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Am Morgen nach der Beerdigung klingelte es an der Haustür, was Elena aus ihren Gedanken riss. Vor der Tür standen wieder die Beamten, die Manuels Fall bearbeiteten. „Dürfen wir bitte einen Moment hereinkommen? Wir hätten da noch ein paar Fragen.“

Elena musste sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass Manuel ihrer Meinung nach umgebracht wurde. Irgendjemand sollte seinem Leben ganz gezielt ein Ende gesetzt haben. Diese Tatsache hatte sie bisher immer wieder verdrängt. Sie glaubte immer noch an einen groben Ermittlungsfehler. Wer sollte Manuel schon umbringen wollen? Dieser Gedanke kam ihr so abwegig vor, dass sie ihn nicht zulassen wollte. Innerlich sträubte sich alles in ihr, über diese Möglichkeit nachzudenken. Wenn sich doch Gedanken über diese Variante seines Todes aufdrängten, verbot sie sich, weiter darüber nachzudenken.

„Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Ihrem Exfreund Jens Holder beschreiben?“

„Jens?“

„Ja, Frau Schrader. Es wurden gegen ihn und Sie Verdächtigungen ausgesprochen, denen wir selbstverständlich nachgehen müssen.“

„Meine Schwiegereltern, ich weiß. Und Sie glauben den Mist?“

„Haben Sie für unser Handeln bitte Verständnis, Frau Schrader. Wir möchten Ihnen nichts unterstellen und wir glauben auch nichts. Wir müssen prüfen. Wir müssen allen Verdachtsmomenten nachgehen – wir machen nur unsere Arbeit. Sicherlich liegt Ihnen auch etwas daran, den Mörder Ihres Mannes zu finden.“

Oh, dachte Elena genervt, wenn ihr wüsstet, wie wenig Gedanken ich mir darüber gemacht habe. Manuel ist tot, er ist weg – für immer. Unwiderruflich, endgültig aus meinem Leben verschwunden. Nichts und niemand könnte ihn mir lebendig zurückbringen. Er wird mich nie mehr in seine starken Arme nehmen, sein weicher Mund wird mich nie wieder küssen, ich werde nie wieder die Wärme seines Körpers neben mir im Bett spüren. Er wird nie wieder mit unseren Kindern durch den Garten toben und wir werden nie wieder ein gutes Gespräch miteinander führen. Das ist mein Problem – das verursacht mir einen so tiefen, stechenden Schmerz, dass ich vollauf damit beschäftigt bin, diesen auszuhalten. Warum und wie der Unfall passiert ist, das ist für mich momentan nicht entscheidend oder wichtig, weil das Ergebnis nichts an der furchtbaren Tatsache ändern würde. Er ist tot und ich muss weiterleben – ohne ihn. Ich muss es einfach tun – wegen unserer Kinder! Mit diesen Gedanken habe ich verzweifelt versucht, den Schmerz zu beherrschen und mich nicht völlig der Verzweiflung hinzugeben – was ich zugegebenermaßen nur zu gerne getan hätte. Vielleicht wird eines Tages die Frage nach dem Täter an Wichtigkeit gewinnen. Das kann gut sein – im Moment aber ist mein Gehirn völlig ausgelastet mit Trauer, Verantwortungsgefühl für die Kinder und der abendlichen Erscheinung. Ich hatte mir der Kinder wegen Mühe gegeben, zu akzeptieren, dass Manuel tot ist – dann sehe ich ihn plötzlich leibhaftig vor meinen Augen. Er bewegt sich, er lächelt und er gibt mir Zeichen. Das ist doch unmöglich, denn Manuel lag grau, starr und leblos auf einem Edelstahltisch in der Gerichtsmedizin. Ich habe ihn angefasst und er war eiskalt – durch seine Adern ist kein Blut mehr geflossen. Ich habe ihn sehr lange angeschaut in der Hoffnung, dass er zucken oder sonst irgendein kleines Lebenszeichen von sich geben würde. Aber es passierte nichts – er war einfach tot. Der Mann auf dem Tisch war tot und er war ohne jeglichen Zweifel mein Manuel. Wie konnte er also auf unserer Terrasse stehen? Das ist doch verrückt oder nicht? Wie soll man da einen klaren Gedanken fassen können und darüber nachdenken, wer ihn getötet haben könnte?

„Natürlich möchte ich wissen, wer meinen Mann getötet hat. Auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass es auf dieser Welt einen Menschen gibt, der Manuel nicht wertschätzte oder zumindest mochte.“

„Frau Schrader, ich muss mich leider wiederholen – kein Mensch auf dieser Welt hat nur Bewunderer und Freunde.“

„Sie glauben mir nicht? Sie kannten Manuel eben nicht. Er war ein Engel auf Erden. Er war ein ganz besonderer Mensch. Da können Sie fragen, wen Sie wollen. Er war ein genialer Chef, ein traumhafter Ehemann und Vater, ein vorbildlicher Sohn, ein Arzt mit Leib und Seele, ein hilfsbereiter und fröhlicher Freund und vor allem ein herzensguter Mensch – eine Rarität in der heutigen Welt. Eine absolute Ausnahme. Ich habe aus Manuels Mund niemals böse oder gar hasserfüllte Worte gehört. Er hatte unglaublich viel Verständnis für Menschen und ihre Probleme. Wenn jemand Mist gebaut hat, hat er immer nach Entschuldigungen und Erklärungen gesucht, warum derjenige so gehandelt haben könnte. Vorurteile fällen oder Menschen verurteilen – das gab es bei ihm nicht. Seine Sozialkompetenz war fantastisch. Sicher denken Sie jetzt, dass ich maßlos übertreibe – kann ich gut verstehen, weil es einen solchen Menschen schließlich nicht wirklich geben kann, richtig? Aber ich schwöre Ihnen beim Leben meiner Kinder – so war er, mein Manuel. Er hat Menschen geliebt – diese Menschenliebe und der feste, unerschütterliche Glaube an das Gute haben ihn angetrieben, haben ihm Kraft gegeben. Er war ein vorbildlicher Mensch.“

„Frau Schrader, es ist völlig normal, dass man einen geliebten Verstorbenen durch eine rosarote Brille sieht. Aber sicher hatte Ihr Mann auch Fehler und hat sich ganz gewiss nicht immer korrekt verhalten. Fehler machen wir alle. Wir alle verletzen andere Menschen, auch wenn wir es manches Mal gar nicht bemerken und es das andere Mal vielleicht sogar mit voller Absicht tun.“

„Klar, das ist so bei einem ganz normalen Menschen, von dem Sie sprechen. Manuel war kein normaler Mensch – glauben Sie mir doch bitte. Es ist keine rosarote Brille, durch die ich schaue. Ich habe mich fast täglich gefragt, warum ich so ein Glück habe, dass dieser besondere Mann ausgerechnet mich liebt. Ich habe selber sehr lange nach einem Defizit bei ihm gesucht. Ich habe mir eingeredet, dass er mir sein wahres Gesicht eines Tages auf sehr unangenehme Art und Weise schon noch zeigen würde. Ich muss Sie enttäuschen, denn ich kann Ihnen nur glaubhaft versichern, dass es diesen Tag nie gegeben hat.“

„Können Sie sich vorstellen, dass irgendjemand speziell Ihnen das Glück mit Ihrem Mann nicht gegönnt hat? Dass eigentlich Sie, Frau Schrader, mit dem Tod Ihres Gatten verletzt und bestraft werden sollten? Vielleicht waren es Neid und Eifersucht. Fällt Ihnen jemand ein, dem Sie so eine Tat zutrauen würden?“

„Ich könnte Ihnen unendlich viele Frauen nennen, die in Manuel verliebt waren – ganz offensichtlich in ihn verliebt waren und es auch nicht verheimlicht haben. Krankenschwestern, Ärztinnen, Kolleginnen aus der Forschung, Patientinnen, ja sogar meine Schwester hätte vermutlich ihren Mann für Manuel verlassen. Soll ich eine Liste erstellen?“, fragte Elena ironisch.

„Nein, Frau Schrader. Könnten Sie uns aber noch unsere allererste Frage beantworten? Wie ist Ihre Beziehung aktuell zu Ihrem Exfreund?“

„Ich habe gar keine Beziehung zu Jens. Ja, so kann man es sagen. Der letzte Berührungspunkt war ein ziemlich unangenehmes Zusammentreffen vor Jahren in einer Bar. Jens hat Manuel sturzbetrunken von der Seite angepöbelt. Am Tag darauf hat Jens bei uns angerufen, um sich zu entschuldigen. Gestern zur Beerdigung habe ich ihn das erste Mal wiedergesehen. Ich weiß nicht, wo er inzwischen wohnt, was er beruflich macht, ob er eine feste Beziehung führt – keine Ahnung. Ich war sehr überrascht, als ich ihn unter den Trauergästen entdeckt habe. Aber es waren sowieso viele Menschen da, von deren Anwesenheit ich sehr überrascht und berührt war. Menschen aus meiner Schulzeit, Jugendzeit, aus meinen früheren Vereinen, die Manuel alle nicht kannten und zu denen ich auch schon lange keinen Kontakt mehr hatte. Aber so eine Beerdigung ist wohl immer ein Anlass, sich an alte Weggefährten zu erinnern.“

Die Beamten verabschiedeten sich und Elena konnte nicht sagen, ob sie weiterhin zu den Verdächtigen gehörte oder nicht.

Als Elena am Mittag die Kinder vom Kindergarten abholte, hatte sie plötzlich eine Idee. Sie überraschte die beiden mit einem Vorschlag: „Wollen wir heute Mittag in Papis Lieblingspizzeria gehen? Habt ihr Lust auf eine Pommes-Pizza?“

„Ja“, jubelten die beiden und sprangen an Elena wie zwei kleine Kängurus hoch.

Sie setzten sich in die „Geheimecke“, wie Manuel sie nannte, weil sie dort immer so gut wie ungesehen und ungestört sitzen konnten. Es war nämlich sehr oft unangenehm gewesen, mit Manuel auswärts essen zu gehen. Irgendjemand kannte ihn fast immer. Daher nahmen sie oft weitere Wege auf sich, um in Ruhe speisen zu können. Bedient wurden sie wie immer vom Chef persönlich, der fröhlich nach dem Papa fragte. Bevor Elena etwas sagen konnte, antwortete Lois: „Der Papa ist schon da, du siehst ihn nur nicht.“

„Er ist jetzt nämlich ein Engel“, ergänzte Selina noch stolz.

Giovanni schaute Elena mit großen, geschockten Augen an und sie nickte mit dicken Tränen in den Augen. Giovanni machte einen Schritt auf sie zu, überlegte es sich dann aber in letzter Sekunde doch anders. „Warum?“, fragte er schlicht.

„Autounfall“, antwortete Elena leise.

„Es tut mir leid“, erklärte Giovanni jetzt ebenfalls mit Tränen in den Augen. Manuel und er hatten immer viel Spaß miteinander gehabt. Die beiden konnten so albern sein, was für die Kinder immer besonders lustig gewesen war. Oft lachten sie noch auf dem ganzen Heimweg. „Pommes-Pizza?“, fragte Giovanni mit belegter Stimme.

„Na klar, was sonst?“, versuchte Elena die Stimmung wieder zu heben. Die Pommes-Pizza war eine Erfindung von Manuel und Giovanni, um den Kindern eine besondere Freude zu machen, weil sie sich oft nicht zwischen Pizza und Pommes entscheiden konnten. Inzwischen stand die Kreation sogar auf der Speisekarte und war der absolute Renner bei den Kindern. Sogar viele Jugendliche wählten diese eigenartige Variante.

Giovanni machte sich auf den Weg und Elena beobachtete, wie er ungläubig den Kopf schüttelte und sich eine Träne aus dem Gesicht wischte.

„Nein, ich glaube nicht, dass sie ernsthaft verdächtigt wird.“ Pause. „Das weiß ich auch – Gefängnis wäre ganz blöd. Dann wird aus unseren Plänen nichts. Das ist mir schon klar.“ Pause. „Ja, ich weiß. Sie müssen am Ende alle weg sein. Auch die Kinder!“ Pause. „Ja, verdammt, ich bin ja nicht blöd“, keifte die bekannte Stimme.

Elena schaute um den Sichtschutz herum und sah Belinda mit hochrotem Kopf und ihrem Handy am Ohr dasitzen. Als Belinda Elena sah, ließ sie die Hand mit dem Handy so ruckartig auf den Tisch sinken, dass es einen richtigen Knall gab. Belindas Kopf wurde in Bruchteilen von Sekunden noch roter – so tiefrot, wie Elena es noch bei keinem Menschen erlebt hatte. Belindas Hände zitterten dermaßen, dass Elena es mit der Angst zu tun bekam. Sie schob sich auf den Stuhl neben Belinda und legte den Arm um sie. „Mein Gott, dein ganzer Körper bebt ja, als ob du gleich kollabieren würdest. Was ist los, Belinda? Hast du so schlechte Nachrichten bekommen?“

„Ich, ich …“ Belinda schaffte es nicht, einen ordentlichen Satz zu formulieren. Sie sah entsetzt auf ihr Handy, dann in Elenas Gesicht und wieder auf das Handy auf dem Tisch. Voller Panik beendete sie das Gespräch, indem sie auf das rote Hörersymbol drückte, und bedeckte blitzschnell das Display mit ihren beiden zitternden und nass geschwitzten Händen. Ihren Blick hatte sie starr auf die Pfeffermühle gerichtet.

Elena wartete ein paar Minuten geduldig und unschlüssig, was sie tun sollte. Dann sagte sie sanft: „Jetzt beruhig dich erst einmal. Komm, setz dich zu uns.“ Sie nahm Belindas Handtasche, ihre Jacke und ihr Tuch und transportierte alles an den Tisch hinter dem Sichtschutz, wo die Kinder mit aufgerissenen Augen saßen. „Du machst den Kindern Angst, Belinda. Reiß dich jetzt bitte zusammen. Komm, wenn du Feierabend hast, zu uns und wir reden über alles. Es wird schon nicht so schlimm sein. Du weißt, es gibt für alles eine Lösung, würde Manuel jetzt sicherlich sagen.“

Gegen siebzehn Uhr tauchte Belinda sichtlich beruhigt bei Elena auf. Sie schien sich wieder im Griff zu haben, nachdem sie noch während des ganzen Essens völlig unkonzentriert und fahrig gewesen war. Sie hatte zweimal ein Glas umgeworfen und das Brotkörbchen auf den Boden befördert. Gegessen hatte sie auch nur wie ein Spatz. Sonderbar – sehr, sehr sonderbar. Es musste schon ein riesiges Problem sein, das sie bedrückte, weil Belinda ansonsten ein richtiger Genießer und auch nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen war.

„Also los, spuck es aus! Was hat dich so durcheinandergebracht? Polizei? Alle weg! Auch die Kinder! Pläne?“

„Also, du musst mir versprechen, dass du mit keinem Menschen darüber sprichst. Ich vertraue dir, Elena. Du würdest unglaublich viel kaputt machen, wenn du dich nicht an dein Versprechen hieltest. Es wäre sicher auch in Manuels Sinne, was ich mit meinem Kollegen so heimlich treibe.“

„Uhh, das hört sich ja spannend an. Versprochen, ich werde schweigen. Kein Mensch erfährt etwas von mir.“

„Wir haben heimlich eine kleine Klinik gegründet, in der wir kostenlos Obdachlose, ungemeldete Flüchtlinge und so weiter behandeln. Wir sehen darin nichts Böses – ganz im Gegenteil. Wir benutzen unter anderem ausrangierte Medikamente aus der Klinik, was natürlich verboten ist. Das weißt du als Krankenschwester nur zu gut. Uns hilft eine Krankenschwester, die – wie wir erfahren haben – verdächtigt wird, Medikamente aus der Klinik zu stehlen. Was ja auch stimmt. Jetzt vermuten wir, dass sie unter Beobachtung steht und unser Versteck auffliegen könnte.“

„Mensch, Belinda, das ist ja ehrenhaft, was ihr da macht. Kann ich da auch mitmachen?“ Elena schien es, als ob Belinda erschrocken zusammengezuckt wäre.

„Oh, Süße. Nein, es ist viel zu heiß und gerade jetzt auf gar keinen Fall. Was ist mit deinen Mäusen, wenn sie dich erwischen? Nein, dieses Risiko kannst du nicht eingehen.“

„Schade, das wäre jetzt genau die richtige Aufgabe für mich gewesen, um mich abzulenken. Aber wahrscheinlich muss ich ja sowieso wieder richtig Geld verdienen. Die alten Schraders haben große Sorge, dass ich etwas von ihnen verlangen könnte. Du hast recht, meine Kinder brauchen mich.“

„Ach, komm, Manuel hat doch sicher bestens für euch vorgesorgt. Ihr werdet sicher keine Not leiden oder als Bittsteller auftreten müssen. Für die Kinder werden die Alten schon sorgen, sobald sie ihren Beweis haben, dass die beiden Manuels Kinder sind.“

Elena fing an zu weinen und schrie wütend: „Was bilden die sich ein, mich zu verdächtigen, dass ich Manuel betrogen hätte? So ein Schwachsinn – ich habe ihren Sohn über alle Maßen hinaus geliebt. Das hätten sie doch in all den Jahren spüren müssen. Aber ich glaube, dass Fühlen für die ein Fremdwort ist. Gefühle sind verpönt – vermutlich sind sie in ihren Augen etwas ganz Unanständiges und selbstverständlich etwas völlig Überflüssiges. Sie sind ein Zeichen von Schwäche. Scheiße, Belinda! Ich ärgere mich schon wieder über die Alten. Ich habe Manuel ganz fest versprochen, keine Träne mehr wegen ihnen zu vergießen. Aber sie sind so bösartig. Du, ja, du hättest natürlich alle ihre Erwartungen an eine Schwiegertochter mehr als erfüllt. Und jetzt, in dieser schrecklichen Situation, bist du ja auch wieder die große Stütze, die Beste, ein Engel mit Niveau.“

„Das ist aber nicht mein Plan. Das bezwecke ich nicht damit. Ich kann dir auch nicht sagen, wie ich da hineingerutscht bin. Es stimmt, sie sind immer korrekt zu mir gewesen – nicht herzlich, aber freundlich und die beiden taten mir so leid, als ich ihnen mein Beileid aussprechen und eigentlich nur höflich nachfragen wollte, ob ich irgendetwas für sie tun kann. Sofort haben sie sich festgesaugt und jetzt fühle ich mich irgendwie in der Pflicht, mich um sie zu kümmern. Ich könnte sagen, dass ich mich für sie verantwortlich fühle. Sie haben ja sonst niemanden. Meinst du im Ernst, eure Beziehung wäre jetzt anders, wenn ich nicht aufgetaucht wäre?“

Elena dachte kurz nach. „Nein, Belinda, ganz ehrlich gesagt – nein. Das glaub ich nicht. Mach nur, es ist schon in Ordnung.“

„Ich versuche ja auch zwischen euch zu vermitteln. Ich nehme dich immer wieder in Schutz, was ihnen natürlich überhaupt nicht passt. Ach ja, hier eine Information für dich – nur dass du verstehst, wie sehr du mir glauben kannst – quasi als Beweis dafür, dass du mir blind vertrauen kannst. „Sie möchten von den Kindern Haarproben für einen Vaterschaftstest. Manuels Haar haben sie bereits aus der Bürste, die in seinem alten Badezimmer liegt, sichergestellt. Die hat er ja immer noch benutzt, wenn er beziehungsweise ihr dort übernachtet habt. Um ganz sicher zu sein, müssten wir eigentlich wissen, ob nicht auch du diese Bürste benutzt hast – daran haben die beiden natürlich nicht gedacht, ich aber schon. Ich will es ihnen nicht unter die Nase reiben, darum frage ich dich ganz im Vertrauen: Hast du diese Bürste benutzt?“

„Das kann ich sogar mit absoluter Sicherheit sagen: Ich wollte in diesem Haus so wenig wie möglich vorgesetzt bekommen, also habe ich alles, was ich gebraucht habe, mitgebracht – Zahnbürste, Shampoo, Handtücher und auch eine Bürste. Das Gleiche gilt auch für Selina und Lois.“

„Ich verstehe. Niemand sonst sollte an sie herangekommen sein, also dürften darin nur Manuels Haare sein. Nun zu den Kindern: Ich will das nicht – wie die Alten es von mir verlangen – heimlich machen. Gibst du mir bitte ihre Haarproben?“

„Aber sicher, ich habe ja nichts zu befürchten. Danke, Belinda, vielen lieben Dank, dass du so ehrlich bist. Du bist für mich wirklich zu der wichtigsten Person in dieser furchtbaren Zeit geworden. Ich erzähle dir Sachen, die ich sonst keinem – nicht einmal meiner Schwester – erzählen würde. Manchmal, wenn du gegangen bist und ich darüber nachdenke, was ich dir alles erzählt habe, denke ich, dass ich verrückt sein muss. Die intimsten Dinge plaudere ich aus. Aber ich muss schon sagen, dass du eine unheimlich geschickte Taktik hast, mir diese Dinge zu entlocken.“

„Danke, Elena. Das mache ich aber nicht aus Neugier, sondern weil ich weiß, dass reden in deiner Situation am meisten hilft. Es tut dir gut.“

„Ja, es ist tatsächlich so, als ob ich alles noch einmal erleben dürfte. Alles kommt mir während des Erzählens so real und lebendig vor. Es fühlt sich so vertraut an und ich bestätige mir damit selbst, dass ich das alles tatsächlich so erlebt habe – dass ich mir all diese wunderbaren Szenen nicht nur einbilde. Es ist ganz komisch – auf der einen Seite macht mich das Erzählen unendlich traurig und auf der anderen Seite tut mir die Aufarbeitung, wie du es nennst, sehr gut.“

Belinda lächelte Elena zuckersüß an und diese stellte sich wieder einmal die Frage, warum Julia Belinda so misstraute.

„Du hättest Psychotherapeutin werden sollen. Du hast ein echtes Talent, Menschen, ohne aufdringlich zu werden, zum Sprechen zu bringen und ihr Innerstes nach außen zu kehren. Ich bin froh, dass es dich gibt. Du bist ein richtiger Segen und ich werde nie vergessen, wie du mir in dieser schweren Zeit zur Seite gestanden hast. Ich wünsche dir um Himmels willen nichts Böses, aber wenn du irgendwann einmal Probleme haben solltest, werde ich Tag und Nacht für dich da sein.“

„Ich danke dir. Wie geht es den Kleinen?“

„Na ja, was soll ich sagen? Ich habe das Gefühl, dass das Buch wahre Wunder bewirkt hat. Morgen werde ich noch eines zu diesem Thema kaufen. Das Lesen hilft sogar mir ein Stück weit. Ein Kinderbuch, denk mal.“

„Warum denn nicht? Das ist doch gut, Elena. Es ist vollkommen egal, was hilft, die Hauptsache ist doch, dass du überhaupt etwas für dich findest, was dir über die Runden hilft.“

„Ja, schon, aber ich hab sowieso schon das Gefühl, so kurz vor dem Durchdrehen zu stehen. Stell dir vor, heute habe ich zwanzig Flaschen von Manuels Lieblingsparfüm gekauft. Die Verkäuferin hat mich angeschaut, als ob ich nicht alle Tassen sortiert hätte. Das ist ihr sicher noch nie passiert. Zudem ist dieses Parfüm echt nicht billig. Aber ich sprühe jeden Tag seine Bettwäsche und alles Mögliche damit ein, sodass Manuels Duft ständig präsent bleibt. Der Geruch darf niemals verloren gehen, verstehest du? Verrückt, oder? Das denkst du doch jetzt, stimmt’s?“

Gedankenverloren sagte Belinda vor sich hin: „Parfüm, na klar, Parfüm.“

„Belinda?“

„Ja, nein – mein ich doch. Nein, es ist nicht verrückt, Elena. Manuel hat schon zu unserer Zeit immer großen Wert auf gute Düfte gelegt. Damals war es – ja, was war noch mal sein Lieblingsduft? Lass mich kurz überlegen.“

Fahrenheit – es war Fahrenheit Classic und den Duft habe ich schon an dem Tag unseres Kennenlernens tief in mich eingesogen. Niemals hat er ein anderes Parfüm benutzt.“

„Kenne ich nicht. Gibt es da verschiedene?“

„Ja klar, aber wie bereits gesagt, hat Manuel immer nur das Classic benutzt. Es ist so herb, so männlich und gemischt mit seinem eigenen Geruch – ich kann dir sagen, diese Mischung hat mich stets ordentlich angetörnt. Ich konnte mich kaum im Zaum halten. Ich hätte manches Mal ganz animalisch mitten am Tag über ihn herfallen können. Entschuldigung“, stammelte Elena errötend.

„Mädchen, hör auf, dich dauernd zu entschuldigen. Ihr zwei seid ganz speziell füreinander gemacht worden. Freu dich doch, dass du so eine besondere Liebe erleben durftest. Die meisten Menschen träumen ihr Leben lang von so einer Beziehung – so einer intensiven, ehrlichen, freien und auch fröhlichen Liebe. Eine Liebe, die es sonst nur in kitschigen Filmen gibt, ist für euch die Realität gewesen. Du hattest – ihr hattet ein wahnsinniges Glück.“

„Nur zu kurz und ich werde so etwas nie mehr erleben. Kein Mann würde jemals auch nur annähernd Manuels Maße erreichen. Ich werde auch ganz sicher niemals das Bedürfnis nach einer Beziehung mit einem anderen Mann haben. Ich werde bis an mein Lebensende zu Manuel gehören.“

Die Zeit verging wie im Flug und Elena schaute erschrocken auf die Uhr. „Ich muss schnell das Abendessen für die Kinder richten, denn sie müssen ja schon bald ins Bett gebracht werden. Für das Vorlesen muss ich zurzeit auch immer eine gute halbe Stunde, wenn nicht noch länger, einkalkulieren.“

„Ja, mach nur. Soll ich dir beim Abendbrot helfen?“

„Das ist lieb, aber ich nehme schon genug von deiner kostbaren Zeit in Anspruch und du siehst heute sehr müde aus.“

„Ja, die Sache mit unserer Geheimaktion hat mich sehr geschlaucht.“

„Ich hoffe sehr für euch, dass alles gut geht. Ich will dich nicht rausschmeißen …“

„Schon gut, Elena, ich verstehe ja, dass du für die Kinder Ruhe einkehren lassen möchtest. Das machst du ganz richtig.“

„Danke für dein Verständnis, Belinda.“

„Ja, ja, es gibt wohl Wichtigeres, als dich um deine beste Freundin zu kümmern“, scherzte Belinda und zwinkerte Elena zu, die prompt errötete.

Endlich schliefen die Kinder. Es hatte extrem lange gedauert, weil sie Elena beim Lesen immer wieder unterbrochen hatten. Nicht mit Zwischenfragen, nein – sie erklärten ihr immer wieder ganz genau, wie sie das Gelesene verstanden hatten, was zum Teil hochinteressant war. Auf was für Gedanken so kleine Knöpfe kommen. Echt erstaunlich, wie sie sich alles passend zurechtlegen. Diese einfache Denkstruktur, dieses leichte Akzeptieren. Elena fand es beneidenswert. Meistens ist nichts von dem so furchtbar kompliziert, wie es die Erwachsenen sehen. Kinder hinterfragen nicht alles mit dem Verstand, sie müssen nicht alles genauestens analysieren. Sie können sich noch ganz einfach auf ihr Bauchgefühl einlassen. „Wenn ich das doch nur auch könnte“, murmelte Elena traurig.

Gut, dass sie sich schon alles zurechtgelegt hatte. Sie schlüpfte blitzschnell in ihr Kleid, behängte sich mit Manuels Lieblingsschmuck – auch die sehr intime Geschichte, wie Manuel ihr diese Kostbarkeit geschenkt hatte, kannte Belinda schon – und schminkte sich nicht gerade sorgfältig. Heute musste es so in Ordnung sein. Dann rannte Elena die Treppen ins Erdgeschoss hinunter. Im Wohnzimmer machte sie gefühlte hundert Kerzen an und bereitete ein großes Schild vor. „ICH LIEBE DICH“, schrieb sie in großen roten Buchstaben darauf und verzierte es mit vielen Herzchen. Ganz außer Atem setzte sie sich schließlich in Pose auf das Sofa und wartete.

Sie musste sich nicht lange gedulden – das gewohnte Bild tauchte vor dem Fenster auf und das Herz schlug ihr wie jeden Abend bis zum Hals. Es drohte nahezu herauszuspringen. Elena zitterte vor Aufregung und Freude. Sie dachte auch nicht mehr darüber nach, ob sie bereits verrückt war oder ob sie gerade dabei war, es zu werden. Sie hatte einen Plan und heute fing sie mit der Umsetzung ihres Vorhabens an.

Manuel lächelte ihr zu. Sie hob ihr Schild hoch und wartete gespannt. Manuel lächelte so süß, schickte ihr viele Küsschen und formte aus seinen Händen ein Herz. Elena wollte aufstehen, aber noch bevor sie sich vollends aufgerichtet hatte, machte Manuel eine erschrockene, abwehrende Bewegung, die sie zwang, sich augenblicklich wieder hinzusetzen, wenn sie nicht riskieren wollte, dass er schon wieder verschwand. Er schien sich wieder zu entspannen und Elena zeigte augenzwinkernd auf ihre Halskette. Manuel schaute erstaunt und, wie ihr schien, fragend auf den Schmuck. Dann erinnerte er sich wohl, zeigte mit dem Daumen nach oben und formte wieder ein Herzchen aus seinen Händen. Sie sahen sich noch eine ganze Weile an, während Elena Tränen über die Wangen liefen. Sie deutete eine Umarmung an und zeigte zuerst auf ihn und dann auf sich. Manuel schüttelte den Kopf verneinend, ließ ihn hängen und ging mit sehr langsamen, traurigen Schritten davon.

Von diesem Tag an ließ sich Elena für jeden Abend etwas Besonderes einfallen und war sich sicher, dass der Tag kommen würde, an dem Manuel sie in seine starken Arme schließen würde. Egal welchen Gesetzen er in dieser anderen, fremden Welt unterlag – er würde diese Gebote für sie eines Tages missachten. Sie würde es schaffen, da war sich Elena absolut sicher.

Phantombesuch

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