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II.

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Draussen sprühte ein feiner Regen durch die Finsternis. Die Häuser der Strasse, wo Gust wohnte, lagen alle dem Fluss zugewandt; dumpf hörte man das nahe Plätschern, aber die Wasserfläche selbst vermochte Gust, als er jetzt auf den Damm trat, nicht zu erspähen.

Denn tief und massig schoben sich die schwarzen Nebel vom Meere hinein, und wenn sie sich an den wenigen Hafenlaternen vorüberdrängten, in denen die kleinen Petroleumlämpchen so trübe brannten, dann schien es Gust, als ob ungeheuere, matt erleuchtete Trauerschleier die Strasse und die Stadt überziehen wollten.

Er setzte sich auf die Bank unter dem Fenster, hinter welchem im Moment deutlich die feine Stimme des Herrn Winkelmann erkennbar wurde, und starrte jenseits des Flusses auf die weiten Wiesen hinüber, auf denen am Tage die Kühe der Ackerbürger zu weiden pflegten.

Jetzt lagerte dort dicke Nacht.

Unbeweglich und still lag sie da, die bedrückende Schwärze, und glotzte zu Gust hinüber. Sie sprach nicht, sie atmete nicht einmal, sie gab nicht den leisesten Ton von sich, wesenlos, eine meilenweite Höhle dehnte sie sich, als wüsste sie ganz genau, dass alles Leben doch einmal in sie hineinirren müsse.

Gust fuhr sich durch das nebelnasse Haar und schauerte auf seiner Bank zusammen.

Zum erstenmal überfiel den Jungen eine schneidende Angst.

Die Angst vor dem Leben.

O, wie es sich in seinem Herzen zusammenkrampfte. Seit einer Stunde wusste er, dass das Leben kein Festzug mit seidenen Fahnen wäre, der sich jauchzend und singend durch die Strassen bewege.

Die Menschen jubelten auch nicht auf den Balkons, keine weissgekleideten Mädchen würden Rosensträusse auf den Wanderer hinunterwerfen; nein, die Menschen sassen in ihren Stuben, rechnend an Lebensplänen und lange Zahlenreihen in ihre Bücher kritzelnd.

Drinnen sprach Herr Winkelmann, und durch das weisse Rouleau hindurch machte sein Schatten eine deutliche Verneigung. Gust griff nach seiner Brust und wandte sich erschreckt von der unbeweglichen Finsternis ab, die mit kohlschwarzen Augen wartend zu ihm hinüberblickte.

Dann schob er die Finger an den Mund, denn Tante Betti war nicht anwesend, und seine Gedanken ritten auf schwarzen Rossen weiter.

Er hatte seine Mutter weinen sehen, nicht weinen, schluchzen, diese geliebte Frau, die all seine Kinderjahre hindurch gelacht hatte.

Das schwarze Leben glotzte also auch seine Mutter an, und die liebe, dicke, starke Frau hatte, wie im Grauen, die lustigen Augen davor geschlossen und laut geschluchzt.

„Herr Gott — nie wieder — nie — nie mehr.“

Gust tat einen lauten Schwur und biss sich auf die Finger, dass er hätte schreien mögen.

Man musste also das Leben besiegen. Niederreiten, totschlagen.

„Ach, Gott sei Dank — Gott sei tausend Dank, dass er stets eine solch unbändige Kraft in sich gefühlt hatte.

Körperkräfte wie Hammerschläge, und Geistesgewalten wie glühende Feuerströme.

Ganz sicher, er würde das Leben vor sich niederwerfen.

Es gab ja so viele Wege, nicht einen nur, wie die kleinbürgerliche Tante Betti meinte, sondern viele, viele. Und er kannte sie alle.

Die Geisteswissenschaften.

Jener wunderbare Mommsen. War er nicht auch ein armer Junge gewesen? Gust wusste es zwar nicht genau, doch er glaubte, dass es sich garnicht anders zugetragen haben könnte. Gewiss — gewiss. Wenn man, wie jener einzige Historiker, tief in das Leben verschollener Völker hinuntersteigen könnte, in dämmerschwarze Schächte, wo die Seelen der grossen Helden schwebten; und dann, die Schatten packen, greifen, ihnen das eigene rote Blut zu trinken geben, sie lebendig machen könnte. O, mit einer so rot brennenden Phantasie musste das ja so leicht zu fördern gehen.

Aber wer sagte denn eigentlich, dass man durchaus ein Grübler bleiben musste?

Wer?

Nur Tante Betti.

Das Leben, das reiche, wartende Leben dachte vielleicht ganz anders darüber; er musste ja auch Soldat werden.

Und dann — wer konnte das Ende wissen? — Schlachten, ein unerhörter Aufstieg — Napoleon.

Da war er wieder — sein Lieblingsgedanke.

Wenn er diese Ideen durchfieberte, dann umrauschten ihn gischtende, perlende Ströme, in denen sich seine Seele gesund badete.

Es war so vieles morsch im Vaterlande. Thron, Staatsleben, Religion, alles war alt geworden, verbraucht. Hatten sie nicht in dem Schülerverein, den Gust heimlich gegründet, das alles ausführlich und oft besprochen? Und er musste sich stolz gestehen, dass er Karl Stark, der Bankbeamter werden wollte, und sogar den Junker Malte von Zingst zu seinen Ansichten bekehrt hatte.

Alle seine Mitschüler gaben zu, dass man nach neuen Formen und nach neuem Inhalt lechze.

Nur der starke Mann fehlte, der gnadenspendende Diktator, der Napoleon und Christus zugleich sein musste.

Aber er fehlte ja garnicht, er sass ja da — hier auf der feuchten Bank, und hob im Augenblick spürend die schmale Hakennase in die Luft, als vernehme er bereits die Hufschläge des Rosses, das man ihm bringen würde.

Von fern wieherte etwas.

Gust fuhr zusammen.

Er sah ihn deutlich vor sich, den schwarzen arabischen Hengst.

Und dann aufgesessen und mit dem Degen nach Russland gewiesen, wo der Feind aller Kultur zertrümmert werden musste.

Hörst du sie klingen?

Tausend helle Trompeten schmettern: „Freiheit — Freiheit — —“ Die ungeheuren Ödstrecken werden bebaut, überall verkünden jauchzende Sendboten des Kaisers neues Evangelium: das irdische Paradies.

Ein schwerer Regentropfen, der gerade auf Gusts Nase fiel und auch auf die Augen abspritzte, öffnete diese wieder dem gewöhnlichen Leben.

Eben kamen leichte Tritte die Strasse herunter, und schon von weitem erkannte Gust, dass man keinen arabischen Hengst bringe, sondern dass es nur Toni Stark wäre, deren schlanke Gestalt halb von einem aufgespannten Regenschirm verdeckt wurde.

Als sie an ihm vorbei gehen wollte, streckte er plötzlich die Hand nach ihrem nassen Röckchen aus.

Darüber erschrak die Siebzehnjährige.

„Bist du’s, Gust?“ fragte das blonde Mädchen, während sie den Schirm sinken liess, um den Sitzenden in der Dunkelheit deutlicher zu erkennen.

„Ja, ich, Toni.“

Und nachdem er ihr erklärt hatte, warum sie beide hier draussen warten sollten, setzte sie sich neben ihn. Feiner und durchdringender stäubte der Sprühregen auf die beiden nieder, von ihnen nicht beachtet, weil sie gerade durch das Rouleau spähen mussten, hinter dem der hagere Schatten von Tante Betti im Moment ganz vernehmlich die Worte sprach:

„Ihre Vorschläge, Herr Winkelmann, sind so, wie ich sie erwartet habe. Ich nehme sie also im Namen meiner Schwägerin dankend an.“

Darauf erhob sich der Schatten des Herrn Winkelmann und verneigte sich.

Dann wurde drinnen wieder alles still.

Nur der Fluss plätscherte an das Bollwerk. Und ganz vom Ende der Gasse, wo der alte Kückeweih wohnte, den die Stadt als Leichenfischer angestellt hatte, klang eine verstimmte Geige herüber.

Der alte Fischer sang dazu:

„Ich hatt’ einen Kameraden,

Einen bessern find’st du nicht.“

Da rückte Toni dicht an Gust heran, und nachdem sie den Schirm über sich und den Jugendfreund ausgespannt hatte, schob sie auch noch den Arm vertraulich unter den seinen, was sich der Gymnasiast ohne besondere Regung gefallen liess.

„Du, Gust,“ hob sie fröstelnd an, während sie rasch hinter sich auf den erleuchteten Vorhang wies, „bei uns zu Hause, da wird auch schon wochenlang beraten. Über Karl. Er soll ja durchaus viel Geld verdienen. Immer bloss Karl. Um mich kümmert sich wieder kein Mensch.“

Als sie das sagte, zitterte plötzlich ihr Körper, und ihre vollen roten Lippen bebten wie im Frost.

Gust starrte sie durch die Finsternis an.

Und sein Geist ward abgelenkt.

Wirklich, er war all die Jahre hindurch so vollkommen in dem gläsernen Hause seiner Träume eingeschlossen gewesen, dass er das allmähliche Aufwachsen dieser Seele neben sich überhört oder übersehen haben musste. Ja, jetzt war er im höchsten Grade erstaunt, dass da überhaupt etwas sich Entfaltendes neben ihm sässe.

„Du, Toni?“ fragte er verwundert, „entbehrst du denn das?“

„Was?“

„Dass man sich um dich zu Hause weniger kümmert?“

Sie wischte sich mit einer raschen Bewegung die Nebelperlen von dem dunklen Jackett, und ihr frisches Antlitz entfernte sich etwas von Gust.

„Ich bin jetzt in dem Alter,“ gab sie trotzig zurück, „wo man jemand besitzen muss, den man lieb haben kann. Das verstehst du noch nicht.“

So sprach die Siebzehnjährige.

Gust ging ins neunzehnte Lebensjahr.

„Du hast doch deinen Vater,“ tastete Gust vorsichtiger, der zu seiner grössten Überraschung empfand, dass er hier an etwas Fremdes, ihm bisher Unbekanntes rühre.

Das war das Weib.

Aber Gust, der bereits von braunen Zöpfen und schlanken Hüften träumte, wusste es trotzdem nicht.

Neben ihm bewegte sich das Mädchen und blickte vor sich nieder.

„Ja, meinen Vater,“ erwog sie. Und dann setzte sie rasch entschlossen hinzu: „Aber er hat nichts zu sagen. Wenn ich bloss ein Mann wäre wie du, o wie wollte ich dann —“ Hier schwieg sie und breitete die Arme aus, als wünsche sie etwas an sich zu ziehen.

„Was würdest du?“ forschte Gust, zur Seite rückend.

„Nichts — nein — das weisst du noch nicht.“

Dieses Urteil war für einen Helden, der eben noch auf arabischem Hengst der Welt vorangeritten war, ein wenig zu unfreundlich.

Verletzt zog Gust deshalb seinen Arm von dem ihrigen fort und äusserte mit festem Ton: „Du bist in letzter Zeit sehr hochmütig geworden, Toni.“

Da wurde sie auf einmal ganz bestürzt, und indem sie sich sachte mit ihrem Arm wieder an den seinen drängte, lächelte sie verlegen: „Ach nein, das musst du nicht glauben, Gust; zu dir nicht.“

„Es kommt auch einem Mädchen garnicht zu,“ vollendete nun Gust stolz. „Der Mann ist überall mehr wert. Sogar nach kunstästhetischen Gesetzen ist der männliche Körper schöner, als der weibliche.“

„Wirklich?“ räusperte sich Toni erstaunt und dabei beugte sie ihren Leib ein wenig nach vorn, und aus ihren blitzenden blauen Augen sprühte ein unverhohlenes, wohlgefälliges Lachen:

„Das ist ja alles Schnack, Gust — hier, komm und fühl eins, wie rund und fest meine Arme geformt sind. Is das nich’ hübsch?“ —

Allein Gust rückte schnell von ihr fort: Darauf käme es nicht an, bemühte er sich hochfahrend und belehrend vorzubringen, obwohl ihm die Stimme vor Verlegenheit zitterte. Das Zweckmässige und die Muskulatur seien die Hauptsache.

Darauf schwiegen sie wieder eine Weile.

Toni zog sich den Ärmel straff, und Gust bemühte sich, in die dunkle Nacht zu starren, die aus schwarzem, zahnlosem Mund zu ihnen herüber grinste.

Die alte Urmutter spottete heimlich über das immer sich gleich bleibende Ringen der Geschlechter.

Als der Regen jedoch stärker und immer stärker auf ihren Schirm zu trommeln begann, sagte Toni unvermittelt mit einer wegwerfenden Gebärde:

„Wirklich, das ist ja alles Schnack. Ihr Jungen seid für vieles eben noch zu dumm. — Aber sag’ mal, wird Karl das Examen übermorgen bestehen?“

Gust nickte gleichgültig und dachte nach.

Tonis Bruder war gegen die Lehrer stets gefällig gewesen, zudem hielten sich seine Leistungen gewöhnlich auf einem anständigen Mittelmass. Warum sollte er die Prüfung nicht durchmachen?

„Und du?“ fragte Toni nun gespannt und kehrte ihm rasch ihr Antlitz zu, dessen weisse und rote Farben sogar durch die Nacht zu leuchten schienen.

„Bei mir ist das etwas anderes,“ gab Gust hochaufatmend zurück, und durch seine hagere Gestalt strömte etwas von dem Wesen Napoleons: „Sieh, Toni, du musst nicht darüber sprechen. Aber weisst du, warum ich nicht die geringste Furcht habe, sondern im Gegenteil die grösste Zuversicht? Das kommt daher, weil alle Nationen ihre gesamte Volkskraft, ihre besten Tugenden, wie Treue, Tapferkeit, Phantasie, Stärke in einzelnen Menschen verkörpern. So ist das auch bei Napoleon gewesen, und ich habe die Ahnung, dass das bei mir auch der Fall sein kann.“

„Aber, um Gottes willen,“ erschrak Toni und ergriff unwillkürlich seine Hände. „Du wirst dich doch nicht neben den Kaiser stellen wollen?“

Ohne es zu wissen, begann er krampfhaft ihre Finger zu pressen, und sie, die Freude an dem starken Druck empfand, überliess sie ihm willig. Und dann strömte es in stolzer Rede von seinen Lippen wie ein junger Gebirgsbach, der ungeheure Steine, die jahrtausendelang in ihrer ordnungsvollen Ruhe gelegen, schmetternd zu Tal stürzt.

So klang es der Gebannten ins Ohr.

Unermesslich wäre eben das Unglück, dass sich nicht neue Menschen neben die ganz Grossen zu stellen wagten. Die ungeheure Mutlosigkeit und Bedrückung, die auf dem jetzigen Geschlecht lägen, unter ihnen verkümmere alles. Aber jetzt sei endlich die Zeit der Erfüllung, denn nach dem Ausspruch eines genialen Philosophen, den er erst kürzlich gelesen, brauche man nur den Willen, den ganz festen, unerschütterlichen Willen zur Macht zu besitzen. Und den spüre er in sich, dass es ihm fast in den Händen zucke.

O, du sollst mal sehn — du sollst mal sehn!“

Toni sass neben ihm in ihrer frischen Natürlichkeit, die sich nur an das Greifbare hält, und alles, was sie von seiner Empfindung erfasste, das war der berauschende Klang seiner Worte und der sich immer mehr verstärkende Druck der Hand.

Wie es in diesen Fingerspitzen fieberte, das teilte sich ihr stark und rieselnd mit.

„Ach, Gust,“ stotterte sie endlich bewundernd.

„Was, Toni?“

„Ich wünschte, dass sich dir alles erfüllte. Und dass du mal ein recht reicher Mann würdest.“

So — da hatte sie ihm in ihrer derben Erdenhaftigkeit den goldenen Stuhl hingesetzt und den silbernen Fussschemel davor gerückt. Strahlendere Schätze barg ihre Phantasie nicht, aber den aller Gegenwart Entrückten stach das plötzliche Wort, das so sehr der Erde gehörte, es verletzte ihn förmlich.

„Lass das,“ gab er unsicher zurück.

Zugleich empfand er, dass die Nässe an seiner Haut heruntertroff.

Er stand auf und zitterte.

„Komm,“ forderte Toni, die merkte, dass sie ihren Gefährten beleidigt haben könnte, „komm, die da drin sind ja doch noch nicht fertig; wollen ein Stück gehen. Bis zu Kükeweih. Wenn du dabei bist, fürchte ich mich nicht.“

Dies letzte sagte sie ihm zur Versöhnung. Denn sie war sonst ein geschmeidiges, furchtloses Mädchen.

„Nun gut,“ entgegnete Gust geschmeichelt.

Sie gingen.

Unter dem braunen Bollwerk, an dem sie entlang wanderten, tauchten bei jedem Schritt die schwarzen Umrisse von Schiffen auf. Starr und skelettartig ragten auf Augenblicke ihre kahlen Rahen aus der Finsternis, um gleich darauf wieder im Nebel zu verschwinden. Von Zeit zu Zeit mussten die Wandrer straff ausgespannten eisernen Ketten aus dem Wege gehen, mit denen die schweren Jachten ans Ufer geschlossen waren. Dicht über der murmelnden Wasserfläche, die man nicht sehen, nur hören konnte, zuckte zuweilen ein irrender Schimmer, gleich einem grossen Leuchtkäfer auf, der in den Nebeln sterbend mit den Wassern kämpfte. Das waren aber nur die verschwimmenden Lichter, die tief aus den Höhlen der Schiffe drangen, von wo man auch undeutliche Menschenstimmen vernahm.

So waren die beiden Freunde eine Strecke weit gegangen, als Toni sich keck zu ihrem Begleiter wandte.

„Du, Gust, warum gibst du mir eigentlich nicht den Arm?“ begann sie. „Oder fürchtest du dich, weil es von der Schule verboten ist?“ setzte sie spöttisch hinzu.

„Ich fürchte mich nicht.“

Gust erschrak.

Dann blickte er sehr betroffen auf seine Bedrängerin.

Toni betrug sich heute wirklich höchst merkwürdig. Es wurde Zeit, sie in die gebührenden Schranken zurückzuweisen.

„Lass das,“ wies er sie deshalb ärgerlich ab. Und um eine Erklärung zu geben, stotterte er noch hinzu: „Das sind alles überlebte Formen.“

Da zog sie den bereits erhobenen Arm entrüstet von ihm.

„Du hast keine Idee, wie man mit jungen Damen umgeht,“ war ihre ganze Erwiderung. „Du kennst die Welt noch nicht.“

„O, ich kenne die Welt,“ versetzte Gust siegessicher. Und er dachte im Moment an den dunklen, goldgeschmückten arabischen Hengst. Nur seltsam, dass zur gleichen Zeit sein Herz laut und ängstlich zu pochen begann.

„Na, nu kommt man rein,“ forderte der alte Kükeweih die beiden an der Schwelle Stehenden auf. „Aber erst will ich hier noch ein bisschen Licht machen, sonst fallt ihr hin.“

Damit erhob sich aus dem Halbdunkel der engen hölzernen Hütte, die vor Zeiten ein Anbau eines Räucherhauses gewesen war, eine riesige Gestalt. Im Scheine des Lichtstümpfchens erschien sie von so phantastischen Dimensionen, dass man garnicht begriff, wie sich dieser Hüne in einem derartig niedrigen Raume vom Platze bewegen könne, ohne sich an den Deckenbalken den Schädel zu zerschmettern.

Auch sonst gab es hier Dinge, die verwunderlich waren.

Da war zunächst die Ausstattung des schwarzbraunen Loches.

Befand man sich in der Arbeitsstätte eines Musikinstrumentenmachers, oder blickte man in das Heim eines Spielwarenschnitzers?

Beides konnte für wahrscheinlich gelten.

Überall an den Nägeln, Holzklötzen und Pfosten hingen und standen Violinen, Flöten, alte zerbeulte Trompeten, ja sogar eine bejahrte Kesselpauke herum, während auf dem Tisch und auf kleinen Eckbrettern allerlei halbfertige Holzfiguren, bewegliche Soldaten, schnappende Krokodile von lächerlichen Formen, sowie alle möglichen Papphampelmänner ihrer farbigen Vollendung harrten. Und wenn durch all den Leimgeruch hindurch, den ein blauer, auf zuckendem Holzfeuer stehender Tiegel von seinem Backsteinherde aus verbreitete, wenn durch diesen fetten Brodem sich nicht noch ein ätzender Trangeruch gedrängt und man nicht aus den dunklen Ecken Ruder und Netze wahrgenommen hätte, man würde niemandem auf sein Wort geglaubt haben, dass man sich bei dem Fischer Jeremias Kükeweih befinde, dem die Stadtverwaltung das vielbegehrte und feierliche Amt eines Leichenfischers anvertraut hatte.

Auf diesem kleinen Gebiete jedoch leistete Jeremias Nieerreichtes.

Wer vermochte, wie er, wenige Stunden, nachdem ein Unglücklicher sich und sein Schicksal in den Wassern geborgen, die irdische Hülle still und unbemerkt in seinem langen schwarzen Kahne wieder zurückzubringen?

Keiner.

Wer tröstete, wie er, die ernsten, hingestreckten Gestalten, wenn sie zur Nachtzeit unter dem braunen Segeltuch verborgen lagen, heimlich durch passend ausgewählte Flöten- und Geigenstücke?

Hört zu:

„Freut euch des Lebens,

Weil noch das Lämpchen glüht,

Pflücket die Rose,

Eh’ sie verblüht.“

Das wusste er besonders neckisch vorzutragen.

Was konnte Jeremias dafür, dass er nicht sah, wie die Toten, die es nun besser wussten, zu dieser Ansicht meistens still die Köpfe schüttelten?

Denn erstens lagen sie der Nacht wegen verdeckt und zweitens besass Jeremias überhaupt nur ein Auge — das zweite war ihm bei einem Fall ausgelaufen — und dieses einzige lag unter ungeheuren grauen Büschen verborgen, so dass ihm beinahe jede Aussicht versperrt wurde.

Aber dies beeinträchtigte die Achtung, die man dem Führer der Toten entgegenbrachte, keineswegs, und wenn die fremden Matrosen ihn in der Frühstunde mit seiner Ladung still und lautlos an den Flussufern entlang gleiten sahen, dann sagten sie:

„Jimm hat wieder seinen Walfisch.“

Denn diese Abkürzung hatten sie seinem Namen beigelegt.

Und dann wurde über den guten Witz gelacht.

„Na, nu kommt man,“ lud Jimm ein und strich sich seinen gewaltigen grauschwarzen Bart, der ihm wirr und weit über die Brust herunter fiel, und als Gust und Toni etwas verschüchtert in den Leim- und Tranduft eingedrungen waren, packte Jimm mit seinen gewaltigen Schaufelhänden Gust um den Leib, als gedächte er ihn zu seinen Holzsoldaten auf den Tisch zu heben, um ihm dort die fehlende rote Farbe zu verleihen, und brummte mit seiner alten, verrosteten Stimme:

„Na, willst nu Professer werden, mein Jünging?“

„Ja, ich hoffe,“ versetzte Gust und hustete ein wenig verlegen.

„Das ist nichts,“ stellte Jimm nachdenklich fest, wobei er seinem Besuch auf dem Kopf herumpätschelte. „Das ist garnichts.“

„Weshalb nicht?“ rief Gust verletzt.

„Na, sag’ eins, sitzt du da nicht den ganzen Tag hinter Büchern?“

Gust nickte.

„Na und was lernst du daraus?“

Gust dachte nach, blickte auf Toni, die sich kaum das Lachen verbiss, und gab endlich kurz zurück:

„Wozu soll ich dir das erklären? Das verstehst du doch nicht, Jimm Kükeweih.“

„Na nu aber doch,“ forderte der Alte und stiess ungeduldig mit dem mächtigen Transtiefel auf den Estrich.

Alles zitterte.

Selbst die Holzsoldaten fielen um, und die Krokodile schnappten.

„So sag’ doch,“ warf Toni schnippisch dazwischen.

„Ja, aber er begreift es doch nicht,“ ärgerte sich Gust, der sich plötzlich stark in die Enge getrieben sah. Dann platzte er plötzlich heraus:

„Aus den Büchern lernt man zum Schluss — die — die grossen Zusammenhänge. — Ja, die grossen Zusammenhänge,“ wiederholte er jetzt ganz stolz und erleichtert.

Der Leichenfischer liess sich auf seinen Schemel nieder und schüttelte das mächtige Haupt. „Das ist nichts,“ stellte er endlich fest und schlug sich schallend aufs Knie. „Zusammenhänge? — Das ist allens dummes Zeug. Was nicht zusammenhängen will, das klebt man einfach zusammen, wie ich es hier mit meinem Leimtopf mache. Was is da Grosses? Nein, das bedeutet garnichts. Aber lernst du denn nicht das Letzte, Gust?“

„Welches Letzte?“

„Das Allerletzte?“

Gust war es plötzlich, als ob der Brodem, der die Hütte füllte, sich ihm lähmend auf die Brust legen wolle. Und er sah, wie auch Toni mit grossen, erschrockenen Augen zu dem Alten herüberstarrte.

„Du meinst doch nicht etwa — —?“ stotterte er.

„Woll,“ murmelte Jimm und wackelte mit seinem Schemel. „Das gerade mein’ ich. Weisst du nich’, was aus dem Menschen wird? Und wo er hingeht?“

„Nein,“ wehrte Gust erblassend ab und er spähte wie unwillkürlich nach dem Ausgang:

„Darüber gibt es keine Auskunft.“

Diese Antwort schien der Alte jedoch gerade erwartet zu haben. Halb befriedigt und halb verächtlich nickte er mit dem grossen Kopf, dann vergrub er die Riesenfäuste mit grobem Lachen in die Taschen und streckte geräuschvoll die Beine von sich.

„Kuck,“ grunzte er, „was hab’ ich gesagt? Keine Auskunft. Na, Gust, folg’ mir, und werd’ kein Professer. Und weisst du auch, warum, mein Jünging? — Ne? Nu dann will ich es dich kund tun. Hör’ zu: Im Grund fürchten sich nämlich die Professers alle vor dem Letzten und möchten gern wissen, wie es damit steht. Deshalb schneiden sie auch so graulich in den Toten ’rum, die ich ihnen auf den Saal bringen muss. Aber meine Walfisch’ sind ihnen zu klug. Die halten fest den Mund zu und geben keine Antwort. I wo, da muss schon ein andrer kommen. Ein ganz andrer.“

„Antwort?“ echote Toni, die sich vor Angst wieder an Gust gedrängt hatte. Und ohne, dass er es merkte, schlang sie den Arm um ihn und ihr schlanker Körper presste sich gegen den seinen.

Wie eine dunkle Fledermaus schwebte die Furcht über den beiden. Der Alte und seine Umgebung hatten es ihnen wieder einmal angetan. Und doch drängten sich die Kinder der ganzen Stadt wie magnetisch gezogen in die Hütte des alten Jimm.

„Geben die Toten denn Antwort?“ flüsterte Gust, halb im Frost.

Er zitterte am ganzen Leibe. Aber vor seinen weit geöffneten Augen hatte sich das umgebende Gebälk längst in einen wallenden Nebel aufgelöst, und mitten in den Schwaden, da sass dieser alte Magus auf seinem Dreifuss, legte mit seinen plumpen Händen den Toten Zettel in den Mund und befahl ihnen zu reden.

Jimm hatte den Totenzwang.

„Antwort?“ Der Alte mass seine Besucher von oben bis unten und wiegte zweifelnd das Haupt: „Je,“ meinte er endlich nachdenklich, „ich weiss nicht, ob ihr auch so seid wie die in der Stadt. Sie sagen ja von mir, ich hätt’ meinen Klug nicht ganz“ — hier zeigte er nach seiner Stirn —, „seit mir bei dem Schiffsunglück meine Frau und meine beiden Jungen versoffen sind. Aber das müsst ihr nich’ glauben,“ fuhr er gemütlich fort und schob einen neuen Priem in den Mund, „ich weiss bloss ordentlich mit den Stillen umzugehn.“

„Was tust du denn mit ihnen?“ flüsterte Toni, bei der die Neugierde das Entsetzen überwog.

„I, ich sprech mit ihnen. — Still und richtig, wie es sich gehört. Und hauptsächlich, ich spiel’ ihnen was vor. Seht, so.“

Damit griff er hinter sich, holte eine alte, verschimmelte Geige hervor und begann einige verstimmte Töne zu ziehen. „Und wenn ich ihnen dann recht was erzähl’,“ fuhr er behaglich fort, „was sie gern hören wollen, oder wenn ich so was Feines und Passendes spiel’, dann klären sich auch die Gesichter auf — ich hab’s oft gesehen, — dann beginnen sie beinah zu lachen, ja, und manche verziehen euch sogar den Mund und wollen sprechen. Ja, ja, so is es. Seitdem weiss ich aber auch, dass man sich vor dem Letzten nicht fürchten soll. Es gibt gar kein Letztes. Das is ganz anders, als die Pasters glauben.“

Gust fühlte plötzlich, wie der Leib Tonis an dem seinen bebte. Halb unbewusst drängte er deshalb zur Tür, noch während der raschen Bewegung stammelnd, dass sich der alte Jimm solche wunderlichen Erscheinungen gewiss nur einbilde.

Da lachte der Riese recht zutraulich und hob eine eiserne Laterne vom Tisch, in welcher er das Licht entzündete.

„Einbildung? da kuck selbst nach, du dummer Jung,“ brummte er bescheiden — „ich hab’ grad’ so einen Walfisch hier. Da unten im Boot liegt er. ’s ist Grete Kräwt, die gestern aus Liebe ins Wasser ging, die dumme Dirn. Na, kommt.“

Gewaltig streckte sich der mächtige Leib, die Riesenfaust hob die Laterne so hoch, dass sie an die Decke stiess, und in dem zitternden Schein sah man die todblassen Gesichter der Kinder.

Eine Sekunde nur.

Dann hatte Gust die Gefährtin über die Schwelle gerissen, und dumpfe, enteilende Tritte verkündeten dem alten Kükeweih, dass er auf kein Publikum mehr zu rechnen habe.

Eine Weile lauschte Jimm noch, als könnte er die Flucht der Kinder nicht begreifen. Dann schüttelte er ärgerlich — ein missverstandener Weiser — das Haupt und riss zornig seine Tür weit auf:

„Gust,“ brüllte er, dass es weit über die dunklen Wiesen hallte. „Gust, Hanswust — laufe doch nich so. Wer sich vor dem Letzten fürchtet, der wird im Leben kein Professer. Aus dir wird nichts. — Gust, Hanswust.“

Aber keine Antwort wurde laut.

Da liess sich der Alte missmutig auf seinen Schemel zurückfallen und dachte eine Zeitlang ernsthaft nach. Endlich jedoch flog ein Lächeln über seine verwitterten Züge:

„Was Grete Kräwt woll über die dummen Bälger lachen wird,“ meinte er halb neugierig, „ja, ja, sie wird sich gewiss darüber wundern.“

Und damit strich er mit aller Macht über seine Geige, dass sie laut aufbrauste:

„Freut euch des Lebens,

Weil noch das Lämpchen glüht,

Pflücket die Rose,

Eh’ sie verblüht.“

Erst bei dem alten Schwedenturm, der noch aus der Festungszeit einsam und zerbröckelt neben dem Fluss aufragte, machten die Flüchtlinge Halt. So weit hatte sie ihre aufgeregte Einbildungskraft getrieben. Hier schöpften sie ein wenig Luft, obgleich sie sich, wie auf Verabredung, auch an diesem dunklen und unheimlichen Ort, um den der Wind so heulend jagte, nicht von den Händen zu lassen wagten.

Kalte Regenschauer fegten auf sie nieder.

„Gust,“ brachte Toni, die sich rascher erholte, atemlos hervor: „Hast du Grete Kräwt gekannt?“

„Ja, sie soll sich ja wegen des Steuermannes Grapentin das Leben genommen haben, als er nichts mehr von ihr wissen wollte.“

„Pfui — so seid ihr Männer — so seid ihr. Mir sollte so was nicht passieren. Ich lache über euch alle — ich lache einfach.“

Und sie lachte wirklich mit stolz in den Nacken geworfenem Haupte. Das Echo brach sich an dem alten Mauerwerk, und ein helles Gelächter schlug zurück.

„Gust,“ flüsterte Toni weiter, bei der die Unheimlichkeit der Gegend und die eben überstandene Angst alle verborgenen Gefühle zur Höhe brachten:

„Du bist jetzt ein grosser Junge — und in der Prima habt ihr ja alle so was — Karl schreibt sich ja auch mit Lisbeth Blohm. Du kannst’s mir ruhig anvertrauen — hast du nicht auch all eine Braut? Sag mal.“

„Ich?“

Da unterlag Gust gleichfalls dem phantastischen Orte. Das Heulen des Windes und das in seinen Adern summende Blut, alles vereinte sich, um ihn in eine unerhörte, wildblühende, nie zuvor gesehene Landschaft zu versetzen.

„Ja,“ quoll es heiss aus ihm heraus, „ich hab’ eine Braut — ich hab’ eine.“

Im Moment war er sich keiner Lüge bewusst, ja, er hätte wie ein Marienritter seine Lanze gegen alle Welt eingelegt, wenn sie ihm die Liebkosungen der stillen, goldbraunen Martha bestritten hätte.

In diesem Augenblick zog er die Ferne an sich, er fühlte sie, er küsste sie auf Augen und Haare.

„Martha Kräplin?“ flüsterte Toni neben ihm. Und es klang beinahe wie Trotz und Hass dazwischen. Allein Gust war zu sehr in seinem Gespinst verstrickt, dunkelrot, nickte er nur. Und je mehr seine Gefährtin ihm nun die Unmöglichkeit seiner Angaben zu beweisen suchte, je heftiger sie Gusts Schüchternheit und den Unterschied der sozialen Stellung zwischen seiner Angebeteten und ihm hervorhob, denn Martha Kräplin war die Tochter eines Kapitänleutnants, desto glühender schilderte Gust in seiner Tollheit die Liebesbeweise, die er bereits erhalten haben wollte.

„Küsst Ihr euch?“ forschte Toni barsch und ungläubig.

„Jedesmal beim Abschied,“ versicherte Gust.

„Das lügst du,“ schrie Toni, die vor Wut die Fäuste ballte.

„Warum? Glaubst du, dass ich ein Weib nicht bezwingen kann?“

„Du — du wagst dich ja garnicht an ein erwachsenes Mädchen heran, du — du Hans guck in die Luft, du.“ Dabei streckte sie sich und schob den Fuss vor, als ob sie einen Feind erwarte. Und wild klang’s:

„Kuck, hier steh’ ich, so versuch’s doch, so wag’s doch, du Duckmäuser.“

O, Gust, jetzt packt dich das rasende Leben beim Schopf, jetzt packt dich der eine der beiden Ströme, die um die Erde kreisen, und trägt dich zu fernen Ufern. Die Ströme heissen: Hass und Liebe.

Gust schien es, als ob seine Willenskraft, sein ganzes Seelenleben in dicken Nebeln tanze. Oder wirrten die Schwaden um ihn herum wirklich so dicht? Das einzige, was er entsetzensvoll fühlte, war Furcht und Beben vor dem Weibe.

„Toni, ist das dein Ernst?“ stammelte er schwankend.

Da verhöhnte sie ihn von neuem, immer verächtlicher, denn sie merkte seine knabenhafte Unkraft.

„Du willst Martha Kräplin geküsst haben?“ lachte sie herb. „Du? — Du Feigling?“

„Nimm dich in acht,“ fuhr Gust jetzt auf und stürzte auf sie zu. Seine Arme waren hoch erhoben, mehr zum Ringen als zur Umarmung, und das Mädchen wich im ersten Moment erschrocken zurück.

„Tu mir nichts,“ stotterte sie noch.

Dann waren sie aneinander. Ein Kämpfen, Ringen, ein Fassen und dann — ein zitterndes Umfangen, ein scheues Beben, Wange an Wange. Es war alles nur Ahnung und Wunsch.

Und doch waren diese beiden erschütterten Seelen so befangen, so völlig von dem Unerhörten durchwühlt, dass Toni sich erst wieder fand, als sie Gusts Nacken, den sie mit beiden Händen umklammert hielt, langsam und scheu fahren liess.

„Sei mir nicht bös,“ hauchte sie, „du bist kein Feigling, du bist nicht feig.“

Aber Gust antwortete nichts.

Der erste Schritt, der erste Blick in das unbekannte Land, das er betreten sollte, sie hatten ihm eine ungeheure Enttäuschung gebracht.

Er verharrte wie in starrender Verwunderung.

O, du treue Begleiterin des armen Gust, du tänzelnde, spielerische Phantasie, wo sind deine wollüstigen Gemächer, die rotfunkelnden Springbrunnen, die weichen Düfte, die marmornen Glieder? Wo die tanzenden Sklavinnen?

Nirgends!

Hier steht das frische, erdenhafte Leben und hat keck den Vorhang fortgerissen. Und die erste Betäubung deines Schützlings sieht nichts, als eine ungeheure Weite, auf der das Schweigen lagert.

Da steht Gust und starrt auf das unbekannte Land.

„Und du willst Martha heiraten?“ fragt eine bebende Stimme neben ihm.

Gust nickt kurz.

Er hätte in diesem Augenblick um keinen Preis sprechen können.

„Dir gönn’ ich alles,“ fährt es neben ihm halb schluchzend fort. Aber trotzig klingt es gleich darauf dazwischen: „Und von nun an bin ich deine Vertraute. So etwas braucht man. Hörst du?“

Noch einmal wirft sich das Mädchen an seine Brust und küsst ihm stürmisch den Mund.

Dann tönen dicht hinter ihnen Schritte, und unvermittelt reisst sich Toni los, um wie ein schiessender Vogel in der Nacht zu verschwinden.

„Gute Nacht, dummer Gust,“ verklingt es lachend.

Dann ist er allein.

Eine Weile steht er noch unbeweglich und lauscht. Die nahenden Schritte schallen deutlicher.

Sollte Jimm Kükeweih seine Spur gefunden haben?

Aber nein, Jimm schreitet nicht so zart. Es muss jemand anders sein.

Aus der Dunkelheit löst sich ein wohlanständiger Überzieher, beschattet von einem etwas hohen Zylinder, und als der späte Wanderer näher kommt, da erkennt Gust Herrn Winkelmann, der sich auf dem Heimweg befindet.

„Ah, Sie sind’s, mein junger Freund,“ räuspert sich der Antiquar und zieht ehrfürchtig den hohen Hut: „Freut mich ungemein. Da möchte ich Ihnen noch ganz ergebenst eine gute Nacht wünschen. Auch glaube ich, dass Sie zu Hause erwartet werden.“

Damit nimmt er den Zylinder noch einmal ab und schwenkte ihn tief mit einer unnachahmlich archaistischen Bewegung.

„Empfehle mich ergebenst.“

Gleich darauf schreitet er diskret in die ihn entziehende Dunkelheit. Wieder steht Gust in der Finsternis. Er schüttelt das Haupt und legt die Hand an die Stirn.

Was bedeutet das alles?

Die Welt mit ihren Küssen und Zylindern kommt ihm immer unlogischer vor.

Wer kann da herausfinden?

Und tief senkt er das Haupt und schleicht erschüttert nach Hause.

Der Reiter auf dem Regenbogen

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