Читать книгу Das Intrigenlabyrinth - Gaby Peer - Страница 5

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Jens versuchte die Augen zu öffnen, doch es war schier unmöglich. Langsam, nur sehr, sehr langsam, wurde er wach und stellte fest, dass er auf der Couch im Wohnzimmer lag. Das immerhin konnte er schon mit Sicherheit sagen. Dann versuchte er sich zu erinnern, warum er auf der Couch lag und nicht in seinem bequemen Bett neben seiner über alles geliebten Frau Celine. Es war fast nicht möglich zu denken – ihm war speiübel und das Licht bohrte sich unerbärmlich und sehr unangenehm, wie es schien, bis mitten ins Gehirn. Selbst wenn sie Streit hatten, schliefen sie doch nie getrennt, das hatten sie sich geschworen. Was machte er also hier und wo war seine Rasselbande? Wieso war es so ruhig im Haus? Sonst ging hier immer die Post ab und es gab nirgendwo ein Plätzchen, wo man auch nur eine Minute Ruhe haben konnte.

Schnell, jetzt sollte er so schnell wie möglich in die Nähe einer Toilette kommen, weil sein Magen das Bedürfnis anmeldete, sich leeren zu dürfen. Es schien Jens unmöglich, diesen Kraftakt zu schaffen. Mehr auf allen vieren bewegte er sich in Richtung Gästetoilette und verschaffte sich Erleichterung. Ihm war immer noch nicht klar, wie er es geschafft hatte, in diesen Zustand zu geraten. Meine Güte, er trank doch kaum Alkohol – jetzt fühlte er sich aber so, als ob er ein ganzes Fass Wein alleine getrunken hätte. Mühsam schleppte Jens sich zurück ins Wohnzimmer, hievte seinen Körper mit immensem Kraftaufwand wieder auf die Couch. Gleichzeitig versuchte er den Kopf mithilfe seiner Hände vorsichtig auf das kleine Kissen zu betten, ohne Gefahr zu laufen, dass er bei dieser Aktion platzte.

Als das alles geschafft war, atmete Jens tief ein und bemühte sich, seinem Körper nicht mehr die volle Beachtung zu schenken – viel wichtiger war jetzt zu klären, warum sein Körper so ruiniert war. Also versuchte er zu denken, was allerdings gar nicht so einfach war – wie er feststellen musste. Oh Gott, es tat alles weh, aber ganz besonders der Kopf und das unsichtbare Brett davor waren dick – sehr, sehr dick! Aber er schimpfte mit sich: „Jetzt reiß dich zusammen, Jens Dornbach, wer sich so sehr betrinken kann, der kann sich nicht so anstellen und bemitleiden.“

Er rief sich den gestrigen Tag, beginnend beim Frühstück, ins Gedächtnis. Es war wie immer: ein großes Tohuwabohu. Alle – das waren seine Frau Celine, die Töchter Magdalena und Marilena, sein Sohn Jonas und der Golden Retriever Max – waren anwesend und jeder sorgte auf seine Art und Weise für Unruhe. Magdalena jammerte wieder einmal herzzerreißend wegen der anstehenden Mathearbeit, die sie selbstverständlich wieder vermasseln, und wegen Mathe auch das Abi sicherlich nicht schaffen werde. Großes Kino – sie konnte sich dermaßen in Szene setzen. Wieder einmal dachte Jens, dass sie sowieso lieber Schauspielerin werden sollte, als sonst irgendetwas zu studieren. Sie war ein Naturtalent. Dann sprang Marilena, die Chaotin, wie von der Tarantel gestochen auf und schüttete dabei ihre noch volle Tasse mit Kakao in den Brotkorb. Celine sprang ebenfalls auf, warf dabei den Stuhl um und begrub den Hund Max darunter, der jaulend davonrannte.

„Ich brauch rote Wolle, gaaanz, ganz dringend. Wenn ich heute keine dabeihabe, werde ich eine Sechs bekommen.“

„Wir haben keine rote Wolle“, sagte Celine „das hättest du gestern Oma sagen müssen, die hat so viel Wolle, dass sie drei Schulen damit versorgen könnte. Warum denkst du nicht am Abend vorher nach oder schreibst dir solche Sachen endlich ins Hausaufgabenheft?!“

Jonas, der jüngste Spross, zwölf Jahre alt, und ein echter Streber, musste auch seinen Senf dazugeben, was die Stimmung nicht wirklich verbesserte. Ja, so weit also alles ganz normal … Aber was ist mit mir?

Da war doch was – ich war extrem aufgeregt. Na klar, gestern war der große Tag, auf den ich jahrelang hingearbeitet habe und für den ich so viel einstecken musste, ohne mich groß wehren zu können. Ja, es waren verdammt harte Jahre, aber man muss es dem Alten echt lassen, er hat es voll drauf und ich hätte an keiner Uni der Welt so viel lernen können wie von ihm.

Der Alte – das war Herr Melzer, der Geschäftsführer des deutschen Teilbereichs eines weltweit tätigen Cateringkonzerns. Er hatte ganz klein angefangen, mit relativ wenig Hilfe von der französischen Konzernspitze. Für die war das nur ein zaghafter Versuch gewesen, auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen. Dass Herr Melzer in kürzester Zeit so viele lukrative Aufträge an Land ziehen würde und der Konzern in einem Affentempo das ganze Bundesgebiet wie ein Spinnennetz überziehen sollte, konnte keiner ahnen. Und Jens war fast von Anfang an dabei und hat mit großem Staunen als Herr Melzers Assistent schnell gelernt und unglaublich profitiert. Viel musste er sich von dem Choleriker allerdings gefallen lassen. So manches Mal war er so verletzt und wütend gewesen, dass er sich immer wieder anderweitig beworben hatte. Letztendlich entschied er sich aber bei jeder sich ihm bietenden Chance zum Bleiben. Er war immerhin der Kronprinz und der Melzer schon so alt, dass es absehbar war, dass er bald seine Position übernehmen würde. Als der Melzer vor zwei Jahren auch noch vorgeschlagen hatte, dass Jens sich selbst eine Assistenz zulegen sollte, war ihm klar gewesen, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis er der Big Boss sein würde. Zum Leidwesen seiner Celine hatte er sich für Charlene entschieden, eine wunderschöne und äußerst gewiefte Blondine. Charlene hatte wahnsinnig schnell gelernt und wurde für Jens schon bald unentbehrlich.

Gestern war der Personalchef der Gesamtkonzernleitung, Herr Arnauld, für zwölf Uhr angekündigt, um die sowieso schon entschiedene Tatsache amtlich zu machen, dass Herr Melzer in den Ruhestand entlassen und er, Jens Dornbach, seine Position übernehmen würde. Der Nebel in seinem Gehirn lichtete sich endlich spürbar! Jens erinnerte sich jetzt ganz deutlich, dass er um neun Uhr in einem extra neu gekauften, unglaublich schicken Anzug mit einer extravaganten und ins Auge stechenden Krawatte, den teuersten Schuhen, die er sich in seinem bisherigen Leben geleistet hatte, und selbstverständlich mit einem frischen Haarschnitt bestens gelaunt ins Büro stolzierte. Auf seinem Schreibtisch saß Charlene in einem umwerfenden, sexy Kleid, perfekt geschminkt und mit einer fantastischen Frisur vor einem Laptop. Jens dachte noch stolz, was für einen genialen, frischen und professionellen Eindruck sie zusammen machen würden. Sie würden sehr erfolgreich zusammen arbeiten. Charlene war eine hervorragende Wahl gewesen und sie hatte sich nie, wie Celine befürchtet hatte, an Jens herangemacht.

„Guten Morgen, Schönheit“, hörte Jens sich in Gedanken noch fröhlich rufen, doch mit Charlenes Antwort war seine kleine, heile, wunderbare, schon beängstigend perfekte Welt zusammengebrochen.

„Schau mal, was ich hier habe, Jens!“ Sie drückte auf eine Taste ihres Laptops. Was Jens da sah, konnte er einfach nicht glauben. Da war er selbst splitterfasernackt zu sehen. Er ging wie ein wild gewordener Stier auf Charlene los – riss ihr die Kleider vom Leib und wenn man es nicht besser wusste, vergewaltigte er sie auf brutalste Art und Weise. Er war wie von Sinnen, richtig primitiv und grob.

„Was ist das, Charlene?“

„Erkennst du dich etwa nicht?“, fragte sie mit einem bösen Lachen. Es schien ein komplett fremder Mensch vor ihm zu stehen.

„Was mache ich da?“

„Das ist doch nicht schwer zu erraten, du hast drei Kinder, du musst doch wissen, was du da tust!“

„Ja, aber wann, wann um Himmels willen ist das passiert?“

„Kannst du dich an Nürnberg erinnern – es wurde dir plötzlich so schlecht und ich habe dich ins Zimmer bringen müssen. Es war wirklich peinlich.“

„Und dann habe ich mich so aufgeführt?“

„Ja, du hattest einen furchtbaren Filmriss!“

„Aber wer hat das gefilmt?“

„Ich natürlich!“

„Warum denn das und warum hast du nie was gesagt?“

„Weil ich diesen Film exakt für den heutigen Tag gebraucht habe. Ich habe ihn sozusagen für heute produziert!“

„Charlene, was soll das Ganze, heute ist so ein wichtiger Tag!“

„Eben, und wenn du nicht willst, dass deine ach so geniale, einmalige Ehefrau diesen Film sieht, wirst du nachher um zwölf Uhr bekannt geben, dass du die Leitung der deutschen CaDe nicht übernehmen wirst, weil du dich überfordert fühlst und der Meinung bist, dass ich die geeignetere Person für diese Position bin. Du wirst mir selbstverständlich als Assistent weiterhin gerne zur Seite stehen.“

Jens fühlte auch jetzt, einen Tag später, dass er immer noch nicht wirklich verstehen konnte, was da passiert war. Es kam ihm wie ein ganz böser Traum vor – die immer gut gelaunte, freundliche, professionelle, hochintelligente Charlene hatte sich in ein echtes Monster verwandelt. Sie hatte zwei Jahre lang ihre Rolle so wunderbar gespielt und er hatte ihr einfach sein gesamtes Wissen vermittelt und sie in alles eingebunden, über alle Entscheidungen gesprochen, sie einfach so fit gemacht für den Assistentinnenjob, wie es der alte Melzer mit ihm gemacht hatte. Und er hatte blindes Vertrauen zu Charlene gehabt. Es gab keine Geheimnisse und er lobte sie auch gegenüber der Konzernspitze, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Wie konnte er mit so was rechnen?

Ab dem Moment hatte er keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Zuerst wollte er den Laptop vernichten. Charlene hielt ihn mit dem Hinweis davon ab, dass der nette Film auf zig Datenträgern vervielfältigt und gesichert sei. Dann überlegte er, ob Celine ihm glauben würde, dass er mit irgendwelchen Drogen und Alkohol so zugedröhnt worden war, dass er sich an wirklich nichts aus den gesehenen Szenen erinnern konnte. Aber er wusste zu gut, dass Celine ihm so etwas nicht verzeihen würde, und sie und die Kinder waren nun einmal das Allerwichtigste auf der Welt.

Zu allem Überfluss rief Celine in diesem Moment auch noch an. Jens war nicht imstande, das Gespräch auf seinem Handy anzunehmen. Dann versuchte sie es über das Sekretariat. Er wollte die Schreibkraft abwimmeln, die aufgeregt zur Tür hereinkam, aber die machte ihm klar, dass es einen sehr wichtigen Grund für den Anruf seiner Frau geben müsse. Sie weine und wolle Jens auf der Stelle sprechen. Erschrocken nahm er sein Handy, ging auf den Balkon und rief Celine an.

Aufgelöst erzählte sie, dass Margot, ihre Mutter, im Krankenhaus sei, weil sie einen Herzinfarkt hatte. Was war das für ein Tag. „Ich komme sofort“, hatte er gesagt – ein großer Schreck war ihm durch die Glieder gefahren, denn er liebte seine Schwiegermutter wie eine eigene Mutter. Sie war eine liebenswerte und sehr hilfsbereite Frau, die sich nie einmischte und ihnen die Kinder sehr oft abnahm, damit sie ihr Eheleben pflegen konnten. Sie war also alles andere als ein „Schwiegermonster“.

Da Jens das Verhältnis zu seinen Eltern eher als schlecht bezeichnen würde, war er umso dankbarer für eine unkomplizierte Schwiegermutter. Er fühlte sich ihr verbunden, weil er von ihr all das bekam, was er sich von seinen Eltern immer so sehr gewünscht hatte. Margot schenkte ihm vom ersten Tag ihres Kennenlernens an Aufmerksamkeit, Interesse an seinem Leben, Wärme, Liebe und viel Zeit für gute Gespräche. Vor allem liebte Jens Margots Humor.

Celine wollte aber nicht, dass er kam, denn sie wusste, wie wichtig der Tag für ihn war. „Du kannst ja auch nichts ändern. Bring deine Sache zu Ende und komm morgen nach. Ich fahr mit den Kindern schon mal vor.“

„Es ist mir nicht recht! Ich möchte bei euch sein.“

„Nein, Jens, bitte reg mich nicht noch mehr auf, ich zittere so schon am ganzen Leib. Mach es einfach so, wie ich es gesagt habe – ich halte dich auf dem Laufenden, versprochen! Ich warte, bis die Kinder von der Schule kommen – ich möchte keine Panik verbreiten und muss auch noch ein paar Sachen zusammenpacken. Ich weiß ja nicht, wie lange ich dort bleiben werde.“

„Fahr bitte vorsichtig.“ Jens musste sie ziehen lassen, er kannte Celine zu gut. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es völlig sinnlos zu versuchen, ihre Meinung zu ändern. Er war ohnehin wie gelähmt von den schlimmen Vorkommnissen an diesem Morgen.

Also gab es nur einen Weg. Wie eine Marionette verkündete er vor den Herren Arnauld und Melzer den von Charlene gewünschten Text. Herr Melzer fiel fast von seinem Stuhl, sein Gesicht wurde innerhalb von Sekunden zum Leuchtturm, die Brille rutschte ein ganzes Stück seine Nase hinunter und er war sprachlos – er sagte einfach gar nichts! Das war für Herrn Melzer so ungewöhnlich wie ein Eskimo, der sich einen Kühlschrank kauft – eine undenkbare Situation! Herr Arnauld war ebenfalls sehr erstaunt. Beide redeten dann mit Händen und Füßen auf ihn ein, aber Jens konnte sich nur auf das ironische Lächeln von Charlene konzentrieren, die hinter den sitzenden Herren, gegenüber von Jens in lockerlässiger Haltung dastand und ihm warnende Blicke zuwarf.

An den Heimweg konnte er sich nur schemenhaft erinnern und auch nicht an die ersten Stunden zu Hause. Er hatte sich wohl gleich etwas aus der Bar geholt und getrunken. Irgendwann rief Celine an und gab Entwarnung – Margot war außer Lebensgefahr, aber um einen Herzschrittmacher würde sie nicht herumkommen. Auf Celines Frage, wie es bei ihm gelaufen sei, antwortete er nur einsilbig, dass er ihr später alles erzählen werde, was sie sehr verwunderte, weil die beiden stets einen regen und ausführlichen Austausch von Erlebnissen und Gedanken pflegten. Aber sie schien sich zusammenzureimen, dass er noch Besprechungen mit Herrn Arnauld hatte und ziemlich unter Dampf stand.

Jens war sehr erleichtert, dass es Margot besser ging und Celine sich so leicht zufriedengab, trank aber langsam und kontinuierlich weiter. Er konnte es nicht fassen, was ihm da widerfahren war. Die ganze Arbeit, Müh und Plag, die bösen Worte und Erniedrigungen, die er ausgehalten hatte … alles umsonst. Wie konnte er nur so blind und gutgläubig sein? Warum hatte er nichts von Charlenes Plänen gemerkt? Alles vorbei – aus und vorbei. Jetzt sollte er ihr Assistent sein. Wie sollte das funktionieren? Wie stellte sie sich das vor? Sie konnte doch nicht im Ernst glauben, dass er bleiben würde. Aber das war ihr, nach dem heutigen Stand seines Wissens über sie, auch ziemlich egal. Sie hatte ihr Ziel erreicht und brauchte ihn nicht mehr. Sie wusste einfach alles – war clever und selbstbewusst genug, um die Führung zu übernehmen. So was gab es doch nur in schlechten Filmen! Er fühlte sich so unglaublich blöd und blauäugig. Wie sollte er jemals wieder zu irgendjemandem Vertrauen haben können? Warum hatte er Celines Bauchgefühl keine Beachtung geschenkt? Jeder Schluck, den er trank, steigerte seine Wut auf Charlene.

Irgendwann klingelte es an der Haustür. Seine Entscheidung war ganz klar: NICHT aufmachen! Aber der klingelnde Mensch schien das nicht zu begreifen. Voller Wut versuchte er einigermaßen aufrecht stehend die Haustür zu öffnen und wollte schon in der Bewegung losschimpfen. Da stand eine ganz verdatterte Joy mit einer Reisetasche, die nicht glauben konnte, was sie sah. Jens, völlig betrunken, nicht einmal in der Lage, anständig Hallo zu sagen!

„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie kichernd. Joy war Magdalenas Busenfreundin und hatte mindestens die Hälfte ihres Lebens, wenn nicht sogar mehr, im Dornbacher Haushalt verbracht. Sie war sozusagen das vierte Kind.

„Die Frage ist eher, was du hier möchtest?“, fragte Jens fast unfreundlich.

Joy erschrak etwas, weil Jens sonst immer sehr freundlich und fröhlich war und sie wie ein Vater behandelte. „Magdalena und ich wollten heute Abend lernen und einen Film anschauen – es war ihre Idee!“, rechtfertigte sie sich.

„Magdalena und auch alle anderen sind nicht da. Sie sind bei Margot in Wiesbaden. Sie hatte einen Herzinfarkt und sie mussten in aller Eile los. Da hat Magdalena dich bestimmt total vergessen.“

„Oje, das tut mir leid. Wie geht es Omi?“ Auch Joy nannte sie Oma, das wollte Margot so, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlte. Joy hatte keine eigene Oma.

„Außer Lebensgefahr!“, murmelte Jens und wollte einfach nur wieder auf seinem Sofa sitzen, weil die Beine ankündigten, dass sie wohl sehr bald ihren Dienst versagen würden.

„Und jetzt?“, fragte Joy. „Meine Mum ist zum Arbeiten gefahren und du kannst mich ja wohl in deinem Zustand nicht nach Hause fahren.“

„Ja, komm rein, du kannst ja trotzdem in Magdalenas Zimmer schlafen.“

Joy hatte sich zu ihm ins Wohnzimmer gesetzt, wo sie sich unterhielten. Daran konnte Jens sich am nächsten Morgen noch ziemlich deutlich erinnern. Er wusste auch noch, dass er trotz des bereits katastrophalen Zustandes immer weiter getrunken hatte.

Joy war eine fröhliche und selbstbewusste Sechzehnjährige, die in letzter Zeit immer wieder mit Jens geflirtet hatte. Er hatte sich immer köstlich darüber amüsiert. Heute Abend war das Gefühl irgendwie ein anderes. Er spürte eine Wut hochschäumen und erwischte sich dabei, wie er dachte, dass sie dieser Charlene doch sehr ähnlich war. Nicht nur äußerlich …

Joy fand seinen Zustand unheimlich lustig und reizte ihn sehr wahrscheinlich ganz unbewusst. Jens trank weiter … und wurde innerlich immer wütender – seine ganze Enttäuschung und seine verletzte Seele nahmen mit zunehmender Betrunkenheit ungeahnte Maße an.

Ja, das war sein allseits bekanntes Problem, weswegen Jens nur selten und dann auch nur wenig Alkohol trank. Er wurde aggressiv und unberechenbar. Er verlor komplett die Kontrolle und es war in seiner Jungend auch schon oft genug zu Handgreiflichkeiten gekommen. Seine Freunde zogen ihn damit gerne auf. Andere wiederum konnten nicht nachvollziehen, dass sich ein so liebenswerter, friedlicher Mensch unter Alkoholeinfluss so extrem verändern kann. Celine sagte einmal, dass es so sei, als ob ein vollkommen anderer Mensch – ein fremder Mensch – vor ihr stehe. Als ob sich ein Engel in ein Monster verwandele.

Jetzt musste Jens sich wirklich unglaublich anstrengen, um die Geschehnisse von gestern Abend zu rekonstruieren. Ja, irgendwann saß da nicht mehr Joy mit sehr knappen Hotpants und einem viel zu tiefen Ausschnitt in einem aufreizenden Schneidersitz auf dem Sofa, sondern Charlene. Ihr Lachen war plötzlich nicht mehr das bis dahin gern gehörte, freche Lachen, sondern Charlenes fieses, spöttisches Siegerlachen.

Jens stand auf und schwankte sehr, was Joy noch mehr belustigte und Jens noch mehr reizte. Dann sah er sich plötzlich auf „Charlene“ zustürzen und sie mit allen Kräften, die ihm noch zur Verfügung standen, vergewaltigen. Immer wieder keuchte er: „So, jetzt hab ich dich wirklich vergewaltigt – jetzt hast du das, was du verdient hast, du elendes Luder!“ Ganz deutlich sah Jens die Szene plötzlich vor sich und ihm wurde schwarz vor Augen. Verdammt, ich habe Joy vergewaltigt!

Mühsam sammelte er seine Kräfte und schob den geschundenen Körper die Treppe hoch, um in Magdalenas Zimmer nach Joy zu schauen. Natürlich war sie da nicht. Doch wohin konnte das Kind nur mitten in der Nacht gegangen sein? Die Mutter war Krankenschwester und hatte Nachtschicht. Sofort rief er auf Joys Handy an – aber es meldetet sich nur die Mailbox. Zu Hause bei Watermanns konnte er ja wohl schlecht anrufen. Was sollte er ihrer Mutter nur sagen? Sie war seiner Familie und ihm insbesondere sowieso nicht wohlgesinnt. Was zum Teufel hatte er nur angestellt? Noch gestern vor etwas über vierundzwanzig Stunden war sein Leben vollkommen in Ordnung, nein, es war perfekt gewesen!

Was sollte er jetzt tun? Er konnte sich nicht konzentrieren, war völlig aufgewühlt und verzweifelt, weil er ab dem Punkt der Vergewaltigung überhaupt keine Erinnerung mehr hatte. Wie sehr er sein Gehirn auch anstrengte – er versuchte es auszupressen wie eine Zitrone –, es gab einfach keine Informationen, keine Bilder, noch nicht einmal Ahnungen für den Zeitraum danach her. Was hatte er Joy angetan, wo war sie nur? Er konnte ja auch schlecht in der Schule anrufen – aber er konnte hinfahren! Wie sollte er dem Mädchen, das wie eine Tochter für ihn war, nur jemals wieder in die Augen schauen?

Gerade als er sich einigermaßen zurechtgemacht hatte und sich im Spiegel zumindest teilweise identifizieren konnte, klingelte sein Handy. Er nahm es schnell zur Hand – aber es war Celine, die ihm mitteilen wollte, dass sie noch ein paar Tage bleiben werde und ob er am Sonntag kommen und dann die Kinder wieder mitnehmen könne. Oh Gott, es gab so vieles zu regeln, aber zuerst musste er mit Joy reden. Er hatte keinen Nerv dafür, jetzt mit Celine über Familienorganisation zu reden, und war sehr kurz angebunden, was den Eindruck erwecken sollte, dass er wirklich sehr unter Stress stand. Celine kannte ihn so wirklich nur in Extremsituationen, die es selten gab, deshalb reagierte sie auch richtig, indem sie sich schnell verabschiedete.

„Oh, Schatz, ich merke, du hast Druck. Na ja, solange der Franzose da ist, wirst du wohl kaum eine freie Minute haben. Nur eines noch: Joy wollte bei uns schlafen und Magdalena hat vor lauter Schreck vergessen ihr Bescheid zu geben. Aber du warst ja sicher noch groß aus zum Essen und Feiern. Vermutlich hast du sie gar nicht gesehen. Leider ist sie auf ihrem Handy nicht erreichbar und nun hat Magdalena Angst, dass sie böse ist. Sie wird sie nach der Schule zu Hause anrufen. Ich sag in der Schule Bescheid, dass die Kinder erst am Montag wieder in den Unterricht kommen werden. Also Liebling, halt die Ohren steif und bis später.“

„Oh, ich werde schlecht erreichbar sein, bitte ruf nicht an, ich werde mich bei dir melden. Im Büro sind alle genervt, weil der Franzose so einen Wirbel macht, und Melzer ist auch auf hundertachtzig. Grüß alle lieb von mir und gute Besserung für Margot. Ich vermisse euch – ich liebe euch und vor allem dich!“

Danach hatte er wenigstens ein etwas besseres Gefühl, dass Celine nicht argwöhnisch werden und sich Gedanken machen würde. Es schien so, als ob am Ende des Gespräches alles so wie immer war, nur dass Jens eben sehr, sehr gestresst war. Was für Celine mehr als verständlich war, wie er sie kannte. Sie war eine so wunderbare Frau – das Beste, was ihm passieren konnte.

Nun war diese Seite für eine Weile ruhiggestellt. Jetzt musste er Schritt für Schritt planen, was er alles zu bedenken hatte. Zuerst meldete er sich im Büro krank, dann machte er sich auf den Weg zur Schule, um Joy auf jeden Fall rechtzeitig abzupassen. Wie würde sie reagieren, was sollte er sagen? Wie konnte man sich für so etwas entschuldigen? Da gab es keine Entschuldigung – er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so geschämt und so hilflos gefühlt. Er konnte noch nie verstehen, was einen Mann dazu bringen konnte, eine Frau zu missbrauchen. Vergewaltiger hatte er immer als Schwerverbrecher beschimpft und hätte als gerechte Strafe gern die Entfernung des kleinen Mannes gesehen.

Erst jetzt fing er an über den Abend nachzudenken, an dem der widerliche Film von Charlene entstanden war. Es war ein ganz normales Geschäftsessen mit einem Großkunden, die Verhandlungen liefen glatt. Er hatte wie immer ein Viertel vom Rotwein getrunken und sich aus der Grappa-Runde ausgeklinkt. Dann schlug Charlene vor, noch gemeinsam in die Bar zu gehen. Eigentlich war ihm nicht danach, aber Charlene meinte, es sei ein schöner Abschluss des erfolgreichen Tages. Die beiden anderen Herren sahen das genauso.

Dort war es jedoch so voll, dass er herumjammerte: „Wie lange soll das denn dauern, bis man hier mal was zum Trinken bekommt?“

„Kein Problem, ihr entspannt euch und ich besorge was“, schlug Charlene zuckersüß vor.

Also ließ er sie gewähren – er wollte kein Spielverderber sein und sie hatte ja recht. Es war weder sonderlich spät noch war die Stimmung angespannt. Alle waren locker drauf und so versuchte auch er sich zu entspannen und nahm sich vor, noch ein oder zwei Cocktails zu genießen.

Ganz schnell fühlte er sich dann betrunken – die Dinger hatten es in sich. Die schienen aus purem Alkohol zu bestehen. Es wurde ihm immer schwindliger und schließlich meinte er, auf Wolken zu gehen. Erinnern konnte er sich noch daran, dass er wohl irgendetwas Unpassendes gesagt haben musste, weil Charlene ihn dann unterhakte und sie sich urplötzlich verabschiedeten. Von da an wurde seine Erinnerung sehr bruchstückhaft und ab dem Moment, in dem Charlene das Zimmer für ihn öffnete, weil er schon nicht einmal mehr die Karte in seinem Jackett fand, fehlte sie komplett. Sie musste ihm irgendetwas ins Getränk gemischt haben, denn nur von der Menge Alkohol war so ein Zustand ja wohl nicht möglich. Ein Filmriss – ein kompletter Filmriss. Er konnte sich an gar nichts mehr erinnern, außer an den Morgen danach. Als er aufwachte, war ihm schrecklich übel, sodass er sich laufend übergeben musste. Es dauerte Stunden, bis sie sich endlich auf den Weg machen konnten. Dieser Zustand hielt auch noch gute zwei Tage an. Was war das nur für ein Zeug, das er da zu sich genommen hatte? Damals war er sich sicher gewesen, dass er einfach nur zu viel getrunken und sich zusätzlich einen Virus eingefangen hatte! Er hatte auch nicht weiter darüber nachgedacht.

Jetzt saß er in seinem Auto und wartete angespannt auf den Moment, an dem Joy aus der Schule kommen würde. Er hatte sich gut positioniert, sodass er sie auf keinen Fall verpassen konnte. Er rechnete mit Widerstand und bösen Worten, einfach mit allem Möglichen. Wie sollte es anders sein – er wusste auch immer noch nicht richtig, was er sagen sollte. Er wollte einfach diesen Augenblick, ihr wieder in die Augen zu sehen und sich zu entschuldigen, hinter sich bringen.

Unzählige Schüler strömten aus dem Gebäude, Jens hatte große Mühe, den Blick konzentriert auf den Ausgang zu richten. Die Übelkeit war noch unbeschreiblich und die Kopfschmerzen ließen es kaum zu, klaren zu sehen. Der Strom ließ nach, es kamen nur noch vereinzelt Schüler und dann keine mehr. Er musste sie übersehen haben. Also beschloss er, zu ihr nach Hause zu fahren und vor dem Wohnhaus zu warten. Bis sie heimgeradelt war, würde er schon lange dort auf sie warten.

Nach einer ganzen Stunde gab er schließlich auf und fuhr nach Hause. Schon vor der Haustür hörte er das Telefon klingeln und hatte große Mühe, das Schlüsselloch zu treffen, aber er schaffte es noch, den Hörer rechtzeitig abzunehmen. Allerdings hörte er nicht wie erhofft Joys Stimme, sondern die ihrer Mutter! Und die war alles andere als freundlich.

„Ihr habt doch selbst drei Kinder, warum versucht ihr mir mein einziges wegzunehmen. Klar fühlt sie sich in eurem Paradies wohler als in unserer engen Zweizimmerwohnung. Ich hab ja auch nichts dagegen, dass sie den größten Teil ihres Lebens bei euch verbringt. Aber heute Mittag habe ich frei und wir hatten besprochen, dass sie gleich nach der Schule heimkommt und wir uns eine schöne Zeit in der Stadt machen. Was habt ihr wieder für ein aufregendes Alternativprogramm geboten, dass sie es vorzieht, bei euch zu bleiben?“

Jens wurde noch übler. Joy war nicht zu Hause! Sie war auch nicht in der Schule! Sie ging nicht an ihr Handy! Was hatte er mit ihr gemacht? Hatte er sie irgendwo eingesperrt? Nein, jetzt musste er zuerst Clara einfühlsam erklären, dass Joy nicht bei ihnen war. Er erzählte von den Vorkommnissen mit Margot und dem panischen Aufbruch seiner Familie. Er berichtete auch, dass Magdalena versucht hatte, Joy auf ihrem Handy zu erreichen.

Clara schluckte und stotterte dann: „Ich erreiche sie auch nicht. Aber ich habe sie doch bei euch abgeliefert! Allerdings bin ich gleich losgefahren, weil ich eh schon so spät war. Ich habe also nicht gesehen, ob sie ins Haus gegangen ist. Entschuldigung, weil ich dich so angegangen bin.“

Jens schämte sich. „Macht doch nichts, Clara. Jetzt mach ich mir aber auch Sorgen.“ Wie er sich verstellen und lügen konnte – ekelhaft! Er widerte sich selbst an. Wie tief war er gesunken. Wie konnte ich nur so viel Alkohol in mich hineinschütten? Ich weiß doch ganz genau, was er mit mir macht – besser gesagt, aus mir macht!

„Vielleicht ist sie zu Lars, ihrem Freund. Der wohnt ja gleich um die Ecke bei euch!“

„Ich geh nachschauen“, sagte Jens hastig. „Ich kenne die Familie gut. Ich melde mich gleich wieder bei dir.“

Wie von der Tarantel gestochen rannte Jens los. Gerade als er am Haus der Jörgensens ankam, schob Lars sein Fahrrad aus der Garage und grüßte ihn freundlich. Lars war ein sehr gut aussehender Junge und Jens wusste, dass Magdalena sehr in ihn verliebt war. Aber Lars hatte wohl nur Augen für Joy, was die Freundschaft eine Zeit lang sehr belastet hatte. Aber Magdalena schien sich damit abgefunden zu haben, denn Joy war ihr sehr wichtig und bevor sie ihre allerbeste Freundin verlor, verzichtete sie lieber auf den Schönling.

„He Lars, weißt du, wo Joy ist? Ihre Mutter sucht sie verzweifelt.“

„Ich auch! Sie war nicht in der Schule, auf meine Nachrichten antwortet sie nicht! Keine Ahnung, wo sie steckt, und nein, wir hatten keinen Streit! Das wäre doch die nächste Frage gewesen!“

Der letzte Hoffnungsschimmer! Aus und vorbei! Wenn Lars nicht wusste, wo Joy war, dann … Was sollte er jetzt machen? Sollte er die Wahrheit erzählen und sich der Sache stellen? Allerdings müsste er dann einen Strich unter seine Ehe ziehen, vermutlich auch als Vater seiner Kinder. Er wäre einfach nur noch ein Monster für sie. Sie würden sicher nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Vielleicht gab es ja doch noch einen anderen Weg. Er beschloss, mit seinem Geständnis zu warten, bis Joy wieder auftauchte, und wenn er es nicht schaffte, mit ihr eine Einigung zu finden, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. Aber einen winzigen Hoffnungsschimmer hatte er noch, dass Joy all die schönen Jahre, in denen er sie wie eine Tochter behandelt hatte, nicht ganz vergessen würde.

Jens machte sich auf den Heimweg und rief währenddessen Clara an, um ihr von dem Gespräch mit Lars zu berichten.

„Ich gehe jetzt zur Polizei“, schniefte Clara.

„Das wird aber nichts bringen, erst wenn sie mindestens vierundzwanzig Stunden vermisst wird, starten die eine Suchaktion. Es verschwinden täglich Jugendliche, die dann unversehrt wiederauftauchen!“

„Es passt aber gar nicht zu Joy, einfach zu verschwinden, und das weißt du genauso gut wie ich!“

Das stimmte allerdings, das würde Joy nicht machen, auch nicht wegen des größten Streits. Schon deshalb nicht, weil sie ihrer Mutter keine Sorgen bereiten wollte. Sie wusste genau, wie sehr sich diese für sie aufopferte. Er musste Clara handeln lassen, schon deswegen, weil er sich nicht verdächtig machen wollte.

Erst zu Hause wurde ihm klar, dass die Polizei dann ja sofort hierherkommen würde, weil sein Grundstück der letzte sichere Aufenthaltsort war. Er wurde panisch! Er musste sofort alle Spuren beseitigen und alle Räume prüfen, ob er sie nicht irgendwo in seinem Suff geknebelt hatte. Verdammt, wie hatte er sich nur so betrinken können, dass er nicht mehr wusste, was genau passiert war? Noch hatte er große Hoffnung, dass Joy wiederauftauchen würde und er die Angelegenheit mit ihr regeln konnte.

Zuerst durchsuchte er das ganze Haus – Joy war nirgendwo und auch sonst nichts, was auf sie hindeutete. Ihr Glas vom Vorabend spülte er ganz gründlich von Hand. Es schien ihm, als ob das Glas seine Finger verbrennen würde. Andere Spuren von Joy in seinem Haus waren ja so selbstverständlich, dass er sich da sicher keine Sorgen zu machen brauchte. Jetzt konnte er nur noch warten, bis die Polizei erschien.

Vorher musste er sich aber hinlegen, seine körperliche Verfassung war eine Katastrophe. Er konnte kaum stehen, in seinem Kopf wurde ein Tennismatch ausgefochten – sehr wahrscheinlich von der Weltspitze, bei diesen harten Aufschlägen –, sein Magen fuhr permanent Achterbahn und tun konnte er sowieso nichts. Es fiel ihm nichts Vernünftiges ein, weil er ja eigentlich auch nicht in der Lage war zu denken. Immerhin kam ihm in den Sinn, sich bei Celine zu melden, damit sie keinesfalls im Büro anrief. Wieder gab er den „Gestressten“, sodass sie ihn nicht lange aufhalten wollte.

Dann begab sich Jens in die Horizontale. Es schüttelte ihn vor Ekel vor sich selbst, weil ihm einfiel, was gestern Abend hier auf diesem Sofa passiert war. „Ich bin so ein ekelhaftes Schwein – so ein Dreckskerl …“ Viel weiter kam er nicht, denn schon kurz darauf schlief er ein.

Jens lief ganz gemütlich durch einen wunderschönen Wald, der fast an sein Grundstück grenzte. Die Vögel pfiffen, die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die Baumkronen und malte wunderschöne Bilder auf den Waldboden. Jens liebte den Waldgeruch und atmete tief ein. Hier in diesem Wald war er so gut wie zu Hause – hier joggte er regelmäßig – hier konnte er mit seinem geliebten Hund Max bei einem schönen, einsamen Spaziergang Kraft schöpfen und hier waren ihm schon die besten Ideen gekommen. Ihm war danach, sich bei diesem kleinen Waldstückchen einmal zu bedanken, für all die gute Energie und für dieses heimelige Gefühl. Jetzt musste er lächeln, weil er dachte, das könnte die Vorstufe vor dem Verrücktwerden sein – sich bei einem Stückchen Wald zu bedanken. Dabei richtete er seinen Blick zuerst gen Himmel und sagte laut „Danke“, dann sah er auf den Boden. Gerade wollte er schmunzelnd noch einmal „Danke“ sagen, doch das Wort blieb ihm im Hals stecken. Was er da sah, verschlug ihm den Atem. Aus einem hohen Laubberg schaute eine Hand heraus. Am Ringfinger dieser Hand steckte ein wunderschöner Ring, den er nur allzu gut kannte – es war der Ring, den seine Familie Joy zu ihrer Konfirmation vor zwei Jahren geschenkt hatte. Sie trug ihn immer und passte sehr auf ihn auf. Jens spürte, wie der Boden unter seinen Füßen anfing sich zu bewegen – es schaukelte zuerst langsam, dann immer schneller. Er begann zu schwitzen, ihm wurde so schlecht wie noch nie in seinem Leben!

„So hast du also das Problem beseitigt, du elendes Schwein!“, schrie er sich selbst an. „Ich bin nicht nur ein unbeherrschter Säufer, ein Dummkopf, der sich von einem klugen Blondchen reinlegen lässt, nicht nur ein Vergewaltiger, nein, ich bin auch ein feiger Mörder!“

Jens’ Panik war unbeschreiblich – ich habe Joy getötet. Mein Leben ist gelaufen, alles kaputt! Nicht nur meines – viel schlimmer, auch das meiner Familie! Nein, nein, nein, das darf nicht sein. Das kann ich nicht zulassen. Ich muss Joys Körper endgültig beseitigen.

Wie sollte er mit dieser Schuld weiterleben? Er musste es einfach … für seine Familie. Die konnte schließlich nichts für das, was er angerichtet hatte. Es musste ihm gelingen, alle Spuren zu beseitigen. Immer wieder hört man von Fällen, die nie aufgeklärt werden. Er musste nur gründlich nachdenken und vor allem schnell sein. Die Polizei würde sicher bald vor seiner Türe stehen! Wie aber sollte er Joy am helllichten Tag aus diesem Wald heraustragen? Der Wald wurde von vielen Hundebesitzern zum Gassigehen benutzt. Es konnte nicht allzu lange dauern, bis bei diesem herrlichen Wetter jemand auftauchte. Es blieb Jens nichts anderes übrig, als die Leiche weit weg vom Weg zu ziehen und so gut wie möglich zu verstecken. In der Hoffnung, dass keiner von diesen Kötern sie erschnuppern würde. Schnell erledigte er vor Schweiß triefend und zitternd sein Vorhaben und rannte nach Hause.

Als es endlich dunkel wurde, wollte er los, um seinen währenddessen geschmiedeten Plan, Joy in einen Sack zu packen und in dem nahe gelegenen See zu versenken, in die Tat umzusetzen. Dann aber schien ihm der See keine gute Idee zu sein, denn die würden sicher auch dort nach ihr suchen. Er wollte, dass es keine einzige Spur mehr von Joys Körper auf diesem Planeten gab. Er wollte sein altes, perfektes Leben wiederhaben. Er konnte nicht ändern, was er angerichtet hatte, aber er konnte Unheil von seiner Familie fernhalten. Also beschloss er, Joy zu verbrennen. Dazu fuhr er auf einen entlegenen Grillplatz, wo sie schon oft hingewandert waren, um sich einen schönen Tag zu machen. Zuerst wollte er prüfen, ob sich jemand dort aufhielt, denn manchmal übernachteten hier auch Menschen, so wie sie es oftmals getan hatten. Nein, es war niemand vor Ort – es herrschte Totenstille. Und wenn jetzt niemand da war, würde auch sicher keiner mehr kommen.

Also raste Jens wieder nach Hause beziehungsweise in den Wald und verfrachtete Joy in seinen Kofferraum – alles ging gut. Keine Menschenseele begegnete ihm und er wunderte sich, wie eiskalt und ruhig er plötzlich war. Wie eine Marionette setzte er seinen Plan in die Tat um. Was er mit den Knochen machen sollte, wusste er noch nicht so genau. Wahrscheinlich würde er sie am Sonntag auf dem Weg nach Wiesbaden entsorgen. Bis dahin brauchte er aber ein geniales Versteck.

Am Grillplatz angekommen, machte er ein Feuer und war froh, dass Joy in dem Sack verpackt war, sodass er sie nicht anschauen musste, wenn er sie ins Feuer warf. Er war überrascht, wie cool er das Ganze managte. So schnell gewöhnt man sich also ans Morden? Mit Schwung hievte er den Sack aus dem Auto und warf ihn sich über die Schulter. Am Feuer angekommen, warf er den Sack, ohne ein komisches Gefühl zu haben, als ob er einfach nur eine normale Wurst zu grillen gedachte, ins Feuer.

Urplötzlich hörte er eine Stimme, die Stimme seiner Schwiegermutter Margot: „Du warst für mich der weltbeste Schwiegersohn, den man sich nur wünschen kann – wie kannst du so was tun, Jens?“

„Ich dachte, ich sei die glücklichste Ehefrau auf dieser Erde, weil ich dich zum Ehemann habe, Jens – aber du hast mir die ganze Zeit was vorgespielt. Du bist in Wirklichkeit ein böses Monster.“

„Papa, was machst du da?“ Das war Magdalenas Stimme. „Das bist nicht du – mein cooler Papa! Das ist ein böser Mörder, der hier steht und so was tut!“

Alle starrten ihn aus riesengroßen Augen an. Es war ein unglaublicher Augenblick für Jens – alle Menschen, die er von ganzem Herzen liebte, und Menschen, vor die er sich jederzeit werfen würde, um sie zu beschützen, standen da und sahen in so verzweifelt und maßlos enttäuscht an, dass es ihm das Herz in der Brust zerquetschte – der Anblick der Gesichter seiner Liebsten verursachte eine unbeschreibliche Atemnot. Es war die Höchststrafe! Aber wo kamen sie her? Margot lag doch im Krankenhaus – wie konnte sie hier stehen?

Plötzlich klingelte es … ganz weit weg! Jens verspürte einen enormen Ruck in seinem Körper und dann einen stechenden Schmerz in seiner Schulter. Vorsichtig öffnete er die Augen und fand sich auf dem Boden vor dem Sofa in seinem vertrauten Wohnzimmer wieder. Es war ein Traum! Es war wirklich nur ein Traum – aber so echt! So unglaublich echt! Die Bilder, die Gefühle, die Gerüche, das Gewicht der Leiche, die Gesichter – das war alles so realistisch! Aber es war nur ein Traum! Gott sei Dank. Hoffentlich blieb er das auch!

Aber das Klingeln, das war echt … Jens versuchte aufzustehen, was allerdings schwierig war. Sein Körper versagte ihm den Dienst. Es war schier unmöglich, den Kopf hochzunehmen. Dieser Traum war das reinste Martyrium – was, wenn er die Wahrheit war? Das Telefon, er musste das Telefon abnehmen! Irgendwie erreichte er es noch rechtzeitig.

„Ich konnte die Polizei davon überzeugen, die Suche zu starten! Sie werden vor deinem Haus beginnen. Ich habe ihnen erzählt, dass ich Joy da abgesetzt habe und du nicht zu Hause warst. Hat sie sich bei Magdalena auch nicht mehr gemeldet?“

„Nicht, dass ich wüsste, das hätte sie mir sicher erzählt! Hältst du mich bitte auf dem Laufenden?

„Ja, mach ich“, sagte Clara in einem Ton, der Jens das Herz brach. Diese Frau hatte weiß Gott schon ein unglaublich schweres Leben zu meistern. Was er ihr jetzt noch angetan hatte, raubte ihr sicher den letzten Rest Lebensfreude und Lebensmut. Das Mädchen war ihr Ein und Alles – ihr Lebensinhalt, ihr Grund zu leben und jeden Tag zu kämpfen, damit ihrem Kind eine bessere Zukunft ermöglicht wurde. Es gab nichts anderes in Claras Leben, das zählte, das Sinn machte oder wofür es sich lohnte, sich jeden Tag aufs Neue anzustrengen! Das wusste Jens nur zu gut und deswegen lastete die Schuld noch schwerer auf ihm.

Jetzt musste die Polizei doch gleich klingeln. Er hörte schon viele Stimmen vor dem Haus, wollte sich aber noch ein bisschen zurechtmachen – er musste wie ein Gespenst aussehen. Und ja, er erschrak selber fürchterlich vor seinem Spiegelbild. So hatte er sich selbst noch nie gesehen – völlig entstellt! Ein Fremder starrte ihn an! Das gab es doch nicht – er rief sich in Erinnerung, wie er ausgesehen hatte, bevor er sich vom Friseur auf den Weg zu seinem großen Auftritt im Geschäft gemacht hatte. Er dankte dem lieben Gott für das große Geschenk, das er allein mit seinem Aussehen und seiner Ausstrahlung mit auf seinen Lebensweg bekommen hatte. Dass er zusätzlich auch noch mit einem sogenannten „guten Herz“, Einfühlungsvermögen und mit einem extrem hohen Maß an sozialer Kompetenz ausgestattet war – dafür war Jens wirklich wahnsinnig dankbar. Es war ihm vollkommen bewusst, dass das alles Gottes Gaben waren – ein großes Geschenk der Natur, denn er kannte nur sehr wenige Menschen, die das Glück hatten, mit all diesen Komponenten ausgestattet zu sein. Ja, das dachte er wirklich an dem Morgen voller tiefer Demut und Dankbarkeit.

Er wusch sich und kämmte sich, zog neue Kleidung an. Zu mehr war er nicht in der Lage und wollte es auch nicht. Also ging er wieder ins Erdgeschoss und wartete, dass die Polizei ihn verhören würde. Er wartete und wartete … Sie sollten endlich klingeln, dass er es hinter sich bringen konnte. Aber es passierte nichts – die Stimmen wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Jens traute sich an das Fenster, von dem man auf den Eingangsbereich schauen konnte. Da war keiner mehr. Wie konnte das sein? Die Beamten hatten sich wohl kaum mit der Aussage, dass niemand zu Hause war, zufriedengegeben. Sie mussten doch trotzdem alle Möglichkeiten checken. Sicher würden sie noch einmal zurückkommen. Aber es wurde langsam dunkel und es passierte nichts mehr.

Je länger Jens über seine Situation nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er sich schnell entscheiden musste, wie er sich verhalten sollte. Er entschied als Erstes, dass es das Vernünftigste wäre, morgen wieder ganz normal ins Büro zu gehen! Er wusste, dass er es schaffen würde, Charlene nicht sofort den Hals umzudrehen, weil die Sorgen um Joy noch viel intensiver waren als der Hass auf seine Assistentin. Entschuldigung – Chefin! Big Boss!

Plötzlich hatte er so große Sehnsucht nach seiner Familie. Sofort rief Jens Celine an und freute sich auf ihre Stimme. Er erhoffte sich eine beruhigende Wirkung, die Celine fast immer auf ihn hatte. Fröhlich rief sie: „Hallo Schatz, ich freu mich so, dass du dich meldest. Ich vermisse dich so!“

Genau so hatte es sich Jens gewünscht. Sie tat ihm so gut und es bestätigte ihm nochmals das Gefühl, alles dafür tun zu müssen, um diese wunderbare Frau nicht zu verlieren. „Oh Liebling, ich habe so einen Stress, es ist der reinste Horror. Entschuldige, weil ich immer so kurz angebunden war. Ich vermisse dich auch so sehr und natürlich auch unsere Racker. Alles okay bei euch? Wie geht es Margot?“

„Am Montag bekommt sie ihren Herzschrittmacher. Sie ist aber schon wieder ganz die Alte – flotte Sprüche, gesunder Appetit und eitel wie immer. Ich musste schon einen Großeinkauf machen, weil alles nicht schick genug war, was ich aus ihrem Schrank mitgebracht habe. Sie schäkert mit den Ärzten und ist der Liebling der Krankenschwestern. Ist es okay, wenn ich noch die ganze nächste Woche bei ihr bleibe und sie dann mit zu uns bringe, bis sie zur Kur kann?“

„Na klar, Süße, so machen wir das! Wir kommen hier schon klar. Ich werde versuchen im Geschäft etwas kürzer zu treten …“ Das war ein Fehler – sofort wurde es ihm klar, aber es war zu spät. Celine war eine sehr intelligente Frau, die sofort fragte, wie das gehen solle, jetzt, da er doch der wichtigste Mann in der Firma war. Er solle doch seine Mutter fragen, ob sie für die eine Woche aushelfen könne.

Und jetzt? Sollte er sofort beichten? Nein, das wollte er nicht am Telefon besprechen, sondern unter vier Augen erklären. Aber von Joy wollte er unbedingt noch erzählen. Celine war sehr beunruhigt und stellte auch sofort fest, dass es ganz und gar nicht zu Joy passe, einfach abzuhauen. Sie stellte noch ein paar Fragen, aber Jens konnte kaum eine beantworten. Erleichtert war er trotzdem, dass sie darüber gesprochen hatten.

Am nächsten Morgen überlegte Jens einen kurzen Moment, ob er nicht doch zu Hause bleiben sollte, aber nachdem er sich die Argumente, die für das Gehen sprachen, nochmals vor Augen geführt hatte, gab er sich einen Tritt und machte sich auf den Weg ins Bad. Er war so froh, dass er nicht wieder so schlecht geträumt hatte – das hing aber wahrscheinlich mit der Schlaftablette zusammen, die er genommen hatte. Dadurch hatte er so tief und fest geschlafen wie schon lange nicht mehr. Und trotzdem ließen ihn die Bilder des Traumes nicht los. Er glaubte nicht wirklich, dass er Joy etwas angetan hat – bis auf die Vergewaltigung natürlich. Ja, das war natürlich schlimm, sehr schlimm, aber kein Vergleich zu dem Geträumten. Er hätte in dem Zustand weder eine Leiche aus dem Haus schleppen können noch den ganzen Weg bis in den Wald. Und Spuren von einem Kampf oder gar Blut gab es im ganzen Haus nirgendwo! So ein Unsinn – nein, er hatte Joy nichts weiter angetan. Trotzdem beschloss er, in den Wald zu laufen und an der Stelle, von der er geträumt hatte, nachzuschauen, nur um sich selbst zu beruhigen. Die Polizei hatte doch schon alles abgesucht – also sicher auch den Wald. Auf der anderen Seite schien es ihm, als ob sie die Sache wirklich nicht sonderlich ernst genommen hatten, weil sie es nicht einmal für nötig hielten, ihn zu vernehmen.

Natürlich war im Wald nichts, dennoch fing er an zu zittern, zu schwitzen und gegen akute Atemnot anzukämpfen, je mehr er sich der Stelle näherte. Ganz deutlich sah er die Bilder aus seinem Traum. Er war so am Ende, als er wieder zu Hause ankam, dass er sich noch einmal duschen und frisch anziehen musste! Ich werde zum Psycho! Ich werde immer wieder Albträume haben! Ich werde nie mehr mit einem guten Gefühl in den Wald können. Ich werde keinen Tag mehr ohne Schuldgefühle haben – egal wie das Ganze ausgeht.

Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass Joy etwas passiert sein musste. So wie er sie kannte, würde sie doch ihrer Mutter, für die sie immer mehr die Führer- und Beschützerrolle übernahm, diese Sorgen nicht antun. Sie musste tatsächlich irgendwo so liegen, wie er es in seinem Traum gesehen hatte … Nur dass sicher nicht er der Mörder war. Aber er hatte sie auf jeden Fall aus dem sicheren Haus vertrieben! Wieso hatte sie aber auch so aufreizend dagesessen und wieso sah sie Charlene so ähnlich? Sogar ihre Art zu lachen, ihr Bewegungsablauf … Alles war so identisch gewesen. Dass er überhaupt zu solchem Hass fähig war, den er in dem Moment empfunden hatte, entsetzte ihn immer noch. Der verdammte Alkohol!

Andererseits war es ja auch wirklich keine Kleinigkeit, die sich Charlene geleistet hatte. Sie hatte von einer Sekunde zur nächsten seinen beruflichen Lebensplan zerstört, für den er sehr hart gearbeitet und unheimlich viel Verzicht geübt hatte. Dass er mit einem Menschen, der so schlecht, böse und berechnend war, so lange so eng zusammengearbeitet und es nicht bemerkt hatte, war doch unfassbar. Er dachte an die vielen Geschäftsreisen, die sie zusammen unternommen hatten. Beide hatten immer großes Interesse daran, auch für etwas Freizeit zu sorgen, um sich gemeinsam Sehenswürdigkeiten anzuschauen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen. Dabei hatten sie stundenlange Debatten geführt und sich die Köpfe heiß geredet – nicht nur über Geschäftliches. Es wurde aber auch nie zu privat. Jens dachte, Charlene wirklich gut zu kennen – er hätte für sie die Hand ins Feuer gelegt. Er hatte sich immer wohl in ihrer Gegenwart gefühlt. Wie konnte er so blind sein? Er zweifelte an seiner Menschenkenntnis! Es nützte alles nichts, er würde noch sehr lange brauchen, um das alles zu verkraften, aber momentan stand Joys Verschwinden im Vordergrund.

Er machte sich auf den Weg ins Büro und hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte, und noch viel weniger, wie die anderen sich verhalten würden. Aber es war ganz einfach! Herr Melzer und Herr Arnauld schienen sich mit dem Gedanken, dass Charlene die Position eingenommen hatte, bereits abgefunden zu haben. Mehr noch, sie schienen sehr zufrieden zu sein. Es gab gleich ein Meeting, in dem Jens die gewohnte Position des Assistenten einnahm und Charlene ganz selbstverständlich den alten Melzer-Platz. Es fühlte sich komisch an, doch alle gingen so selbstverständlich mit der Situation um, dass Jens fast dankbar war. Keine Fragen, keine komischen Blicke – nur Charlenes erster Blick sollte ihn ganz offensichtlich daran erinnern, wer am längeren Hebel saß. Aber danach war auch sie so wie immer.

Er konnte es nicht fassen, dass hinter so einer hübschen, freundlichen, warmherzigen Fassade ein solches Teufelsweib steckte. Auch spürte er Enttäuschung darüber, dass zumindest Herr Melzer nicht einmal bedauerte, dass er den Job nicht übernommen hatte. Hielt er doch nicht so viel von ihm oder war es ihm einfach egal, wie es in diesem Laden weiterging? Egal, das alles war momentan zweitrangig. Er musste dankbar sein, dass alles so einfach vonstattengegangen, er nicht in Erklärungsnot gekommen oder größerer Druck auf ihn ausgeübt worden war … So musste er jetzt einfach denken! Und Schluss! Jens versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Und so verging ein Tag nach dem anderen. Jens rief täglich mindestens dreimal mit zitternden Händen bei Clara an, mehr passierte nicht. Es war zum Verzweifeln – die Polizei suchte jetzt mit Hochdruck nach Joy und auch die Presse wurde eingeschaltet. Alle Gespräche mit Celine und den Kindern drehten sich nur um Joy. Magdalena war nur noch am Heulen und alle hatten einfach nur panische Angst vor dem Anruf, dass sie leblos gefunden wurde. Trotz aller möglichen Suchaktionen schienen sie Jens völlig ausgeklammert zu haben. Clara hatte bei der Aufgabe der Vermisstenanzeige zwar von dem Herzinfarkt und plötzlichen Aufbruch der Familie Dornbach erzählt, dass Jens aber nicht mitgefahren war, schien keinen zu interessieren. Auch ein Geschäftsessen beziehungsweise eine Feier am Abend waren für alle, Clara eingeschlossen, so selbstverständlich, dass er einfach nicht befragt wurde. Wenn herauskam, dass er zu Hause gewesen war … Er musste sich unbedingt etwas einfallen lassen.

Endlich war die Woche rum. Am Samstagabend gab es eine aufwendige Galaveranstaltung mit der kompletten Belegschaft, bei der die neue Geschäftsführerin gefeiert wurde. Alle Ehre, die eigentlich Jens sich verdient hatte, kam Charlene zugute. Ihm war zum Heulen zumute, aber er schaffte es irgendwie den Eindruck zu erwecken, dass das alles so vollkommen in Ordnung für ihn war. Er machte gute Miene zum bösen Spiel, und zwar sehr gekonnt und überzeugend. Magdalena musste die schauspielerische Fähigkeit von ihm geerbt haben. Bisher hatte er von diesem Talent nie etwas bemerkt. Aber er machte alles ganz automatisch – im richtigen Moment lächeln, das Richtige sagen, sich kleinmachen, wenn Charlene das Wort ergriff. Ja, es funktionierte alles erstaunlich gut.

Am meisten überraschte ihn, dass er keinen großen Hass für Charlene empfand. Das lag aber sicher daran, dass er momentan nur ein Gefühl hatte – Angst um Joy. Es gab keinen Platz für andere Gefühle. Die Schuld und Scham erdrückten ihn. Clara war ihm nie sonderlich sympathisch gewesen, was sicher an ihrem Verhalten seiner Familie gegenüber lag, aber jetzt tat sie ihm so unendlich leid. Und nun war er für sie auch noch die engste Bezugsperson. Es schien sonst keinen Menschen in ihrem Leben zu geben. Jens hatte ihr alles, was sie hatte, genommen.

Am Sonntagmorgen machte Jens sich auf den Weg ins Krankenhaus, nachdem er mit Clara gesprochen hatte. Es gab nichts Neues. Es tauchten auch keine Zeugen auf, die das Mädchen gesehen hatten. Sie war einfach wie vom Erdboden verschluckt. Jens hatte Clara sogar angeboten, mit ihm zu fahren, aber sie wollte sich keinen Zentimeter vom Telefon wegbewegen, was er auch gut verstehen konnte.

Die Wiedersehensfreude war groß. Erst jetzt merkte Jens, wie sehr er seine Familie vermisst hatte. Auf der anderen Seite war es das Beste, was ihm passieren konnte, dass sie nicht zu Hause gewesen waren. Er hatte sehr schlimme Tage und Nächte hinter sich. Der Versuch, ohne Schlaftabletten zur Ruhe zu kommen, war kläglich gescheitert – wenn er überhaupt einschlafen konnte, dann träumte er schreckliche Dinge. Auch die Panikattacken kamen immer häufiger und sie wurden auch kontinuierlich schlimmer. Wenn er auf der Straße ein Mädchen mit langen, blonden Haaren sah, zuckte er zusammen. Er fing an zu zittern, als ob er an Parkinson erkrankt wäre. Aber es war niemals Joy gewesen. Einerseits wusste er nicht, wie er diese Zustände vor seiner Familie verbergen sollte, andererseits erhoffte er sich durch sie Ablenkung und Erleichterung.

Nach der ersten Freude kehrte nach seiner Auskunft, dass es von Joy nichts Neues gab, große Trauer ein. Vor allem Magdalena hängte sich an ihn und suchte Trost und Kraft. Ausgerechnet bei ihm – er fühlte sich so schmutzig, so falsch. Wie sollte er mit dieser Schuld weiterleben? Er musste sich zusammenreißen, das war er seiner Familie schuldig. Er durfte sich nicht um seine Gefühle kümmern! Seine Familie durfte durch seinen Fehler nicht leiden! Es war für alle schon schlimm genug, mit Joys Verschwinden klarzukommen, aber wenn er sich jetzt auch noch offensichtlich verändern würde, wären alle hoffnungslos überfordert. Er musste wie immer der Fels in der Brandung sein. Und nichts anderes kam infrage! Ob er die Kraft aufbringen würde, das wusste er noch nicht. Es stand ja auch noch das Gespräch mit Celine wegen seines Jobdilemmas an. Das wollte er aber in Ruhe bei einem Spaziergang erledigen.

Der Tag wurde dann trotz Angst und Trauer ein recht schöner. Margot freute sich riesig über den Besuch „des best aussehenden, höflichsten und liebenswertesten Schwiegersohns der Welt“, wie sie Jens dem Pflegepersonal vorstellte. Ihre Tochter habe verdammt großes Glück, dass sie nicht fünfundzwanzig Jahre jünger sei, denn sie würde alles dafür tun, um Jens zu bekommen! Sie verbreitete wie immer gute Laune und wenn Jens es nicht besser wüsste, würde er nicht glauben, dass sie einen Herzinfarkt hatte.

Später unternahmen sie den Spaziergang, den er sich von Celine wünschte. Sie freute sich, dass er mit ihr allein sein wollte. Sie liebte ihn so sehr – er war etwas Besonderes! Sie dachte oft: Wenn es Engel auf Erden in Menschenform gibt, dann ist Jens einer davon. Was für ein Glück sie doch hatte!

Was sie dann aber zu hören bekam, verschlug ihr die Sprache. Nicht, dass sie persönlich großen Wert darauf legte, Frau des großen Geschäftsführers zu sein – also die CaDe-First Lady –, aber für ihn war es doch so wichtig gewesen. Er hatte sich dafür aufgerieben, hatte oft sogar auf Urlaub mit seiner Familie verzichtet – was ihm, wie sie sicher wusste, verdammt schwergefallen war. Nein, sie konnte es weder verstehen noch glauben, was er da erzählte. Er habe freiwillig verzichtet – er habe seine Bewerbung zurückgezogen und Charlene für die Position vorgeschlagen. Seine Begründung, dass er noch weniger Zeit für seine Familie hätte, noch öfter und noch längere Reisen unternehmen müsste, konnte sie ihm nicht abnehmen. Sie kannte ihn zu gut und spürte, dass hier etwas nicht stimmte. Aber alles, was sie sagte und ihm unterstellte, wurde von Jens abgeschmettert. Weil sie merkte, dass sie ihn damit quälte, beschloss sie, es erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Sie wollte auch nicht im Streit auseinandergehen. Aber hier stank etwas bis zum Himmel!

Schließlich kam der Zeitpunkt der Trennung und die war schwerer als gedacht. Celines Nähe war Balsam für seine Seele, aber es war wichtig für sie, bei Margot zu bleiben, und er wollte es ihr nicht unnötig schwer machen. Die Kinder würden ihn schon so beanspruchen, dass er kaum Zeit zum Nachdenken haben würde.

Magdalena bat ihn, sobald sie im Auto saßen, Clara anzurufen. Sie selbst wollte es nicht tun, denn auch sie mochte Clara nicht besonders, weil diese sie immer komisch behandelt hatte. All die Jahre hatte sie ihr immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie in ihren Augen nur ein schrecklich verwöhntes Gör war. Magdalena ging nicht gern zu Joy nach Hause. Übernachtet hatte sie dort auch nur in äußerster Not und unter großem Wehklagen. Das Telefonat ergab nichts Neues. Joy blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Irgendwie ging auch die folgende Woche rum – die Stimmung war zwar nicht mit der sonstigen im Hause Dornbach vergleichbar, aber das war auch gut so. Den üblichen Rummel hätte Jens nur mit viel Mühe ertragen. Die Kinder waren sehr still und traurig. Sie erfüllten ihre Pflichten. Magdalena freute sich nicht einmal über ihre 1,5 in Mathe, dabei hatte sie es noch nie in ihrer Schullaufbahn geschafft, in diesem Fach eine bessere Note als 2,5 zu schreiben. Im Normalfall hätte sie eine Party angeordnet. Aber so ließ sie Jens unterschreiben und legte sie mit dicken Tränen in den Augen beiseite. Ihr Anblick zerbrach Jens das Herz. Joy fehlte ihr so sehr! Sie war die Einzige, die laut aussprach, dass Joy nicht mehr am Leben sein könnte oder zumindest irgendwo unfreiwillig festgehalten wurde, weil sie aus freien Stücken ihre Mutter niemals mit solchen Sorgen belasten würde. Jeden Tag nach der Schule lautete die erste Frage: „Gibt es was Neues von Joy, Papa?“

Marilena und Jonas verbrachten fast die komplette Freizeit in ihren Zimmern. Die Polizei hatte die Kinder nach auffälligem Verhalten, Lieblingsplätzen oder Geheimverstecken befragt, aber weitergebracht hatten die Auskünfte die Ermittlungen nicht. Seltsam für Jens war, dass sie ihn ausschließlich nach seiner persönlichen Meinung über Joy befragt hatten, und auch das nur sehr kurz und oberflächlich. Nur gut, dass niemand seine Gedanken lesen konnte, denn während der Befragung bekam er Schnappatmung … Dass das keinem aufgefallen war, unglaublich! Er war der Ohnmacht nahe gewesen! Urplötzlich waren die Beamten jedoch aufgestanden und hatten sich verabschiedet. Jens wusste nicht, wie ihm geschah – sie waren weg und er immer noch ein freier Mann!

Selbst Max war ganz still und bewegte sich kaum von seiner Decke weg. Jens hatte es immer noch nicht geschafft, mit ihm in den Wald zu laufen. Er suchte neue Wege, die er mit seiner Familie gehen konnte. Er dachte über einen neuen Job und einen Umzug in eine andere Stadt nach. Zu sehr brachten sie alles hier mit Joy in Verbindung. Bei allem, was sie taten, an jedem Ort, wo sie sich aufhielten, bei jedem Spiel, das sie spielten, bei jedem Gericht, das gekocht wurde, bei jedem Lied, das im Radio lief, einfach bei allem gab es irgendwie eine Verbindung zu Joy. Bei dem Bau des Baumhauses hatte sie die Regie übernommen, weil sie in solchen Dingen äußerst geschickt war und Jens eher ein bescheideneres Talent aufweisen konnte. Sie hatte tagelang mit Celine, die Architektin war, geplant, gezeichnet, Einkaufslisten geschrieben und Arbeitseinsatzplanungen entworfen. Sie war so präsent in ihrem Leben gewesen. Das war Jens nie so bewusst. Joy war für ihn und Celine beinahe wie ein eigenes Kind. Sie gehörte mit einer solchen Selbstverständlichkeit dazu – selbst bei der Urlaubsplanung wurde sie meistens mit einbezogen. Nur auf ganz großen Reisen wurde Joy nicht mitgenommen. Schon deshalb nicht, weil Clara es nicht erlaubt hätte.

Am Samstag kam Celine mit Margot nach Hause. Es war alles gut verlaufen und sie würde schon bald zur Kur fahren. Margot wusste noch nicht, was mit Joy passiert war, weil Celine noch immer Hoffnung hatte, dass das Kind wohlbehalten wiederauftauchte. Außerdem wollte Celine nicht, dass Margot sich aufregte und große Sorgen um Joy machte. Das wäre für ihr angeschlagenes Herz sicher nicht von Vorteil. Margot hätte sich bestimmt unglaublich aufgeregt, denn sie liebte Joy genauso wie ihre Enkelkinder. Joy hatte auch sehr oft den Großteil ihrer Ferien bei Margot verbracht.

Nun aber war es an der Zeit, auch Margot davon zu erzählen. Wie erwartet reagierte sie sehr emotional. Margot war ein sehr fröhlicher und meistens positiver Mensch. Sie war aber auch sehr gefühlvoll und trauerte ganz intensiv. „Aber da muss man doch was unternehmen! Was können wir nur tun?“, fragte sie unter Tränen.

„Margot, die Polizei hat schon alles in Bewegung gesetzt, was nur möglich ist – aber alles ohne Ergebnis!“

Insgeheim dachte er, dass die Ermittlungen nicht gerade von großer Professionalität zeugten, so wie sie ihn aus dem ganzen Prüfverfahren einfach ausklammerten. Auch die Befragung der Kinder war mehr als dürftig gewesen. Sehr wahrscheinlich hatten sie den Fall schon so gut wie ins Archiv verschoben! In der Presse wurden die Berichte und Zeugenaufrufe immer kleiner und seit zwei Tagen wurde der Fall überhaupt nicht mehr erwähnt. Wie traurig!

Eigentlich hätte er anfangen können, sich etwas zu entspannen, aber das Gegenteil war der Fall. Jens wurde immer panischer und es kostete ihn von Tag zu Tag mehr Kraft, sich nicht zu verraten. Vor allem, dass er nicht wie gewohnt mit Celine über seine Sorgen sprechen konnte, machte ihn verrückt. Und immerzu aufzupassen, dass er sich nicht verplapperte, strengte ihn unglaublich an. Das war er einfach nicht gewöhnt. Sie waren so offen miteinander, nie gab es ein Geheimnis zwischen ihnen – außer vielleicht mal eine heimlich geplante Überraschung. Oft entstand ein richtiger Wettbewerb zwischen ihnen, wer denn nun die besseren Einfälle hatte. Sie hatten viel Spaß dabei, sich gegenseitig neugierig zu machen. Auch die Kinder waren schon die reinsten Meister darin.

Die letzte große Überraschung hatten sie alle zusammen für Joy geplant – die Party zu ihrem sechzehnten Geburtstag! Was hatten sie nicht alles für sie auf die Beine gestellt. Eine Hollywoodparty, zu der alle in Glitzer und Gloria gekleidet erscheinen mussten, einen Walk of Fame hatten sie gebastelt, eine Award-Verleihung mit einer witzigen, gereimten Laudatio für jeden einzelnen Gast. Joy war an diesem Abend natürlich der Stargast! Einen Profifotografen hatten sie engagiert und die Dekoration war einfach der Hit. Es wurde eine „superaffengeilcoole Party“, wie Joy es ausdrückte. Mit Tränen in den Augen dankte sie allen …

Nur ihre Mutter wollte nicht dabei sein, weil sie ihrer Meinung nach sowieso nicht dazupasste. Zum Anziehen hatte sie auch nichts Passendes und auch kein Geld übrig, um sich einen so kitschigen Fummel zu kaufen. Langsam begann Jens zu verstehen, was Clara gegen sie hatte. Sie konnte weder finanziell noch beim heiteren Miteinander mit den Dornbachs mithalten. Sie hatten ihr die Tochter ein Stück weit weggenommen – ja, so sah er es heute! Joy liebte ihre Mutter über alles, sie wusste genau, dass sie sich für sie aufopferte, aber sie nahm auch ganz selbstverständlich und von ganzem Herzen gerne die Angebote der Dornbachs an. Und die dachten, dass Clara dankbar war, dass sie ihrer Tochter mit so viel Liebe und Großzügigkeit begegneten. Wie oft hatte es ihr wohl einen Stich versetzt, wenn Joy von den Dornbachs und ihren gemeinsamen Aktivitäten schwärmte, die Angebote und die Gesellschaft der Dornbachs vorzog … Nicht einmal war ihm in all den Jahren zuvor so ein Gedanke in den Sinn gekommen und Celine sicher auch nicht. Sonst hätte sie es laut geäußert.

Sie blieben an diesem Samstag alle lange auf, redeten, weinten und trösteten sich gegenseitig. Aber einen wirklichen Trost gab es nicht – Joy war weg und sie fehlte unglaublich! Das war schon schlimm genug, aber die Sorgen um sie, die Ungewissheit und die Panik vor dem Anruf waren fast nicht auszuhalten. In dieser Situation war Margot wirklich keine Hilfe – sobald sich alle gefangen hatten, schniefte sie wieder los. Sie musste möglichst schnell in die Reha!

Jens nahm an diesem Abend wieder einmal eine Schlaftablette, weil er dringend einen erholsamen Schlaf brauchte, um seinen Alltag bewältigen zu können. Charlene nahm ihn im Geschäft ganz schön hart ran, aber dadurch kam er wenigstens auf andere Gedanken. Es war eine gute Ablenkung! Er hatte immer noch kein Potenzial, um sich mit Charlene auseinanderzusetzen, und sie genoss ihren Sieg auf der ganzen Linie. Wahrscheinlich war sie sogar etwas enttäuscht, weil er sich absolut kampflos ergeben hatte. Mit gar keinem Widerstand hatte sie vermutlich nicht gerechnet. Aber bequemer war es so allemal.

Das Telefon klingelte … Jens hatte das Gefühl, nur zu träumen, denn er war von der Tablette so benebelt, dass er sich nicht auf Anhieb orientieren konnte. Das Klingeln trommelte in seinem Kopf, es durchdrang sämtliche Hirnwindungen gewaltsam, bis er es schaffte, das Klingeln der Realität zuzuordnen. Er wollte aufstehen, aber der Plan war wesentlich einfacher als die Durchführung selbst. Plötzlich hörte das Klingeln auf. Eigentlich rief so gut wie niemand mehr über den Festanschluss an. Jedes Familienmitglied hatte ein eigenes Handy und sie kommunizierten auf dem Weg miteinander. Ebenso verhielt es sich mit ihren Freunden, Verwandten und Bekannten. Plötzlich war Jens hellwach – Clara, ja, nur Clara hatte überhaupt noch das Festnetz genutzt.

Ein durch Mark und Bein gehender Schrei folgte der kurzen Stille. Es war Magdalenas Stimme: „Sie ist wieder da, sie ist wieder da – los, alle aufwachen, Joy ist wieder da!“

Alle stürmten jubelnd aus ihren Zimmern und umringten Magdalena. Die konnte aber nicht viel sagen, außer dass Joy wohlbehalten wieder zu Hause angekommen war. Alles andere würde sie dann in Ruhe erzählen.

Sie war also wieder da! Jens spürte eine Erleichterung, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Jetzt hatte er aber wirklich das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Was war das für ein Gefühl – eine tonnenschwere Last fiel von seinen Schultern. Er sah den anderen zu, wie sie sich freuten und umarmten. Bei ihm wurde das Gefühl jedoch gleich wieder gedämpft, weil ihm bewusst war, dass Joy ihn anzeigen würde und sein perfektes Leben damit beendet war. Aber er war sich auch im Klaren darüber, dass er so nicht hätte weiterleben können. Diese Schuld hätte ihn innerhalb von wenigen Wochen zum psychischen Krüppel gemacht. Da war er sich ganz sicher. Der Druck, der auf ihm lastete, hatte sich in der Zeit, die seit dem Vorfall vergangen war, um ein Vielfaches verstärkt. Er war keineswegs geringer geworden. Nein, lange hätte er es nicht mehr ausgehalten, mit diesem Geheimnis zu leben. Er hatte über einen Umzug nachgedacht, aber es wurde ihm jeden Tag immer klarer, dass er ihm keine große Erleichterung verschaffen würde. Seiner Familie wahrscheinlich schon. Aber er trug die Schuld in seinem Herzen und sie würde immer präsent sein – egal wohin er auch ging. Die Schuldgefühle wären mit Sicherheit auch beständig gewachsen und hätten ihn nach und nach zerstört. Er konnte ja nicht einmal psychologische Hilfe in Anspruch nehmen! Was sollte er denn bei einem Psychologen? Der konnte ihm die Schuldgefühle auch nicht nehmen.

Jetzt stellte sich die Frage, ob er seiner Familie sofort alles beichten sollte. Diese Freude auf der Stelle zu zerstören, das brachte er nicht fertig. Wie sollte er das jetzt am besten lösen? Mit Celine allein reden? Ja, so würde er das machen. Aber ehe er sich versah, war die ganze Horde schon in Aufbruchsstimmung. Sie hatten, während er sich seinen Gedanken hingegeben hatte, geplant, sich sofort auf den Weg zu Watermanns Wohnung zu machen. Verzweifelt versuchte er sie davon abzuhalten, indem er erklärte, dass die beiden jetzt sicher erst einmal alleine sein wollten. Sie hätten sicher jede Menge zu besprechen. Aber kein Argument zählte – keiner von ihnen war aufzuhalten. Er lehnte das Angebot ab, mit ihnen zusammen zu Clara und Joy zu fahren. Sie waren in Lichtgeschwindigkeit angezogen und flogen fast zum Auto – und das alles, ohne sich anzuschreien und gegenseitig zu beschimpfen. Einen letzten Versuch startete er, um wenigstens Celine zum Bleiben zu überreden. Aber es war sinnlos. Er musste den Dingen seinen Lauf lassen.

Ob Joy schon bei der Polizei war oder gerade mit ihrer Mutter über den Vorfall sprach? Clara würde die Polizei natürlich auf der Stelle benachrichtigen. Die Schlinge zog sich immer fester um seinen Hals, doch er dachte verzweifelt: Und trotzdem ist mir dieser Weg lieber, als wenn sie das Mädel tot aufgefunden hätten. Er würde büßen – er war kein schlechter Mensch. Er hatte einen schlimmen Fehler gemacht und das auch nur bei halbem oder noch weniger Bewusstsein – aber er würde dafür geradestehen! Das war seine Entscheidung, seine endgültige. Einen anderen Weg gab es nicht.

Jens rief bei Watermanns an und bat Clara, Joy sprechen zu dürfen. Nur widerstrebend nahm sie den Hörer, das spürte er ganz deutlich. „Hallo, Jens“, sagte sie zu seiner Überraschung ganz freundlich. Was um Himmels willen war jetzt los? „Wie geht es dir so? Ich hab kurz Urlaub gemacht in eurem Ferienhäuschen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.“

Jens war so baff, er wusste nicht, was er sagen sollte. Er musste sich besinnen, warum er Joy überhaupt sprechen wollte. Ach ja, er wollte sie bitten, es ihm zu überlassen, seiner Familie die Wahrheit zu sagen. Genau das versuchte er jetzt auch zu tun, aber Joy würgte ihn ab und sagte: „Danke, Jens, ich wusste, dass du nicht böse sein würdest. Ich habe echt eine Auszeit gebraucht und das war der richtige Ort. Und auch an dich: Sorry, dass ich dir Sorgen bereitet habe! Wir sehen uns – ich komme demnächst vorbeigeflattert.“ Und schon hatte sie aufgelegt.

Jens brauchte Minuten, viele Minuten, um zu verstehen, dass er nicht träumte, dass er voll bei Bewusstsein war. Er fantasierte nicht, er war auch nicht endgültig durchgedreht oder hatte die Kontrolle komplett verloren – nein, Joy war wieder da und erwähnte den Vorfall mit keinem Wort. Es klingelte auch keine Polizei an der Tür. Wie konnte das sein? Hatte er sich nur vorgestellt, sie vergewaltigt zu haben – hatte er es geträumt? Was zum Teufel wurde hier für ein Spiel gespielt und welche Rolle hatte er in diesem Theaterstück? Er fühlte sich, als ob eine fremde Spezies die Kontrolle über sein Leben übernommen hatte. Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er sich verhalten? Wieder einmal gab es für ihn nur die Möglichkeit abzuwarten, wie dieses Theaterstück sich weiter entwickeln würde. Nur eins war klar – die höchste Last, die größte Sorge, das Schlimmste, was hätte sein können, war nicht passiert! Joy lebte! Und damit gab er sich für den Moment zufrieden.

Das Intrigenlabyrinth

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