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„So, ich habe meinen Job erledigt – die kleinen Monster schlafen.“

„Du bist halt meine Beste!“

„Ja, wenn du mich nicht hättest … Aber was ist mit deinem Einsatz? Mit deinem Versprechen? Das ist doch wieder einmal typisch und unfair. Du hast versprochen, unseren Feierabendtisch zu richten. Wo ist der Wein, wo sind die Leckereien und wo sind die Kerzen?“

„Schatz, nicht böse sein, aber ich hatte noch eine fantastische Eingebung für die Präsentation morgen. Das musste ich gleich aufschreiben. Du weißt doch, wie das mit Geistesblitzen ist – sie kommen ganz plötzlich und sind auch ganz schnell wieder weg!“

„Faule Ausreden, immer nur faule Ausreden und immer zählt nur dein Job. Du hättest dich gedanklich ja auch auf unser Schäferstündchen einrichten können. Du bist schließlich wieder eine ganze Woche weg. Aber ich bin dir eben wieder nicht zuerst in den Sinn gekommen, sondern deine Arbeit. Ich fühle mich einfach vernachlässigt – und immer nur die Nummer zwei oder gar drei, vier zu sein, ist echt deprimierend. Wahrscheinlich musst du manchmal überlegen, wie ich heiße!“

„Komm, sei nicht so ungerecht. Du warst, bist und wirst immer die Nummer eins in meinem Leben sein. Die nächste Woche ist so unglaublich wichtig für mich. Dieser Ärztekongress ist eine große Chance, meine neue Operationsmethode vorzustellen. Ich muss aber perfekt vorbereitet sein – ich werde viele Fragen beantworten müssen und auch die Fachpresse wird vor Ort sein.“

„Ich weiß, aber ich bin gerade trotzdem echt sauer.“

„Du siehst mit deinem Schmollmund so unglaublich süß aus – ich mache dich immer absichtlich böse, nur um deinen Schmollmund sehen zu können.“

„Sehr witzig – Herr Schrader beliebt zu scherzen. Kannst du mich bitte einmal ernst nehmen? Auch wenn ich nur eine dumme kleine Krankenschwester und nicht hoch studiert bin?“

„Süße, wer so sexy Augen hat, so genial, perfekt geformte Kurven – genau dort die richtigen Erhebungen vorzuweisen hat, wo ein Mann sie sehen will, einen Hüftschwung erster Sahne beherrscht und das verführerischste Lächeln auf dieser Welt hat, der braucht nicht hoch studiert zu sein.“

„Du reduzierst mich immer auf meinen Körper. Ich bin wahrscheinlich nur ein Objekt deiner sexuellen Begierde.“

„Jetzt reicht’s aber! Manchmal unterhalten wir uns ja auch.“

„Du bist so unmöglich! Willst du heute Abend unbedingt streiten?“

„Nein, mein Schatz, das will ich nicht. Komm her zu mir!“

„Schon wieder behandelst du mich so, so …“

„Bin ich so ein schlechter Ehemann? Würdest du mich nicht mehr heiraten?“

„Natürlich nicht! Was ist das schon für eine Ehe mit dir? Du bist so gut wie nie zu Hause. Der komplette Haushalt bleibt an mir hängen, meine Karriere – schließlich war es mein Plan, eines Tages Stationsschwester zu sein – ist futsch und zur Krönung hast du mir auch noch zwei Kinder aufs Auge gedrückt. Du nagelst mich hier zu Hause fest und lebst dein Leben. Du wirst immer gescheiter und berühmter! Ich verblöde hier. Du baust uns ein unglaublich schönes und supermodernes Haus, du kaufst mir schöne Kleider, teuren Schmuck und führst mich hin und wieder, wenn es deine kostbare Zeit erlaubt, schick aus. Wenn dann noch etwas Zeit übrig bleibt, kommst du deinen sexuellen Verpflichtungen nach, wobei du währenddessen bestimmt an was weiß ich für Bakterien und Viren denkst. Ja, und als ob das nicht schon genug wäre, planst du auch noch zwei zusätzliche kleine Nervensägen, um mich noch mehr ans Haus zu binden, damit ich auch ja keine Zeit habe, mich nach einem neuen, wunderbaren, liebevollen, aufmerksamen Mann umzuschauen. Einem Mann, der sich für mich Zeit nimmt, der sich nach meinen kleinen alltäglichen Sorgen und Schwierigkeiten erkundigt. Einem Mann, der abends mit mir auf der Couch sitzt und sich mit mir schnulzige Filme anschaut. Einem Mann, der zwei Wochen – nicht nur fünf Tage – mit uns in den Urlaub fliegt, ohne dass er alle zehn Minuten auf sein Handy schaut, weil er mit der Einbildung lebt, dass er in der Klinik einfach unentbehrlich ist. Dass alles zusammenbrechen wird, weil er sich für ein paar Tage mit seiner Familie an irgendeinem Strand dieser schönen Welt vergnügt. Und als ob das nicht alles schlimm genug wäre – nein, neuerdings muss mein Mann auch noch in der Forschung mitmischen, weil das ohne ihn ja sonst nichts wird.“

„Du bist also enttäuscht von unserer Ehe und liebst mich nicht mehr. Sehe ich das richtig? Seit wann denkst du so?“

„Ich bin schon ziemlich lange sehr enttäuscht von dir und unserem Leben, aber ich habe beschlossen, bis zu deiner Rente zu warten. So lange dauert es ja auch nicht mehr, bis es so weit sein wird. Die dreißig Jahre werden doch sicherlich wie im Flug vergehen!“

„Ich bin entsetzt, ich dachte, du wärst glücklich mit mir.“

„Ich bin schon glücklich mit dir – aber wann bin ich denn mal mit dir zusammen?“

Manuel sah seine Frau hilflos an. Er wusste nicht, was er zu ihren Vorwürfen sagen sollte. Elena hatte noch nie so mit ihm gesprochen. Sie hatte ihn immer unterstützt und ziehen lassen. Oft hatte sie gesagt, dass es ihr lieber sei, wenn er nur ein paar Stunden zu Hause sei – wenn er diese wenigen Stunden dann wirklich intensiv mit ihr und den Kindern verbringe. Sie sagte immer wieder: „Was nützt mir ein Mann, der jeden Tag um 16.00 Uhr zu Hause, aber unzufrieden, unerfüllt und mürrisch ist.“ Manuel war ihr immer sehr dankbar für solche Aussagen gewesen, denn das schlechte Gewissen plagte ihn schon hin und wieder.

Elena fing an zu lachen.

„Was ist los? Was ist plötzlich so lustig?“

„Dein Gesicht, mein Liebling! Deine Augen! Du siehst irgendwie verzweifelt aus.“

„Ja, wunderst du dich, wenn du mich plötzlich mit solchen Vorhaltungen überschüttest? Ich hatte immer das Gefühl, dass wir am gleichen Strang ziehen und du mit deiner Rolle als Mutter und Hausfrau vollkommen zufrieden und glücklich bist. Wenn du wieder arbeiten willst, kann ich …“

„Nein, mein Schatz. Das will ich nicht. Ich wollte nur einmal ausprobieren, wie es ist, eine nörgelnde Ehefrau zu sein. Gefällt mir aber nicht. Wir hätten in dieser Zeit lieber knutschen sollen.“

„Du bist unmöglich! Du und dein furchtbarer Humor.“

„Ich hatte immer den Eindruck, dass du den an mir besonders liebst.“

„Du bist eine kleine Hexe, ehrlich. Mir ist vor Schreck fast das Herz in die Hose gerutscht!“

„Das habe ich mit Genuss beobachtet. Meinst du im Ernst, dass ich unsere Abmachung vergessen habe? Du wolltest niemals heiraten und eine Familie gründen, weil du schon immer gewusst hast, dass dein Beruf unglaublich wichtig für dich ist. Du wolltest niemanden verletzen, vernachlässigen oder auch nur traurig machen. Ich habe das alles nicht vergessen. Das wäre auch unfair von mir, denn ich habe dir in nächtelangen Gesprächen eine Familie praktisch aufgedrängt.“

„Na ja, gib jetzt nur nicht so an. So eine harte Arbeit war das nun wirklich nicht. Mach dich nicht so wichtig! Ich habe dich von der ersten Minute an geliebt und verehrt. – Also, ich mag diese paar Stunden, die uns jetzt noch bleiben, nicht mit Grundsatzdiskussionen verbringen. Ich wüsste etwas viel Besseres. Das könnte dir unter Umständen auch ganz gut gefallen.“

„Eine Idee hätte ich da auch. Meinst du, wir denken an das Gleiche?“

„Ich glaube schon, Frau Schrader. Dann stellt sich nur noch die Frage, wie Sie es heute denn bevorzugen würden. Eher sanft oder etwas stürmischer?“

„Wie wäre es mit einem Überraschungsprogramm – vielleicht bunt gemischt? Von allem etwas.“

Elena sah Manuel tief und frech herausfordernd in die Augen. Sie liebte diesen Mann so sehr. Sie konnte ihr großes Glück auch heute, nach all den Jahren, manchmal nicht so richtig fassen. Immer noch hatte sie ganz klar das Bild vor Augen, als Manuel in der Klinik vorgestellt wurde. Er stand locker, sehr selbstbewusst und mit einem leichten Lächeln neben Professor Maier, während dieser ihn in einer Kurzfassung bekannt machte und alle seine fachlichen Titel und Kenntnisse aufzählte. Wahrscheinlich hörte aber keine der weiblichen Kolleginnen wirklich zu. Das war so unwichtig – denn die Frauen benötigten definitiv alle Gehirnwindungen, um das optisch Gebotene zu verarbeiten. Diesen Mann würden sie also in Zukunft fast täglich sehen? Sie würden mit ihm zusammenarbeiten „dürfen“. Mindestens eins neunzig groß, ein wunderschönes, kantiges, sehr männliches Gesicht – geschmückt mit zwei blauen Edelsteinen. Sein Mund war wunderschön geschwungen – wie gemalt. Eine Figur wie Adonis – sportlich, muskulös und ein knackiger Po, der in seiner weißen und recht eng anliegenden Hose sehr gut zur Geltung kam. Wow, was für ein Mann! Und dann seine Stimme – warm, weich, freundlich, melodisch und doch so fantastisch männlich. Elenas Kolleginnen waren fast ohnmächtig geworden. Sie übrigens auch – als sein Blick sie streifte, spürte sie ein Feuer in ihrem Gesicht, das sich in Windeseile auf die Ohren und den Hals ausbreitete. Sie fühlte sich wie ein Leuchtturm und schämte sich sehr.

An diesem Tag hatte das große Rennen begonnen. Alle weiblichen Kollegen – ob Ärztin, Krankenschwester, Pflegerin, Putzfrau, Kantinenfrau oder Patientin – himmelten Manuel an und hyperventilierten in seiner Nähe. Ständig fiel einer Kollegin vor Aufregung etwas aus den Händen, wenn Manuel in Sichtweite war. Schnell wurde ein Blick in den Spiegel geworfen, um noch zu retten, was zu retten war. So aufgebrezelt hatte Elena ihre Mitstreiterinnen höchstens einmal im Jahr zur Weihnachtsfeier gesehen. Die Lippenstifte waren immer parat – in greifbarer Nähe – und hätte Manuel alle angebotenen Kaffees tatsächlich getrunken, wäre er vermutlich schon längst an einem Herzinfarkt gestorben. Er schien es so richtig zu genießen, denn er schäkerte und zwinkerte auf Teufel komm raus. Und trotzdem bildete Elena sich ein, dass er auf sie ein besonderes Auge geworfen hatte. Ach was, dachte sie – das denkt sicher jedes weibliche Wesen, das sich in seinem Dunstkreis aufhält. Er hatte eine ganz besondere Art, Frauen Aufmerksamkeit zu schenken, sodass diese sich gleich weiß Gott was einbildeten.

Dann kam der Tag, an dem Elena beschloss, sich an diesem Wettrennen nicht mehr zu beteiligen. Diesen Affenzirkus mache ich doch nicht mit, dachte sie trotzig. Er ist ein schrecklich eingebildeter Lackaffe, der mit den Gefühlen anderer Menschen spielt. Widerlich! Nicht mit mir!

Der Herr Oberarzt verkraftete ihre abweisende Haltung nur sehr schlecht. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass Elena ihn tatsächlich nicht mehr beachtete. Immer wieder versuchte er, sie bewusst und herausfordernd anzulächeln. Er war ganz verliebt in ihre Grübchen. Deshalb wollte er, dass sie möglichst oft zurücklächelte. Noch süßer fand er den feuerroten Kopf, den Elena innerhalb von Sekunden bekommen hatte, wenn er sie angesprochen hatte. Und nun? Hatte sie einen Knopf, den sie auf „Aus“ geschaltet hatte? Wie ging das von heute auf morgen? Sie gab ihm kurze und fachlich einwandfreie Antworten, aber sie errötete nicht mehr und lächelte ihn auch nicht mehr an. Was hatte er falsch gemacht? Hatte er sie beleidigt? Er konnte sich an nichts erinnern, was sie hätte so verletzen können.

Aber Manuel dachte nicht daran, aufzugeben. Er war auch nicht in seiner Ehre verletzt – das jedoch interpretierte Elena in seine Bemühungen, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich bin jetzt nur interessant, weil ich ihm die kalte Schulter zeige. So was ist der Herr nicht gewohnt. Jetzt muss der Herr Doktor der kleinen, zickigen Krankenschwester zeigen, dass er alles bekommt, was er will. Aber da hat er sich getäuscht, denn mir ist sonnenklar, dass er mich fallen lassen wird, sobald er sein Ziel erreicht hat. Ganz so blöd bin ich dann doch nicht – auch wenn ich nicht studiert habe, weiß ich genau, was der Kerl mit mir vorhat, schimpfte Elena in sich hinein.

Manuel passte seinen Dienstplan immer häufiger an ihren an, bis er letztendlich fast identisch mit Elenas Arbeitszeiten war. Sie konnte ihm so gut wie nicht mehr aus dem Weg gehen und ganz gegen ihren Willen verliebte sie sich immer mehr in ihn. Sie war so wütend auf sich selbst. Elena wollte auf keinen Fall die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren, denn am Ende würde sie sicherlich bittere Tränen weinen und zum Gespött der Kollegen werden. Er war nicht aufdringlich, aber jeder konnte spüren und sehen, wie sehr Elena ihm gefiel.

Nach einem dramatischen Todesfall auf ihrer Station war Elena unglaublich erschüttert und mit den Nerven am Ende. Sie wollte nur nach Hause – oder wollte sie doch nicht in ihre kleine Wohnung fahren, um dort alleine zu sein? Sie überlegte angestrengt, ob sie lieber zu ihren Eltern fahren sollte oder zu ihrer Schwester. Ihre Mutter würde Elena mit ihrem jämmerlichen Wehklagen noch weiter herunterziehen und bei ihrer Schwester war es immer sehr laut und turbulent. Ihre Freundinnen waren auf die Schnelle alle nicht verfügbar. Als sie an ihrem Auto angekommen war, hatte sie sich entschieden, nach Hause zu fahren. Dort wollte sie noch ein bisschen spazieren gehen, bevor sie in ihre Wohnung gehen würde.

Erleichtert, zu einem Entschluss gekommen zu sein, setzte sie sich in den Wagen und wollte den Motor starten. Da tat sich allerdings nichts, einfach gar nichts – nicht einmal ein komisches Geräusch bekam sie zu hören. Ganz tief einatmen und noch einmal probieren. Mist! Das hatte ihr gerade noch gefehlt. In letzter Zeit hatte sie oft darüber nachgedacht, wie alt ihre Kiste war und dass sie langsam daran denken musste, dass der Tag X kommen würde, an dem das Auto schrottreif sein würde. Heute schien es so weit zu sein. „Ausgerechnet heute! Das ist wirklich nicht nett, Lissy“, schimpfte Elena, die ihren Autos immer Namen gab, leise vor sich hin. „Nicht heute!“

Plötzlich klopfte jemand an die Fahrertür und Elena erschrak. Es war schon dunkel und erst letzte Woche war eine Frau auf diesem Parkplatz überfallen worden. Doch dann erkannte sie Manuels Gesicht. Sie lächelte schief, drehte die Scheibe herunter und sagte: „Das ist heute wohl kein guter Tag.“

„Will er nicht anspringen?“

„Das ist eine SieLissy“, sagte Elena und ärgerte sich sofort über diese dämliche Antwort.

Aber Manuel lachte herzhaft. „Sie geben Ihrem Auto also auch einen Namen? Mein aktuelles heißt Hugo! Kann ich Sie mitnehmen? Ich habe gerade darüber nachgedacht, dass ich eigentlich keine Lust habe, nach Hause zu fahren. Aber ich habe auch keine Lust auf meine Familie und schon gar nicht auf Freunde. Der Fall hat mich mitgenommen. Dieser plötzliche und völlig unerwartete Tod – und dann die Verzweiflung der Familienmitglieder. Ich werde mich wohl nie wirklich an solche Szenen gewöhnen. Ich schaffe es nicht, mich abzuhärten und abzugrenzen! Kluge und sicher wahre Worte – aber was ist, wenn die Gefühle das anders sehen? Hätte ich doch noch etwas tun können? Habe ich wirklich alles versucht? Habe ich nichts übersehen oder sonst einen schwerwiegenden Fehler gemacht? Es ist so quälend.“

Elenas Mund blieb offen stehen. Zu solchen Gefühlen und Gedanken war dieser Sonnyboy fähig? Er war doch ein oberflächlicher Gigolo. Verdammt, gerade zerstörte dieser Kerl ihr unter großer Anstrengung zurechtgeschneidertes Bild von ihm. Nur so konnte sie die Gefühle, die für ihn immer intensiver wurden, mühsam unterdrücken. Sie hatte ihn sich regelrecht schlechtgeredet. Er ist eine ganz miese Type – und basta! Dann hörte sie sich sagen: „Ja, so geht es mir auch. Aber nicht alleine sein und niemanden treffen zu wollen – na ja, das passt irgendwie nicht zusammen.“

„Ich habe ja nicht ‚niemand‘ gesagt. Mit Ihnen als Mitbetroffene würde ich sehr gerne noch ein Glas Wein trinken und reden.“

„Sie meinen, wir beide?“ Manuel lächelte so lieb, dass Elena gegen ihren festen Willen auf der Stelle dahinschmolz. Das ärgerte sie sehr. Aber sie hatte keine Zeit, sich weiter mit ihren Gedanken zu beschäftigen, weil die Autotür geöffnet wurde, eine Hand nach ihrem Arm griff und sie, wie sie später immer wieder gerne behauptete, quasi ungefragt mitgeschleift wurde.

Manuel verteidigte sich immer wortreich. Er hatte keinerlei Gewalt anwenden müssen. Elena sei ganz selbstständig und ohne den geringsten Widerstand aus ihrem Auto gestiegen und mit ihm zu seinem Hugo gelaufen.

„Hugo – meinen Sie wirklich, dass der Name zu diesem Auto passt?“

„Wieso – was ist daran verkehrt?“

„Dieses megaschicke, sportliche Auto soll Hugo heißen? Das ist eine Beleidigung!“

„Welcher Name würde Ihrer Meinung nach passen?“

„Puma wäre ganz okay!“

Manuel schaute sie an und sagte staunend: „Ja, das ist wahr – der Name ist passend. Aber dann müssen Sie mit uns eine kleine Tauffeierlichkeit veranstalten.“

Jetzt musste auch Elena lachen. Sein Humor gefiel ihr – er war dem ihren sehr ähnlich.

Es wurde ein wunderschöner Abend und der Grund, weswegen sie zusammensitzen wollten, war, wie sie sich später beschämt eingestehen mussten, schnell nicht mehr Thema. Es wurde sogar ein richtig lustiger Abend. Sie stellten fest, dass sie über die gleichen Witze lachen konnten, dass sie beide gerne joggen gingen, in jeder freien Minute lasen, gutes Essen und kreatives Kochen sehr liebten. Dass Elena schon jahrelang von einem exotischen Urlaub träumte, was für Manuel dagegen schon vor langer Zeit zur jährlichen Normalität geworden war. Ebenso stellten sie fest, dass sie den gleichen Musikgeschmack hatten und eifrige Konzertbesucher waren. Auch Kinoabende mit einer Maxipackung Popcorn auf dem Schoß gehörten zu den gemeinsamen Vorlieben.

Nach diesem Abend dauerte es nicht mehr lange, bis aus den beiden ein Paar wurde. Manuel bestand darauf, in der Klinik kein Geheimnis daraus zu machen – gegen Elenas Willen. Sie war immer noch unsicher und suchte insgeheim nach dem berühmten Haken. Warum sollte sich Manuel bei der Riesenauswahl, die ihm zur Verfügung stand, ausgerechnet für sie entscheiden? Sie konnte es einfach nicht glauben, dass Manuel sich in sie verliebt hatte. Das konnte nicht sein.

Elena hatte aber keine Chance – er zeigte seine Liebe zu ihr so offen und frei, dass Elena nicht lange auf die erahnten Reaktionen warten musste. Neid, Eifersucht und böse Blicke waren schnell an der Tagesordnung. Laufend wurden Elena Fehler unterstellt, Fallen gestellt und gemeine Lügen verbreitet. Es war schrecklich und Manuels Standardsatz war: „Lass sie doch, es wird aufhören. Irgendwann wird es ihnen zu blöd, glaub und vertrau mir. Je weniger du darauf reagierst, umso schneller ist Schluss damit!“ Er hatte gut reden – er war nach wie vor der Star.

Aber die Wochen und Monate vergingen und an Manuels Verhalten und Gefühlen änderte sich nichts – ganz im Gegenteil. Er stellte Elena sogar seinen Eltern als „meine Traumfrau“ vor. Herr und Frau Schrader empfingen Elena zwar freundlich, aber keineswegs herzlich. Gleich beim ersten Treffen wurde Belinda – Manuels Kommilitonin und damalige Freundin – erwähnt. Das Ende der Beziehung wurde sehr bedauert, denn Belinda kam aus sehr gutem Hause mit adligen Wurzeln. Ja, da konnte Elena nun wirklich nicht mithalten. In ihr gab es nicht die geringste Spur von Adelsblut – nein, es war dramatischer. Ihre Eltern waren einfache, ehrliche Menschen, die nur ein Ziel in ihrem Leben verfolgt hatten – ihren Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Sie waren mächtig stolz auf ihre beiden Töchter. Die jüngere wurde eine ausgezeichnete Krankenschwester und die Erstgeborene hatte eine Ausbildung zur Bankkauffrau absolviert.

Manuel bestand ziemlich schnell darauf – Elena ging es viel zu schnell –, dass sie zu ihm zog. Er machte einen sehr glücklichen Eindruck. Eines Abends, nach einem etwas zu hohen Weingenuss, gestand Manuel Elena mit schleppender Stimme, dass er sich eigentlich nie fest binden wollte. Eine Heirat und Kinder standen nicht auf seinem Lebensplan, weil er sich ganz auf seinen Beruf konzentrieren wollte und sehr hochgesteckte Ziele verfolgte. Auch in der Forschung wünschte er sich eines Tages mitmischen zu können. Um keinen Menschen zu enttäuschen, zu verletzen oder zu vernachlässigen, wollte er von vornherein keine feste Beziehung eingehen und schon gar keine Kinder in die Welt setzen. Er konnte von keiner Frau so viel Verständnis erwarten, wie er brauchte, um seinen Beruf so auszuüben, wie er es für sich geplant hatte – ohne ein dauerhaft schlechtes Gewissen zu haben.

Ja, das war sein ganz konkreter Lebensplan gewesen, bis Manuel Elena kennengelernt hatte. Das erzählte er ihr auch genau so in seinem angesäuselten Zustand. Seit ihrer ersten Begegnung hatte sich seine Meinung jedoch grundlegend geändert. Er musste sich eingestehen, dass die Vernunft gegen Gefühle – echte, starke Gefühle – kaum eine Chance hatte. Er wehrte sich auch nicht sonderlich dagegen. Nein, Elena tat ihm so gut – ihre Natürlichkeit war erfrischend. Sie war authentisch und ehrlich. Er fühlte sich in ihrer Nähe unbeschreiblich wohl und geborgen. Es erschien ihm alles richtig, selbstverständlich und er fühlte sich endlich ganz – komplett. Er hatte in seinem Herzen, trotz völliger Zufriedenheit und Erfüllung durch seinen Beruf, immer eine gewisse Leere verspürt. Es fühlte sich so an, als ob in einem Stückchen seines Herzens ein Vakuum wäre. Im Nachhinein behauptete Manuel oft scherzend, dass es wohl doch ein verdammt großes Stück war, das sich leer angefühlt hatte, weil es für die ganz große Liebe reserviert gewesen war. Wäre Elena in seinem Leben nicht aufgetaucht, wäre dieses Stück wohl für immer leer und unentdeckt geblieben. Er hätte wahrscheinlich niemals erfahren, zu welch intensiven Gefühlen er fähig war. Manuel staunte sehr darüber, wie viel Kraft er aus dieser ehrlichen, tiefen und bedingungslosen Liebe schöpfen konnte. Solche Gefühle hatte er noch nie verspürt – auch nicht, wenn er für ganz außerordentlich große berufliche Erfolge gefeiert wurde. Er verspürte natürlich großes Glück und Zufriedenheit, wenn ihm etwas sehr gut gelungen war – was im Übrigen nicht selten vorkam. Und doch war es jedes Mal nicht das perfekte, einhundertprozentige Glücksgefühl – es fehlte etwas! Vielleicht jemand, der die Freude mit ihm innig teilte.

Seit er mit Elena zusammen war, erreichte er das einhundertprozentige Glücksgefühl regelmäßig – oft hatte er sogar den Eindruck, die Hundertermarke zu überschreiten. Der Kreis hatte sich geschlossen – sein Leben war eine schöne runde Sache. Perfekt!

Dies alles nuschelte er in seiner Weinlaune laut vor sich hin. Elena dankte Manuel für diese Beichte und beschloss, am nächsten Tag mit ihm darüber zu sprechen. Sie wollte zum einen in Ruhe darüber nachdenken und zum anderen war sie sich ziemlich sicher, dass er von dem Gesagten nichts mehr wissen würde. Da hatte sie keineswegs unrecht. Als Elena Manuel einen Tag später mit seinem Monolog konfrontierte, wirkte er sehr erschrocken. Er hatte nie vorgehabt, Elena von seinen ursprünglichen Plänen zu erzählen, weil er sie nicht verunsichern wollte. Inzwischen konnte er sich durchaus eine Heirat und eigene Kinder vorstellen. Ach was, vorstellen – er wünschte es sich von ganzem Herzen und so bald wie möglich.

Jetzt hatte er sich, im betrunkenen Zustand, wohl alles kaputt gemacht. Er wusste wirklich nicht mehr, welchen Unsinn er am vergangenen Abend geredet hatte. Wie weit war er gegangen? Verdammt, wie konnte er sich so volllaufen lassen? Jetzt musste er abwarten und zuhören, was Elena ihm zu sagen hatte. Dann musste er versuchen zu retten, was noch zu retten war. Er sah jedoch schwarz.

„Ich würde niemals von dir verlangen, dass du deinen Beruf vernachlässigst. Ich weiß nur zu genau, wie sehr du diesen liebst und wie wichtig er für dich ist. Du willst helfen – du willst Leben retten. Was soll man dagegen schon sagen? Was soll daran denn falsch sein? Ich jedenfalls habe vollstes Verständnis und werde dich immer unterstützen, weil ich weiß, wie viel dir dein Beruf bedeutet und wie wichtig du für manchen kranken, verzweifelten Menschen bist. Manchmal bist du die allerletzte Hoffnung, der rettende Strohhalm. Ich bin sehr stolz auf dich. Ich verspreche dir, dass ich dir niemals Vorwürfe machen werde, solange ich deine Liebe spüre und mir deiner Zuneigung sicher sein kann.“

Manuel war völlig perplex. Er hatte mit Vorwürfen gerechnet. Er hatte sich darauf eingestellt, sich rechtfertigen zu müssen. Elenas Verhalten an diesem Tag überzeugte ihn gänzlich davon, dass sie die absolut richtige Frau für ihn war.

Phantombesuch

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