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Die menschliche Natur: Das System von Überleben und Entfaltung

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Die menschliche Natur wird zwar bereits seit vielen Jahrhunderten untersucht und diskutiert, aber wir sind erst seit Kurzem in der Lage, intensive Beobachtungsforschung mit Methoden zu kombinieren, die die Schaltkreise im Gehirn sowie zwischen Gehirn und Körper verfolgen und aufzeichnen können. Die Erkenntnisse aus diesem Forschungszweig können sehr starke Wirkungen entfalten, wie wir in unseren Ausführungen über Strategie, digitale Transformation, Restrukturierung, kulturellen Wandel, Fusionen und Übernahmen, Scaled Agile und breitere soziale Initiativen zeigen werden.

Wenn wir den Fokus auf die Erhaltung und Vermehrung von Wohlstand in einer immer unbeständigeren und komplexeren Welt richten, sollten wir uns auf diese neuesten Forschungsergebnisse stützen. Das Bild, das die meisten Menschen von der menschlichen Natur im Kopf haben, ist dagegen leider nicht besonders brauchbar. Vor allem neigen die weitaus meisten Menschen dazu, die Macht unseres Überlebensinstinkts sehr stark zu unterschätzen. Sie erkennen nicht, dass er oft unwillkürlich unsere Fähigkeit außer Kraft setzt, Chancen rasch wahrzunehmen, erfinderisch zu denken, uns anzupassen, zu führen und uns zum Besseren zu verändern.

Menschen tragen etwas in sich, das wir als Survive-Channel (»Überlebenskanal«) bezeichnen. Er beinhaltet das biologische Äquivalent zu einem Radarsystem, das unablässig nach Bedrohungen Ausschau hält. Vor sehr langer Zeit waren dies zunächst wohl vor allem körperliche Bedrohungen. Heute dagegen wird dieses fundamentale System von der Gesellschaft und von persönlichen Erfahrungen darauf programmiert, auf Bedrohungen für die Karriere, Finanzen, Psyche oder andere Faktoren unseres Wohlergehens zu achten.

Wenn das Gehirn etwas als Gefahr wahrnimmt, läuft blitzschnell und unterbewusst immer die gleiche Stressreaktion ab. Zuerst sendet die Amygdala augenblicklich ein Signal an das »Kontrollzentrum« des Gehirns, den Hypothalamus. Das Signal aktiviert das sympathische Nervensystem, also den Mechanismus, der für die Reaktion auf potenziell gefährliche Situationen verantwortlich ist. Epinephrin, das unter dem Namen Adrenalin besser bekannt ist, fließt durch den Körper. Es erhöht den Blutdruck, beschleunigt Herzschlag und Atmung, damit mehr Sauerstoff in den Blutkreislauf gelangt, und setzt Blutzucker und Fette frei, um uns auf die »Kampf- oder Fluchtreaktion« vorzubereiten: Entweder stellen wir uns der Bedrohung oder wir laufen weg. Wenn das passiert, konzentriert sich unser Verstand laserscharf einzig und allein auf die wahrgenommene Gefahr. Der erhöhte Energielevel und die vollständige Konzentration dienen dem Versuch, ihr durch eine rasche Reaktion zu entrinnen. Wenn wir Erfolg haben, ist das wahrgenommene Problem gelöst, die chemischen Stoffe werden nicht mehr ausgeschüttet, wir beruhigen uns und der Körper kehrt zurück in den Zustand vor dem »Angriff«.

Wir alle haben diese Überlebensreaktion im Privat- und Berufsleben schon zahllose Male erlebt. Manchmal geraten wir sogar in ähnliche Situationen wie unsere Vorfahren. Wir wollen gerade die Straße überqueren, doch plötzlich nehmen wir über unseren »Survive-Channel« und das periphere Gesichtsfeld wahr, dass ein Bus genau auf uns zufährt. Augenblicklich werden chemische Stoffe ausgeschüttet, Blut strömt in die Muskeln, alle anderen Gedanken sind blockiert und wir springen zurück auf den Gehsteig. Dieser ganze Prozess spielt sich innerhalb einer Sekunde ab, oft noch bevor wir überhaupt bewusst erkennen, was wir da tun.

Noch häufiger kommt es heute jedoch vor, dass der Überlebensinstinkt mit nuancierter Komplexität zurechtkommen muss. Er muss auf die Bedürfnisse und Erfordernisse des Lebens in der komplizierten Realität des 21. Jahrhunderts reagieren. Ein Kollege weist uns darauf hin, dass einer unserer wichtigsten Kunden wegen einer verloren gegangenen Lieferung verärgert ist. Unser Radar meldet einen Bedrohungsalarm, chemische Stoffe fließen, der Herzschlag beschleunigt sich und der Verstand vergisst alle anderen Probleme, während wir sofort in einen Konferenz-Call, ein virtuelles Meeting oder einen echten Konferenzraum eintreten. Sechs Personen versammeln sich, um alle Fakten über das Problem zusammenzutragen und die Optionen zur Wiedergutmachung der ausgefallenen Lieferung und Besänftigung des Klienten zu prüfen. Jeder übernimmt einen Teil der Verantwortung, erledigt seine Aufgaben und nach angespannten 24 Stunden erfahren wir, dass das Problem vom Tisch ist. Der Kunde ist anscheinend von unserer schnellen Reaktion beeindruckt und wieder zufrieden.

Der Überlebensinstinkt ist ein äußerst mächtiger Teil unseres Wesens. Wir verdanken es hauptsächlich ihm, dass die Menschheit in den letzten hunderttausend Jahren nicht ausgelöscht wurde, wie so viele Millionen anderer Arten. Doch als unser Gehirn sich vor langer Zeit entwickelte, sah die Welt noch völlig anders aus. Während also der Survive-Channel weiterhin entscheidend für unser Überleben ist, weil er bei echten Gefahren für die richtige Reaktion sorgt, nützt er uns ansonsten unter den sehr stark veränderten Bedingungen der heutigen Zeit nicht immer auf optimale Weise.

Wenn wir heutzutage ein Problem nicht erfolgreich beseitigen können – in der Regel, weil die Bedrohungen außerordentlich komplex sind und es keine Möglichkeit gibt, ihnen schnell aus dem Weg zu gehen oder sie zu beenden – befinden wir uns oft ziemlich lange in einem solchen Zustand erhöhter Alarmbereitschaft im Überlebensmodus. Der Körper schüttet dann immer weiter chemische Stoffe aus (Cortisol und andere Hormone), die uns im Alarmzustand halten. Doch diese Intensität zehrt viel Energie auf und wir fühlen uns immer stärker gestresst. Wenn dann noch mehrere Bedrohungen gleichzeitig auf uns einprasseln – oder auch solche, die wir nicht lösen können –, geraten wir möglicherweise in einen überhitzten Stresszustand. Dann kommt es vor, dass wir so müde und zerstreut sind, dass wir nicht einmal mehr mit den Problemen fertig werden, für die der Survive-Channel ursprünglich geschaffen wurde. Am Ende drehen wir uns im Kreis, ziehen uns zurück, erstarren – und so wird oft unsere Fähigkeit, neue Chancen zu erkennen, überwältigt. Wir sind nicht mehr in der Lage, einen Schritt zurückzutreten und kreativ zu überlegen, und schon gar nicht können wir dann unser Verhalten so ändern, dass wir rasch von irgendwelchen Gelegenheiten profitieren. Und wie sollen wir in diesem Zustand andere zusammentrommeln, um Chancen zu nutzen, wenn wir selbst kaum noch funktionieren?

In der heutigen Welt des raschen Wandels, in der immer mehr Bedrohungen und Chancen auftreten, sind überhitzte Survive-Zustände nichts Ungewöhnliches. Das kann entweder an der schier riesigen Zahl der wahrgenommenen Bedrohungen liegen oder an unserer Umgebung, die uns so viele Beschränkungen auferlegt, dass wir nicht einmal einzelne Bedrohungen beseitigen können.

Beispiele für Unternehmen in überhitztem Survive-Modus lassen sich sehr leicht finden. Vor wenigen Jahren hatte ein Konsumgüterhersteller eine zu hohe Produktion für die bestehende Nachfrage. Er hatte Überkapazitäten in den falschen geografischen Regionen und Produktkategorien und gleichzeitig nahm ihm ein Konkurrent, der mit neuer Technologie erfolgreich die Kosten gesenkt hatte, mit billigeren Angeboten Marktanteile ab. Das Leitungsgremium der Firma tat, was es schon unzählige Male beobachtet hatte: Es initiierte eine Restrukturierung. Als bekannt wurde, dass Stellen gestrichen werden sollten, verfielen nicht nur einzelne Beschäftigte, sondern ganze Unternehmensteile in den überhitzten Survive-Modus. Sorge (ebenso wie Wut und Stress) nahmen zu und die Arbeitsmoral sank. So ließ auch die Produktivität nach und die Innovationsfähigkeit wurde von der großen Ermüdung, die durch den Zustand entstand, und von der damit verbundenen eingeengten, rein auf die Bedrohung konzentrierten geistigen Anstrengung außer Kraft gesetzt.

Keines dieser Probleme hielt das Leitungsgremium davon ab, das zu tun, was es widerstrebend als notwendig erachtete, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Die Kosten wurden gekürzt, ein paar Niederlassungen wurden geschlossen und Menschen verloren ihre Arbeit. Es waren keine drakonischen Maßnahmen, aber sie waren für alle Beteiligten sehr unangenehm.

Zwei Jahre später war die Restrukturierung offiziell »abgeschlossen« und sie erwies sich nach gewissen Standards sogar als erfolgreich. An Orten, wo wenig Nachfrage bestand, waren die Kosten bedeutend reduziert worden. Doch die Ersparnisse wurden durch die weiterhin niedrige Produktivität vermindert.

Noch wichtiger war jedoch Folgendes: Während des gesamten Restrukturierungsprojekts waren kaum bis gar keine Produktinnovationen entstanden, obwohl Programme zur Schaffung neuer Angebote existierten. Noch vor drei Jahrzehnten wäre eine solche Pause in der effektiven Produktentwicklung kaum der Rede wert gewesen, da sich die Welt damals noch langsamer drehte. Doch jetzt nutzten zwei jüngere Wettbewerber Veränderungen am Markt geschickt aus und brachten neue Angebote heraus. So erwarben sie Marktanteile und schufen auf diese Weise ein neues Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage für die restrukturierte Firma.

Der CEO zog sich in den Vorruhestand zurück. Sein Nachfolger startete einige neue Initiativen zur Kostenkürzung und versuchte, von oben herab starken Druck auf den Produktentwicklungsprozess auszuüben. Doch nichts davon erzeugte die erwünschten Ergebnisse in dem erforderlichen Ausmaß. Die mangelhafte Kenntnis der wahren Problemursachen führte unweigerlich zu mangelhaften Lösungen. So ist es immer.

Aber es gibt Lösungen. Wer sie finden will, muss jedoch sowohl den Survive-Channel als auch seinen jüngeren, weniger dominanten Begleiter, den Thrive-Channel (»Entfaltungskanal«), kennen.

Der Thrive-Channel hat ebenfalls ein Radarsystem, aber es sucht nicht nach Bedrohungen, sondern nach Chancen. Wenn das System Möglichkeiten erkennt, wird ein interner Mechanismus aktiviert (das parasympathische Nervensystem), der eine andere Kombination chemischer Stoffe ausschüttet als der Survive-Channel (beispielsweise Oxytocin und Vasopressin). Die Thrive-Reaktion erhöht ebenfalls unseren Energielevel, treibt ihn aber nicht auf die Spitze. So weckt der Thrive-Modus nicht Sorge und Wut, sondern geht mit Gefühlen wie Leidenschaft und positiver Aufregung einher. Unser Blickfeld wird nicht eingeengt, sondern oft noch vergrößert, da die Wissbegier bezüglich der neuen Gelegenheit das Gesichtsfeld erweitert. Wenn also keine Reaktion der Angst um unser unmittelbares und persönliches Überleben ausgelöst wird, sondern positive Emotionen fließen, sind wir offener für Kooperation, Kreativität und Innovation. Körper und Geist suchen nach Möglichkeiten, wie wir uns auf die neue Chance zubewegen können. Und wenn wir dann auch noch Hinweise auf Fortschritte erkennen, lässt sich das erhöhte Energieniveau bemerkenswert lange aufrechterhalten, ohne dass wir uns ausgebrannt fühlen.

Wir stehen heute vor der grundlegenden Tatsache, dass intelligente Veränderungen in ausreichendem Tempo und Ausmaß nur zu erreichen sind, wenn wir verhindern, dass der Survive-Channel überhitzt, und wenn wir gleichzeitig bei einer genügend großen Zahl von Personen den Thrive-Channel aktivieren. Mit dieser Herausforderung haben die Unternehmen aus zahlreichen Gründen zu kämpfen.

Die fundamentalste Ursache der Schwierigkeiten liegt darin, dass eine Vielzahl von Veränderungen in den letzten Jahrzehnten die Stressreaktion übermäßig stimulieren. Das Problem reicht von der C-Suite bis hinunter an die Frontlinie und es blockiert die ausreichende Aktivierung der Entfaltungsreaktion. Die breitere Verfügbarkeit von Daten und ihre häufigere Anwendung ist beispielsweise in vielerlei Hinsicht ein Vorteil für verlässliche Resultate und hilft gelegentlich sogar beim Aufspüren neuer Chancen. Aber die konstante Bombardierung mit Daten und Messwerten, die alle potenziell auf Probleme hinweisen, kann den Survive-Channel auch übermäßig stimulieren. Damit werden wir uns an anderer Stelle in diesem Buch noch ausführlich beschäftigen.


Abbildung 2.1: So wirken die natürlichen Anlagen positiv

Auch die dauerhafte und rund um die Uhr bestehende Vernetzung der ganzen Welt kann die Aktivierung des Survive-Channels verstärken. Wenn um vier Uhr morgens eine E-Mail-Nachricht eintrifft, stuft das Gehirn sie automatisch als Krise ein, auch wenn sie gar keine ist. Das Gleiche gilt für die Textnachricht, die uns unerwartet beim Morgenkaffee stört.

Die sozialen Medien mit ihrer unendlichen Kapazität, uns anderen gegenüber unvorteilhaft darzustellen, können den Survive-Channel aktivieren. Sie beeinflussen immer größere Bereiche unseres Lebens und bringen sowohl Vorteile als auch unbeabsichtigte Probleme mit sich.

Durch die persönlichen und beruflichen Bedrohungen im Rahmen der Covid-19-Pandemie wird das Überlebensradar in höchste Alarmstufe versetzt. Die Bedrohungen scheinen mit immer größerer Häufigkeit in den Abendnachrichten über uns hereinzubrechen und sie lösen eine langfristige Unsicherheit bezüglich unserer eigenen Gesundheit und der Gesundheit der Menschen, die wir lieben, aus, und ebenso große Sorgen um unsere Arbeit und die globale Wirtschaft.

Weil wir immer mehr Informationen aus aller Welt erhalten, haben wir auch viel mehr, über das wir uns Sorgen machen können. Terrorangriffe an fernen Orten oder Naturkatastrophen auf anderen Kontinenten stellen zwar rational betrachtet in diesem Augenblick keine Bedrohung für uns dar, aber der Überlebensinstinkt ist kein rationaler Mechanismus.

Außerdem haben wir wenig bis keinerlei Kontrolle über viele der »Bedrohungen«, die der Survive-Channel wahrnimmt. Alle diese Faktoren zusammengenommen sind das perfekte Rezept für eine Überhitzung des Überlebensmodus.

So viele von uns haben die Probleme erkannt, die ein überstimulierter Überlebensmodus verursacht, dass wir nun manchmal glauben, ihn abstellen zu müssen. Viele Leute sagen zu uns: »Wir bewegen uns nun von Survive nach Thrive!« Damit implizieren sie meist: »Ist das nicht großartig?« Doch ein gut funktionierender Überlebensmechanismus trägt tatsächlich sehr stark zur Aktivierung des Entfaltungssystems bei. Wenn er weder unter- noch überstimuliert ist und wenn er ein Repertoire effektiver Reaktionen auf die vorliegenden Probleme bietet, ist ein gut funktionierender Survive-Channel weder eine lähmende Ablenkung noch ein tödlicher Energiefresser. In dieser Situation lässt sich der Thrive-Channel ohne Herkules-Anstrengungen durch die Wahrnehmung inspirierender Gelegenheiten sowie durch die Bereitschaft, Unterstützung und Fähigkeit zu ihrer Ausnutzung aktivieren.

Wir haben viel darüber gelernt, wie all das vor sich geht – nicht zuletzt durch die Literatur über bedeutende historische Führungspersönlichkeiten. Die besten unter ihnen hielten den Survive-Channel wach, aber überhitzten ihn nicht. Sie waren häufig auch Meister in der Aktivierung des Thrive-Channels bei sich selbst und anderen. Innerhalb der letzten Jahrzehnte haben wir zudem viel darüber erfahren, wie Organisationen ohne überlebensgroße Führungspersönlichkeiten effektiv bedeutende Veränderungen anführen können – wobei »anführen« (im Gegensatz zu »managen«) hier das Schlüsselwort ist. Wir werden diese Erkenntnisse im Verlauf des Buches besprechen und über Geschichten berichten, die zeigen, was in dieser Hinsicht alles möglich ist.

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