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Joy merkte, wie der Körper von Jens erschlaffte. Sie rollte ihn mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, von sich herunter, zog sich notdürftig an und rannte, so schnell sie konnte, aus dem Haus. Aus diesem so geliebten, vertrauten Haus. Dass sich hier eines Tages eine so fürchterliche Szene abspielen würde, konnte sie nicht glauben. Aber es war kein böser Traum, Jens hatte sie vergewaltigt. Brutal und vollkommen unerwartet war er plötzlich über sie hergefallen. Im Nachhinein fragte sie sich, ob sie sich genug gewehrt hatte, schließlich war er sturzbetrunken und mit etwas Kraft hätte sie es doch schaffen müssen, sich zu befreien.

Voller Panik rannte sie blindlings in irgendeine Richtung los. Sie rannte und rannte, bis sie irgendwann völlig atemlos auf den Boden sank. Jetzt erst fing sie an zu denken. Wohin sollte sie gehen? Zu Hause war niemand – Mama arbeitete die ganze Nacht und sie wollte ihr auch nicht unter die Augen treten. Sollte sie direkt zur Polizei gehen? Was würde dann passieren? Sie würden Jens festnehmen und es gäbe eine Verhandlung, in der sehr wahrscheinlich festgestellt würde, dass Joy Jens in ihrem Aufzug unglaublich gereizt hatte. Er würde eine Haftstrafe möglicherweise auf Bewährung erhalten und die Familie würde ihm großzügig verzeihen. Übrig bleiben würde Joy – für die anderen womöglich eine Schlampe, die einen armen Mann verführt hatte, mit der schlimmen Erinnerung für den Rest ihres Lebens. Sie würde bindungsunfähig sein, keine Berührungen von einem Mann mehr ertragen können. Die eigentliche Bürde aus dieser Sache müsste sie und nur sie allein tragen. Jens würde so gut wie ungestraft davonkommen. Das durfte nicht passieren. Sie brauchte Zeit, mehr Zeit als nur ein paar Stunden, um darüber nachzudenken, was sie tun sollte. Aber wohin sollte sie gehen? Wo konnte sie in Ruhe nachdenken? Geld hatte sie auch nicht allzu viel dabei. Sie hatte also nur begrenzte Möglichkeiten.

Zuerst zog sie die langen Hosen an und die Jacke, die sie für den nächsten Schultag eingepackt hatte. Auch ihr Käppi, das sie für den Sportplatz eingepackt hatte, um sich vor der Sonne zu schützen, setzte sie auf. Darunter verbarg sie ihre langen Haare und ging in Richtung Bahnhof. Dort versteckte sie sich hinter einem großen Gebüsch und hoffte, dass sie niemand sah und sie nicht einschlief.

Inzwischen hatte sie einen Plan: Die Dornbachs besaßen ein kleines Ferienhäuschen im bayrischen Wald. Weit abseits von der Zivilisation, gut versteckt. Dort hatten sie früher, als sie klein waren, so manches Wochenende verbracht. Es war zwar ziemlich eng, aber immer wunderschön. Da hatten sie die größten Abenteuer erlebt. Sie hoffte, dass sie es finden würde. Sie konnte sich aber noch sehr gut an das nächstliegende Dorf erinnern, wo sie immer Proviant gekauft hatten. Nein, es dürfte kein Problem sein, es zu finden.

Sie wollte kein Zugticket kaufen, obwohl das Geld gerade so reichen würde. Aber dann hätte sie keinen Cent mehr für Lebensmittel. Außerdem hatte sie vom Bahnhof aus einen ziemlich weiten Fußmarsch vor sich, weil sie beschlossen hatte, nicht den Bus zu dem kleinen Dorf zu nehmen, weil sie nicht auffallen wollte. Sie musste klammheimlich in die Hütte gelangen. Einkaufen musste sie irgendwo in einem großen Supermarkt, wo sie sich unauffällig bewegen konnte. Der Plan nahm ganz klare Gestalten an.

Alles gelang ihr so, wie sie es geplant hatte. Sie wurde nicht ohne Fahrkarte erwischt, der Supermarkt war zum Bersten voll und zur Hütte gelangte sie, ohne irgendjemandem über den Weg zu laufen. Wenn sie Menschen sah, versteckte sie sich so lange, bis der Weg wieder menschenleer war. Erst dann lief sie vorsichtig weiter. In der Hütte angekommen, konnte sie auf Anhieb den Schlüssel in seinem Versteck finden. In der Hütte stank es fürchterlich, also lüftete sie zuerst gründlich und sah sich in Ruhe um. Es gab noch gefüllte Sprudelflaschen, Ravioli-Dosen, Schokolade und ein paar lange haltbare Lebensmittel, wofür sie sehr dankbar war. Sie hatte nicht viel eingekauft, zum einen, weil sie nicht ihr ganzes Geld ausgeben, und zum anderen, weil sie nicht so viel tragen wollte. Sie war sich auch nicht im Klaren darüber, wie lange sie brauchen würde, um wieder in der Lage zu sein, nach Hause zu gehen. Sie wusste selbstverständlich, was sie ihrer Mutter antat. Aber sie wollte in Ruhe darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. Wie sie sich verhalten sollte! Ganz intensiv wollte sie über Jens’ Strafmaß nachdenken. Ihre Mama hatte so recht gehabt … Joy hatte es nicht glauben wollen, vor allem, weil sie Jens so lieb hatte. „Alle Männer sind Schweine“, das war der Lieblingssatz ihrer Mutter. Der Satz, den sie am häufigsten sagte.

Clara wurde von ihrem Vater sehr schlecht behandelt und häufig verprügelt. Er war Alkoholiker und ließ keine Gelegenheit aus, seine ganze Frustration über sein beschissenes Leben an seiner Frau und der Tochter auszulassen. Er konnte so jähzornig sein, so ungerecht und böse. Es ging so weit, dass er mit Möbelstücken um sich warf, mit dem Messer auf die beiden losging, sie in der Wohnung für Tage einsperrte und Schläge waren sowieso an der Tagesordnung. Einmal schnürte er Clara auf der Kücheneckbank fest und zwang sie, dabei zuzuschauen, wie er seine Frau vergewaltigte.

Dennoch erzählte Clara oft, dass sie geglaubt habe, schlimmer könne es in ihrem Leben nicht mehr kommen, es könne nur noch bergauf gehen, wenn sie endlich erwachsen war. Sie würde einen Beruf erlernen und mit ihrer Mama ganz weit weg ziehen, sodass er sie niemals finden konnte. Doch es kam anders. Als Dreizehnjährige musste Clara miterleben, wie das Arschloch – wie sie ihn insgeheim immer nannte – ihre Mutter bei einem Fluchtversuch die Treppe hinunterschubste. Sie war ohne Bewusstsein und Nachbarn benachrichtigten sofort den Rettungsdienst. Im Krankenhaus wurde alles getan, um ihr Leben zu retten, aber sie verstarb am dritten Tag nach dem „Unfall“, wie er es nannte. Er hätte noch versucht sie festzuhalten, erzählte er in Tränen aufgelöst. Clara hätte so gern die Wahrheit herausgeschrien – aber sie wollte nicht ins Kinderheim. Sie dachte, die paar Jahre würde sie schon irgendwie schaffen. Vielleicht würde er jetzt sogar zur Besinnung kommen und eine Entziehungskur machen. Wie blauäugig – es wurde nichts besser!

Zur unendlich großen Trauer über den Verlust der Mutter kamen jetzt noch finanzielle Sorgen dazu. Clara nahm jeden Job an, den sie bekommen konnte – das Angebot war nicht sehr groß. Oft musste sie für sehr wenig Geld richtig hart arbeiten. Sie mähte Rasen, trug Prospekte aus, kaufte für alte Leute ein, ja, sie schämte sich sehr, aber sie ging auch stundenlang auf Pfandflaschensuche. Doch das Lernen vernachlässigte sie niemals. Sie wollte aus diesem Milieu raus – sie musste sich selbst aus diesem Sumpf ziehen. Das konnte sie nur mit Bildung schaffen, das war ihr absolut klar.

Es kam der Tag, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte – ihr Vater versuchte sie zu vergewaltigen. Sie schaffte es zu fliehen. Aber der Bann war gebrochen, ab diesem Tag kam es immer öfter und irgendwann täglich vor. Sie musste immer auf der Hut sein – sie hatte ihre Tricks, aber wenn er es einmal schaffen würde, sie im nicht so schlimm betrunkenen Zustand richtig zu packen, könnte er sein Vorhaben in die Tat umsetzen. Er war immer noch erstaunlich kräftig. Als er es eines Tages schaffte, sie zu packen, und sie schon kein Entkommen mehr sah, brach er über ihr zusammen und rührte sich nicht mehr. Sein Herztod wurde festgestellt und Clara musste doch ins Heim.

Überrascht stellte sie fest, dass es gar nicht so schlimm war, ganz im Gegenteil! Sie konnte aufatmen, sich ganz auf das Lernen konzentrieren. Nur eines machte sie traurig – sie konnte sich auf keine Freundschaft einlassen. Sie hatte nie eine Freundin gehabt. Clara ist immer ein einsamer Sonderling gewesen und ein perfektes Mobbingopfer.

Trotz allem – Clara war eine richtige Schönheit. Und während der Zeit im Kinderheim fing sie auch an Wert darauf zu legen, sich zurechtzumachen. Nicht üppig und auffällig, doch sie entwickelte einen ganz eigenen bodenständigen, aber nicht altbackenen Stil. Es passte zu ihr. Mit der Zeit begannen die Jungs ihr hinterherzuschauen. Schon bald hatte sie an der Schule jedoch den Titel „eiserne Jungfrau“. Auch wenn in ihr hin und wieder tatsächlich Verliebtheitsgefühle aufkamen, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, jemals ein männliches Wesen näher als dreißig Zentimeter an sich heranzulassen. Undenkbar!

Nach einem erfolgreichen Realschulabschluss startete sie auf einem sozialen Berufsgymnasium richtig durch. Sie hatte ein Ziel – sie wollte Medizin studieren. Etwas anderes, als hart zu arbeiten, um ihren Doktortitel in Rekordzeit in der Tasche zu haben, gab es für sie nicht mehr. Nicht nur für die Schule arbeitete sie hart, sondern verdiente nebenher auch noch Geld. Das sparte sie aber größtenteils für ihr geplantes Studium. Es machte ihr nichts aus, wenn die Mitschüler ständig neue Markenklamotten trugen oder von einem „geilen“ Urlaub erzählten. Clara spürte keinen Neid und auch keine Eifersucht. Sie war der Hölle entkommen und hatte andere Erwartungen an sich und das Leben, als irgendwelche Oberflächlichkeiten zu pflegen.

Kurz vor dem Abitur geschah dann doch das große Wunder: Ein Junge schaffte es mit ungebrochener Geduld und Feingefühl, Claras Herz zu erobern. Sie konnte im Nachhinein nicht fassen, dass Jörg es geschafft hatte, sie zu verführen und schließlich im beschwipsten Zustand zum Geschlechtsverkehr zu überreden. Das Gefühl, das sie dabei hatte, war – sie konnte es sich kaum eingestehen, fast nicht zulassen – schön, sehr schön! Überrascht war Clara selbst über ihr Verhalten während des Liebesaktes – sie war vollkommen entfesselt und nahezu schamlos. Sie hatte es getan und es war alles andere als schlimm gewesen – sie hatte doch eine Chance auf ein normales Leben. Es war ein echtes Wunder! Jörg war sehr gefühlvoll und der begehrteste Junge an der Schule. Das waren ihre Gedanken am Morgen danach. Ja, sie wollte leben! Richtig leben und da gehörte die Liebe dazu. Sie war in der Lage, zu lieben – dann würde sie es auch tun und genießen. Einfach genießen!

Als sie in der Schule ankam, sah sie eine große Schüleransammlung vor dem Haupteingang des Schulgebäudes. Sie steckten die Köpfe zusammen und kicherten. Da musste etwas passiert sein. Sie lief auf die Versammlung zu, plötzlich schrie eine Mitschülerin: „Da, da ist sie! Sie kommt!“ Wie sich dann herausstellte, hatte Jörg ein kleines Video vom Vorabend vorgeführt, in dem sie die Hauptrolle spielte. Der Film hieß: „Wer knackt die eiserne Jungfrau?“ Jörg hatte es geschafft! Er war der tolle Held und wurde gefeiert! Es wurden Wettgelder eingelöst und wie Clara auch noch erfuhr, wurde an dem Abend eine „eiserne Jungfrauen-Erlösungsparty“ gefeiert!

An diesem Tag hörte Clara endgültig auf an das Gute zu glauben. Wie konnte sie nur so dumm sein? Sie versteckte sich für Tage in ihrem Zimmer, heulte und überlegte ernsthaft, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nur eine barmherzige Schwester, die sie sehr gern hatte und schon am Tag ihres Einzuges im Kinderheim ins Herz geschlossen hatte, weil sie so anders war als die ungezogenen, faulen Gören, schaffte es, sie davon abzuhalten. Sie redete stundenlang auf Clara ein: „Es gibt ausreichend wichtige Aufgaben auf dieser Erdkugel, die es wert sind weiterzumachen, Clara. Viele Menschen brauchen dringend medizinische Hilfe, um überhaupt überleben zu können. Als Ärztin kannst du vor allem auch misshandelten Frauen zur Seite stehen. Das müsste doch nach dem, was du in deinem bisherigen Leben mitgemacht hast, ein großes Anliegen für dich sein. Statt deinem Leben ein Ende zu setzen, solltest du über vernünftige Zukunftspläne nachdenken.“

Es dauerte eine Weile, bis Clara das auch so sah, dann aber stellte sie sich wieder auf die Beine und machte weiter! So wie bis zu jenem unglücklichen Tag – sie lernte und arbeitete. In der Schule gelang es ihr recht schnell, in Ruhe gelassen zu werden, weil sie einfach keine Angriffsfläche bot. Es wurde langweilig, sie zu ärgern. Aber eines war klar: „Männer sind alle Schweine!“ Nie wieder würde sie einen von ihnen an sich heranlassen oder gar in ihr Herz schließen! Sie hasste sie alle von ganzem Herzen. Noch nie hatte sie auch nur ansatzweise etwas Gutes von diesem Geschlecht erfahren.

Die nächste Katastrophe ließ aber nicht lange auf sich warten. Morgendliche Übelkeit machte ihr zu schaffen. Der erste logische Gedanke war – ein Virus! Und das so knapp vor den Prüfungen! Mit der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass das noch das kleinere Problem gewesen wäre. Die regelmäßige Übelkeit ließ nämlich im Laufe des Tages nach und wurde durch einen unglaublichen Appetit ersetzt. Die Brüste spannten zum Zerbersten … Nein, das konnte nicht sein. Wann hatte sie ihre letzte Periode gehabt? Sie hatte nie sonderlich auf den Rhythmus geachtet. Wozu auch? Aber es kam der Tag, an dem sie nichts mehr schönreden konnte, denn der Test war eindeutig.

Wieder große Verzweiflung, Aussichtslosigkeit und Trauer. Warum, warum meinte es das Leben so schlecht mit ihr? Was hatte sie angestellt, dass sie immer nur Prügel einstecken musste? Wenn man an Wiedergeburt glaubte und an die Sühnung der Sünden aus dem letzten Leben, dann musste sie wohl in ihrem letzten Leben ein Monster gewesen sein.

Wieder saß Schwester Barbara stundenlang an ihrem Bett und machte ihr klar, dass ein Kind immer ein Geschenk Gottes sei – eine große Aufgabe, die sie zu erfüllen habe. „Das Kind wird dein Lebensinhalt sein. Du musst die Verantwortung für ein kleines Wesen tragen. Du bekommst die Möglichkeit, intensiv zu lieben und geliebt zu werden, ohne darüber nachzudenken, ob du nur ausgenutzt wirst. Es wird echte, ehrliche Liebe sein, die dir dein Kind geben wird. Du kannst das Kleine so großziehen, wie du es gerne erlebt hättest.“

„Aber mein Studium – was ist mit meinen beruflichen Träumen? Die kann ich unter diesen Umständen völlig vergessen.“

„Clara, so lange ich atme, mich bewegen und klar denken kann – kannst du mit mir rechnen. Tag und Nacht, mein Kind. Ich werde dir zur Seite stehen, wann immer du Hilfe brauchst. Du weißt, dass du dich auf mich hundertprozentig verlassen kannst. Du bist die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe, und jetzt bekomme ich quasi noch ein Enkelkind. Ich bin glücklich und freue mich sehr darüber. Du siehst, mein Einsatz ist nicht ganz uneigennützig.“

Ja, Schwester Barbara war ein Glücksfall, ein Goldstück – ihre Zuneigung war das Beste, was ihr in ihrem bisherigen Leben passiert war. Zuverlässigkeit – durch sie hatte dieses Wort endlich eine Bedeutung erhalten. Ihre Mutter war auch ein liebenswerter Mensch gewesen, aber Zuverlässigkeit hatte ihr gefehlt. Immer wieder hatte sie Rückzieher gemacht, wenn sie ihrer Tochter das Versprechen gegeben hatte, das „Arschloch“ zu verlassen.

Über Abtreibung wurde also nicht mehr gesprochen! Schwester Barbara hielt Wort und unterstützte Clara in den folgenden vier Jahren intensiv. Clara hatte sich jedoch nach langen Überlegungen und Hunderten von Gesprächen mit Schwester Barbara doch entschlossen, erst einmal nur eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Sie könne im Nachhinein immer noch studieren. Aber so habe sie zumindest eine abgeschlossene Ausbildung und könne von Anfang an Geld verdienen. Das brauchte sie auch dringend, weil sie mit achtzehn eine eigene Wohnung suchen und für sich und Joy selbstständig sorgen musste. Es waren verdammt harte Jahre, aber Schwester Barbara wich ihr wie versprochen nicht von der Seite.

Als Clara gerade die Ausbildung sehr erfolgreich beendet hatte und echte Glücksgefühle aufkamen, folgte schon der nächste Schlag. Schwester Barbara starb völlig überraschend an den Folgen eines Schlaganfalls.

Jetzt war Clara wieder ganz auf sich allein gestellt. Sie meldete Joy, die inzwischen drei Jahre alt war, in der Kita an. Und so versuchten sie weiter über die Runden zu kommen. Joy war ein sehr braves und vernünftiges, aber kein trauriges Kind. Die Gene ihres Vaters kamen ihr zugute. Sie war sehr beliebt und schloss schnell Freundschaften im Kindergarten. Ziemlich schnell hatte sie jedoch eine Lieblingsfreundin. Magdalena! Die beiden waren wie füreinander gemacht. Sie passten so gut zusammen, dass es manchmal beängstigend war. Sie mochten die gleichen Spiele, das gleiche Essen, den gleichen Sport …

Joy liebte von Anfang an auch Magdalenas Familie und umgekehrt. Es war ein Glücksfall – auch für Joys Mutter. Wie oft konnte sie das Kind sorglos bei Dornbachs abgeben, während sie Sonderschichten übernahm und sich ständig weiterbildete. Joy liebte sie über alles – sie war und blieb ihre Mutter, ihre engste Bezugsperson. Clara gab sich auch die größte Mühe, Joy ein schönes, bequemes und glückliches Leben zu bieten. Wann immer es möglich war, unternahmen sie etwas. Nur die Mama selbst war immer sehr ernst und so richtig Spaß konnte Joy, wenn sie ganz ehrlich war, nur mit Dornbachs haben. Vor allem gab es kaum Tage, an denen sie Joy nicht eindringlich vor Männern warnte. Ihre schlimmen Erfahrungen gab sie unermüdlich weiter. Joy hörte zu – aber innerlich schien das Gesagte abzuprallen. Sie beobachtete Jens, Jonas und auch die Jungen in der Schule und im Sportverein ganz genau. Aber sie konnte nichts extrem Böses an ihnen feststellen. Da fand sie so manche Zicke aus ihrem Umfeld unsympathischer und böser. Natürlich gab es auch Blödmänner unter den Jungen, aber nicht mehr und keinesfalls schlimmer als unter den weiblichen Mitmenschen.

Clara stichelte auch gegen die Dornbachs regelmäßig – sicher aus Eifersucht. Und so lernte Joy mit der Zeit, ihr so gut wie nichts mehr zu erzählen und den Eindruck zu erwecken, dass sie dort sein müsse, während die Mama arbeitete. Das zeigte Wirkung. Mamas Hetzattacken ließen deutlich nach.

Dann aber kam Joy in ein Alter, in dem sie allein zu Hause bleiben konnte. Sie wollte aber weiterhin immer zu Dornbachs und bei deren Unternehmungen dabei sein. Das wiederum setzte den Hetzmechanismus wieder in Gang. Es war manchmal unerträglich. Aber Joy ließ sich das tolle Lebensgefühl bei und mit den Dornbachs nicht vermiesen. Sie genoss jede einzelne Minute. Natürlich gab es auch dort hin und wieder Ärger und Probleme, aber hier lernte Joy, wie man Dinge ausdiskutierte und dass man einen guten Kompromiss für alle finden konnte.

Als ernsthaftes, fast die Freundschaft zerstörendes Problem erwies sich die Liebe. Magdalena und Joy hatten sich, wie es sich für die beiden gehörte, in denselben Jungen verliebt. Aber Lars Jörgensens war unsterblich in Joy verliebt und nach ein paar schwierigen Wochen beschloss Magdalena, dass die Freundschaft mit Joy wichtiger war als der Blödmann.

Von nun an konnte Joy die Liebe richtig genießen. Sie schwebte auf Wolke sieben. Aber ihre Mutter durfte nichts davon erfahren, auf gar keinen Fall! Sie würde dann keine Ruhe mehr geben. Rund um die Uhr würde sie Joy klarmachen, dass sie sich auf den Tag einstellen musste, an dem Lars sie bitterlich enttäuschen würde. Oh, sie wusste doch gar nicht, worauf sie ihr Leben lang schon verzichtete. Und wenn Lars sie tatsächlich verletzen sollte, konnte ihr die wunderschöne Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, keiner wegnehmen. Außerdem hatten andere Mütter auch schöne Söhne …

So glücklich und perfekt war Joys Leben vor der schrecklichen Vergewaltigung gewesen. Die paar Minuten hatten ihr ganzes Leben, Denken und Fühlen auf den Kopf gestellt. Es passte nichts mehr! Die von ihrer Mutter über Jahre hinweg eingetrichterten Sätze, die sie irgendwo in ihrem Kopf in einer geheimen Ecke verstaut hatte, krochen wie Schlangen langsam, aber stetig in den Vordergrund ihres Denkens. „Männer sind alle Schweine! Männer sind alle Schweine! Männer sind alle Schweine!“, hämmerte es in ihrem Kopf pausenlos immer lauter und lauter. Sie hatte recht – Mama hatte ja so recht! Sie fühlte sich so schmutzig, so benutzt, so enttäuscht! Dieser Mann, den sie in Gedanken immer „Papa“ genannt hatte, hatte sie tatsächlich vergewaltigt. Er hatte ihr Leben innerhalb von Minuten zerstört – er hatte sie zerstört. Sie konnte es nicht glauben. Wie kann ein Mensch sich so lange, so gut verstellen? Sie sah Jens’ Gesicht deutlich vor sich – sein warmes und so fröhliches, mitreißendes Lachen verwandelte sich vor ihren Augen in ein dreckiges, böses, verzerrtes und vor allem spöttisches Lachen. „Jetzt, jetzt habe ich dich wirklich vergewaltigt!“ Daraus konnte sie ja nur schließen, dass er sie in Gedanken schon tausendmal vergewaltigt hatte. Wie widerlich, er hatte sie in Gedanken ausgezogen, während sie zusammen mit der Familie zu Abend aßen oder einen lustigen Spieleabend verbrachten oder sich zusammen einen Film anschauten oder, oder! In wie vielen Situationen hatte er gelacht und den fröhlichen Papa gegeben und sie währenddessen in Gedanken vergewaltigt?!

Joys Hass wuchs unbeschreiblich mit jedem Tag, der verging. Die Worte ihrer Mutter wurden immer bedeutungsvoller und auch die für sie damals ungerechtfertigten Vorwürfe gegen den Rest der Familie Dornbach brachten sie in der jetzigen Situation dazu, darüber nachzudenken. War Magdalena nicht wirklich ein verzogenes, arrogantes, egoistisches Wesen? Für Joy war sie immer nur selbstbewusst gewesen, dagegen konnte man doch nichts sagen.

Celine wollte nur so viele Kinder, weil sie keinen Bock auf Arbeit hatte! Bis vor Kurzem war Celine für Joy der Inbegriff der perfekten Mutter gewesen. Ihre Erziehung bestand aus der genau richtigen Portionierung von Strenge, Liebe, Nachsichtigkeit, Verständnis, Mitgefühl, Konsequenz und Nachhaltigkeit.

Oma Margot war eine oberflächliche Witzfigur, für die das ganze Leben eine Party war. Für Joy war sie die liebenswerteste Omi gewesen, die man sich nur vorstellen konnte. Margot zeigte immer großes Interesse an ihrem Leben. Sie wollte immer alle Einzelheiten wissen – Schule? Freunde? Gefühle? Sorgen? Einfach alles! Für Schulprojekte lieferte sie immer die besten Ideen. Sie war unglaublich kreativ. Ja, sie machte alles mit Humor und mischte allem Spaß bei … Aber kann jemand, der so viel Anteilnahme zeigt, einfach nur oberflächlich sein?

Jonas hatte einen bösen Blick – das hatte Clara gleich erkannt. Joy fand, dass Jonas einfach ein kleiner, niedlicher Streber mit etwas zu wenig Humor war. Er war der Dornbach, der den Finger am häufigsten erhob und zur Vernunft mahnte, wenn wieder einmal alle zu ausgelassen wurden.

Marilena war für Clara ein unerzogenes, freches Ding, mit dem sie noch ihr blaues Wunder erleben würden. Für Joy war Marilena die kleine, kesse, nervende Schwester, die nur Quatsch im Kopf hatte.

Aber jetzt, da sie so einsam und verzweifelt vor der Hütte saß und über alle Dornbachs nachdachte, musste sie ihrer Mutter recht geben. Die Meinung zu jedem Einzelnen tendierte jetzt mehr und mehr in Richtung der Aussagen ihrer Mutter. Was passierte da gerade in ihrem Kopf? Warum war all das Zeug, das ihre Mutter ihr über Jahre hinweg immer wieder gebetsmühlenartig vorgetragen hatte, so präsent und plötzlich so wahr? Es hatte mehr Gewicht als die vielen schönen Jahre mit Dornbachs. Wie konnte ein Mensch in so kurzer Zeit seine Meinung so radikal ändern? Dass sie Jens verfluchte, war vollkommen klar! Aber dass sie die anderen Dornbachs plötzlich ebenfalls verachtete, sogar zu hassen begann, das war für sie nicht nachvollziehbar. Aber es waren Gefühle, die sie überkamen, und diesen Gefühlen war mit Vernunft nicht beizukommen. Magdalena war arrogant, Jonas hatte einen bösen Blick, Marilena war frech und ungezogen, Omi – nein, Margot war oberflächlich und Celine war faul und lag ihrem Mann auf der Tasche! Ja, so war das und nicht anders! Joy hatte auch immer im Haushalt geholfen, die Hasenställe ausgemistet und allen Kindern jahrelang kostenlosen Nachhilfeunterricht gegeben. Wenn die Dornbachkinder etwas nicht machen wollten, übernahm sie es freiwillig. Wenn sie so darüber nachdachte, hatten sie sie ganz schön ausgenutzt.

Jeder Tag in der Hütte vergrößerte den Hass und es wuchs eine unglaubliche Rachsucht in ihr. Sie würde es den Dornbachs heimzahlen. Für alles sollten sie büßen! Jeder Einzelne sollte seine Rechnung bekommen und treffen würde jeder Racheakt auch Jens – tief ins Herz. Das war das Wichtigste! Es musste Jens wehtun – er sollte hilflos zuschauen müssen, wie seine Familie litt! Eine größere Strafe konnte es für ihn nicht geben. Weder eine Gefängnisstrafe noch eine Trennung von Celine würden ihn so schmerzen wie das, was sie sich ausdenken würde.

Als Joy das Gefühl hatte, perfekte Pläne geschmiedet zu haben, überkam sie ein Gefühl der Zufriedenheit – der Tag war gekommen, es war an der Zeit, wieder nach Hause zu gehen und die Rachemaschine in Bewegung zu setzen.

Jetzt saß sie inmitten der Familie Dornbach – nur Jens fehlte – und bei ihrer Mama, die nicht aufhören konnte zu weinen. Sie hielt sie ganz fest im Arm und entschuldigte sich immer und immer wieder. Auch die anderen weinten, aber Joy glaubte natürlich, genau zu erkennen, dass das nur gespielt war. Nur Mamas Tränen waren echt!

Joy versuchte wortreich zu erklären, dass sie einfach eine Auszeit gebraucht habe. Der Grund sei vor allem Lars gewesen, weil der sie so unter Druck gesetzt habe, miteinander zu schlafen. Sie fühle sich aber überhaupt noch nicht bereit dazu! Sie erzählte und schmückte aus, ja sie wunderte sich selbst über ihre Kreativität. Am Ende waren alle einfach nur froh, dass sie heil und wieder zu Hause war.

Am nächsten Tag, einem Montag, nahm Joy wieder ihr ganz normales Leben auf. In der Schule suchte sie sofort nach Lars, der sie wie ein Gespenst anstarrte: „Wo warst du, Joy, ich bin fast gestorben vor Angst!“

„Ich habe eine Auszeit gebraucht, ich musste nachdenken. Vor allem über uns. Ich bin noch nicht bereit, mit dir zu schlafen, und du hast nicht wirklich Verständnis. Du unterstellst mir, dass ich dich nicht liebe. Das hat so keinen Sinn, ich möchte dir sagen, dass ich Schluss mache. Such dir bitte eine andere, die bereit ist für das, was dir sooo wichtig ist!“

„Du übertreibst jetzt aber ganz schön, ich habe dich weder bedrängt noch unter Druck gesetzt. Und es ist für mich auch kein Problem zu warten, bis du so weit bist. So wichtig ist das für mich nicht.“

Joy spürte, wie sie ganz gegen ihren Willen Herzklopfen bekam und erschrocken feststellen musste: Ich bin sehr verliebt in Lars. Aber als der den Arm um sie legte und sie küssen wollte, brannte ihre Batterie mit einem Schlag durch und sie schlug nach ihm. „Lass die Finger von mir, du Schwein!“

Lars starrte sie dermaßen entsetzt und erschrocken an, dass Joy sofort ein schlechtes Gewissen bekam. Ehe sie reagieren konnte, drehte Lars sich um und rannte fast in Richtung Schulgebäude. Vielleicht war das der beste und einfachste Weg für Lars, mit dieser Situation zurechtzukommen. Wut auf Joy würde ihm helfen, schnell über das Aus ihrer Beziehung hinwegzukommen. Magdalena bestand darauf, dass Joy gegen siebzehn Uhr zu ihnen kommen sollte.

„Ich weiß nicht, ich möchte meine Mutter nicht schon wieder alleine lassen.“

„Ach bitte, bitte, du bist ja heute Mittag mit ihr zusammen und wir – nein, ich möchte nichts verraten. Bitte, bitte komm einfach! Du musst!“

Ja, genau das war das verwöhnte Gör, von dem Mama gesprochen hatte. Aber gut, sie wollte die erste Begegnung mit Jens hinter sich bringen. Das würde für ihn sicher eine hohe Belastungsprobe – oder wusste er vielleicht gar nichts mehr von der Vergewaltigung? Doch, natürlich, warum sonst hätte er sie gestern vor dem Eintreffen seiner Familie sprechen wollen und war nicht selbst mitgekommen? Also sagte Joy fröhlich: „Na gut, ich komme, ich liege aber nicht falsch, wenn ich von einer Überraschung ausgehe?“

Magdalena schubste sie und sagte: „Du alte Spielverderberin!“

Punkt siebzehn Uhr wollte Joy an der Tür klingeln, aber sie bekam einen schlimmen Schweißausbruch und zitterte am ganzen Leib. Damit hatte sie nun gar nicht gerechnet. Noch ehe sie überlegen konnte, was sie tun sollte, wurde die Haustür aufgerissen und alle stürzten auf sie zu: „Hallo, Ausreißerin – komm rein!“

Sie wurde gewaltsam hineingezogen und fand sich direkt vor Jens wieder. Ihr wurde furchtbar übel – sie war sich hundertprozentig sicher, ohnmächtig zu werden. Bevor das passieren konnte, wurde sie von Magdalena zu einem Stuhl gezogen und in Sitzposition gedrückt.

„Wir sind uns einig, dass wir uns noch nie in unserem Leben so schlecht und hilflos wie in den letzten zwei Wochen gefühlt haben. Wir hatten eine unglaubliche Angst um dich. Du hast uns so sehr gefehlt, Joy. Du wirst deshalb heute zu einem offiziellen Dornbachfamilienmitglied gekürt. Dies ist deine Adoptionsparty! Du gehörst für immer zu uns!“

Was fröhlich und lieb gemeint war, wandelte sich in Joys Ohren in: „Vergiss deine armselige, traurige Mutter – du hast doch uns, du gehörst zu uns!“ Mama hatte schon wieder recht gehabt. Sie wollten ihr Joy ganz entfremden und wegnehmen. Sie mussten ständig unter Beweis stellen, wie toll Joy es doch bei ihnen hatte. Verdammte Bande – euch werde ich es schon noch zeigen.

Nach außen hin hatte sie sich schnell wieder im Griff, denn sie wusste, nur so konnte ihr Plan wirklich gelingen. Sie musste mitspielen. Sie wollte ganz nah an den Dornbachs dranbleiben. Sie mussten ihr blind vertrauen.

Den ganzen Abend warf sie immer und immer wieder verstohlene Blicke zu Jens, schaffte es auch, ihm ins Gesicht zu lachen. Es gab auch einen Versuch von Jens, sie allein in der Küche zu sprechen, doch sie machte sich so schnell aus dem Staub, dass er nichts dagegen tun konnte. Dann aber drehte sie sich noch einmal um und flüsterte Jens zu: „Komm nicht auf die Idee, mir etwas anzutun! Ich habe alles genau aufgeschrieben und wenn mir etwas passieren sollte, wird dieser Brief alles erklären!“ Weg war sie! Jens stand mit offenem Mund da und dachte: An so was hätte ich im Traum nicht gedacht.

Es wurde für alle, außer für Joy und Jens, ein fantastischer Abend und sie waren so stolz auf die gelungene Überraschungsparty und die genialen Ideen wie einen nachgemachten Ausweis mit dem Namen Joy Dornbach, eine Eintragung im Familienstammbuch sowie Joys Name an der Türklingel. Joy fand sie alle nur zum Kotzen arrogant. Dieser Abend hatte sie mehr als überzeugt davon, dass sie auf dem richtigen Weg war.

Das Intrigenlabyrinth

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