnte ja ein Projekt verpassen. Natürlich hatten sie darüber gesprochen. Und immer, wenn er ihr das erklärte, konnte sie seine Entscheidung in dem Moment auch nachvollziehen.
Aber hier am einsamen Strand von Sylt, mitten in der Nacht, wird Luna klar, wirklich verstehen würde sie das nie. Wie können Job und Geld nur immer wichtiger sein als sie? Ihre Liebe, gesteht Luna sich nun ein, ist eingegangen. Ist wie ein junges Pflänzchen, das nicht gegossen und gepflegt wird, verdurstet und verhungert. Und sich selbst hat sie dabei auch beinahe verloren. Beinahe aber nur.
Luna kann ihren Atem in jeder Zelle spüren. Wie Wellen kommt der Atem. Ein. Eine kleine Pause. Aus. Ein. Eine kleine Pause. Aus. Mit diesem köstlichen Gefühl von Nähe zu sich selbst geht Luna zurück zu ihrem Häuschen und ist zwei Minuten später tief eingeschlafen.
Als sie ihre Augen wieder öffnet, sitzt sie an einem großen Lagerfeuer. Außer ihr sitzen noch fünf andere Frauen im Kreis. Alle haben lange zottelige Haare, sind braun gebrannt, nur mit einem Fellchen bekleidet. Eine Szene aus der Steinzeit. Luna träumt. Sie ist zugleich Luna und jene Frau aus der Steinzeit. Die Frauen fangen an, Töne zu machen. Mit Steinen, Holz und rasselartigen Instrumenten werden Rhythmen geschlagen. Es wird immer heißer. Die Frauen bewegen sich nun in einem wilden Tanz um das Feuer herum. Lunas Körper macht alles mit. Es fühlt sich einerseits altbekannt und vertraut, andererseits völlig neu an. Kraftvoll bewegen sich Füße und Beine. Rhythmisch schwingen Hüfte und Oberkörper. Der Schweiß rinnt. Das Herz schlägt bis in den Hals. Da verändert sich die Szene auf einmal. Die Männer sind von der Jagd heimgekehrt. Ein großes Reh haben sie erbeutet. Der Anführer kommt mit Stolz geschwellter Brust und erhobener Keule auf die Frauen zu. Luna weiß, jetzt wird etwas passieren. Sie weiß nicht was, aber sie spürt eine Mischung aus heißem Verlangen mit ein wenig Furcht. Sehnsucht. Wen wählt er? Nimmt er dieses Mal mich? Sie schlägt die Augen nieder. Als sie wieder aufschaut sieht sie nur noch den Schatten seiner Keule, die über ihren Scheitel fährt. Dann schleift er sie in seine Höhle.
"Endlich, endlich bin ich dran", seufzt Luna und fällt für den Rest der Nacht in einen tiefen, traumlosen Schlaf.