Читать книгу Der Reiter auf dem Regenbogen - Georg Engel, Georg Engel - Страница 6

III.

Оглавление

Am nächsten Morgen Punkt 9 Uhr stand die Frau Kapitänin Petersen freudestrahlend am Bett ihres Einzigen. In ihren Händen hielt sie hoch erhoben einen schwarzen Gehrock, der zwar auf dem Rücken und an den Ärmeln einigen Glanz aufwies, im übrigen aber die Feierlichkeit seiner Art gut repräsentierte. Dies war der Gehrock, den der verstorbene Kapitän Petersen an seinem Hochzeitstage getragen hatte, und der nun für Gust zurecht gemacht worden war, erstens, weil sich der Rock noch kampftüchtig zeigte, und hauptsächlich, weil Frau Miete heimlich daran glaubte, dass sich die hervorragenden geistigen Eigenschaften ihres Gatten doch irgendwo in den grossen Vorder- und Hintertaschen des Kleidungsstückes festgesetzt haben könnten.

Der Verstorbene hatte ja spanisch und holländisch zu fluchen vermocht. Das erfüllte die Witwe noch heute mit wehmütiger Erinnerung.

„Ja,“ sagte sie und hielt den Rock wohlgefällig den Sonnenstrahlen entgegen, die in breiter Bahn durch das schräge Dachfensterchen drangen.

„Ja,“ sagte sie, „sieh her, er hat ihn zu unserer Hochzeit getragen. Kuck, so knöpfte er sich immer nur den ersten Knopf zu, vielleicht weil eine weisse Weste darunter sass. Vielleicht auch, weil er schon damals ein wenig korpulent wurde. Ach, es war ein schöner Mann, dein Vater. Er erinnerte mich immer ein wenig an den Dr. Martin Luther. Weisst du, Gust, wegen des Doppelkinns; und dann, sobald ich nach seiner Meinung zuviel Wochengeld ausgegeben, dann schlug er auch immer so herrisch auf das Wirtschaftsbuch. Akkurat wie Martin Luther.“

Mit diesen Worten drehte sie das Kleidungsstück halb bewundernd, halb andächtig hin und her, und sie ahnte vielleicht selbst nicht, wie sich ihre runden Augen dabei unmässig vergrösserten. Dachte sie doch im Moment daran, ob ihr Gust nicht gleichfalls so eine Art Reformator werden könnte, und ob man seine Lieder nicht auch einmal in der Marienkirche singen würde.

Und Gust?

Sobald seine Mutter das bunte Tor der Träume mit ihren zarten Händen aufstiess, der Sohn sprang stets laut jubelnd hinterdrein.

„Mutter, hier bin ich — ich will werden, was du willst.“

Und er hörte ebenso wie sie die tosende Orgel, und er vernahm Martha Kräplin mit ihrer hellen Stimme seine Lieder singen. Mit heissen Wangen sprang er aus dem Bett gerade in die Sonnenwärme hinein.

Über dem schwarzen Rock, den sich Gust nun vor dem Spiegel anziehen musste und an dem die Frau Kapitänin beifällig herumzupfte, darüber vergassen sie beide völlig das Stipendium von Tante Betti, sie entschlugen sich aller Lebenspläne, alles aus Stolz über das Staatskleid, das wie ein Kaiser in diese Hütte getreten war.

„Hier ist noch ein weisser Schlips,“ meldete die starke Frau zum Schluss und band ihrem geschmückten Sohne auch dieses feierliche Attribut um.

Nein, wirklich, Gust sah jetzt gar zu vornehm aus. Seine roten Haare schienen garnicht mehr hässlich, im Gegenteil, jetzt in dem strahlenden Sonnenschein glänzten sie gleich einer Fürstenkrone. Und wie stolz ragte nicht seine Hakennase?

„Ich glaube, Moltke hat auch so eine besessen,“ dachte Frau Miete. Und als sie ihren Sohn so schön vor sich sah, da begann plötzlich ihr Herz bang und ungestüm zu klopfen in der Vorahnung, dass man sie um ihren Schatz womöglich berauben könnte.

Die vielen Mädchen in der Stadt, Gott ja, man konnte es keiner übel nehmen, jede einzige mochte es wohl auf Gust abgesehen haben.

„Gust,“ sprach sie halb ängstlich, halb verlegen: „Ich bin deine Mutter — wenn du dir einmal eine Braut aussuchst, dann musst du sehr vorsichtig sein, mein Sohn, nicht die erste beste — sondern wählen — wählen — hörst du? — Wir brauchen nicht all und jede zu nehmen. Nein, das brauchen wir wahrhaftig nicht.“

Damit setzten sie sich an den Kaffeetisch. Und während Frau Miete mit mütterlicher Zufriedenheit beobachtete, wie ihr Gust die Semmel eintauchte, befand sie sich im Geiste, angetan mit ihrem würdigen schwarzen Seidenkleide, auf einer langwierigen Brautwahl. Bis sie endlich im Hause des ersten Bürgers der Stadt, des Senator Hansen, atemlos anlangte. Und da sie die Gewohnheit besass, aus ihren Träumen gelegentlich etwas verlauten zu lassen, so sprach sie plötzlich mit Zurückhaltung vernehmlich vor sich hin: „Ja, gewiss, ich habe nichts dagegen, Herr Senator — dann können wir ja.“

Worauf Gust, der eben heimlich an die nächtliche Szene mit Toni dachte, zusammenfuhr, dann aber laut auflachte, so dass Frau Miete jetzt vergnügt errötete.

„Na lass man, mein Jünging, ich hab’ um dich gar keine Bange.“

„Nein, Mutter,“ erwiderte Gust und zwang sich zu heller Siegeszuversicht. „Ich hab’ vor dem Examen nicht die geringste Furcht.“

„Ja, ja, darin hast du ganz recht. Du bist ja der primus om — —“

„Omnium, Mutter.“

„Ich weiss. Und nu iss man, mein Jünging, nu iss man.“

Die Sonnenstrahlen tanzten weiter, und das mütterliche Herz drehte sich in ihrem Reigen mit.

Punkt 11 Uhr trat plötzlich und unerwartet Tante Betti in diesen Frieden ein.

„Du siehst nicht schlecht aus,“ urteilte sie mit einem prüfenden Blick, nachdem sie Gust in seinem Glanz gewahrt hatte. Und dann richtete sie sich auf, stolz wie ein Schlachtross, denn sie selbst erschien heute in einer Pracht, von der sie zuversichtlich hoffte, dass sie Frau Miete in staunende Verwirrung setzen musste.

Und diese Absicht ward erreicht.

Die Frau Kapitänin faltete nämlich beinahe vor Andacht die Hände, als sie den Aufzug ihrer Schwägerin gewahrte. Mein Gott, was konnte das bedeuten?

Das perlgraue, seidene Kleid, das bei jedem Schritt bedeutungsvoll rauschte? Der grosse Rembrandthut mit seiner wallenden Straussenfeder? Und vor allen Dingen die kostbare goldene Kette, die sich schwer und gewichtig dreimal um Bettis Hals schlang?

„Das alte Erbstück hast du auch umgelegt?“ murmelte Gusts Mutter ungläubig.

„Ja,“ erwiderte Betti kalt.

Dann stellte sie sich wohlgefällig vor den Spiegel und stiess hinten mit dem Fusse kräftig aus, damit ihre Schleppe noch majestätischer fallen möchte. Hierauf wandte sie sich befehlend an Gust:

„Nun setz dir den Hut auf und komm mit.“

Und die Fragen von Mutter und Sohn, wohin sie ihren Neffen denn zu führen gedächte, mit einer entschiedenen Bewegung abschneidend, schritt sie aufrecht und fest zur Tür.

„Man muss endlich einmal Ernst machen,“ war das einzige, was sie bereits an der Schwelle noch verloren hinwarf.

Gust trottete verwundert hinterdrein.

Es war ein seltsames Paar, das da im hellen Sonnenschein durch die Strassen der alten Boddenstadt wanderte; der Junge in seinem unbehilflichen Bratenrock, mit weisser Krawatte und einem vergilbten Strohhut auf dem Kopfe, und die alte Jungfrau, angetan in die solide Pracht eines verschwundenen Jahrhunderts.

„Es handelt sich nämlich um den Ausbau deines Lebensplanes,“ erklärte Tante Betti endlich nach langem Schweigen, wobei sie einen ernsten Blick auf ihren Begleiter heftete. „Und es sollte mich freuen, Gust, wenn du die Hoffnungen, welche ich in dieser Beziehung auf dich setze, rechtfertigst. Verstehst du?“

Statt einer Antwort neigte Gust nur demütig das Haupt.

Es war wohl erwiesen, dass er ein Held wurde, der eine neue Zeit heraufzuführen bestimmt war, allein vor Betti, ja freilich, vor Betti machte dies alles Halt. Betti war etwas Festes, Uneinnehmbares, befähigt, die neue Zeit durch ein verächtliches Lächeln zurückzuscheuchen.

So waren sie immer näher den Strassen gekommen, die auf den Markt einmündeten. Hier wohnten nur die Patrizier der Stadt.

Gust starrte ängstlich auf seine Führerin. Er sah, wie seine Tante, je näher sie dem Markt gelangten, desto energischer ihre perlgraue Taille zurechtzupfte, und nahm wahr, dass sie ihren Schirm noch etwas aufrechter und stolzer trug etwa wie eine Fahne oder einen Legionsadler.

Sollte sie —? Das war doch nicht gut möglich —??

„Hier sind wir,“ unterbrach ihn Betti.

Gust durchfuhr es wie ein Blitz. Ja, da standen sie vor einem altertümlichen Hause mit breiter Freitreppe, die zu einem hohen Portal hinaufführte.

Grosser Gott, hier wohnte Martha Kräplin.

„Hast du Handschuhe,“ hörte er es noch wie durch einen Nebel hindurch klingen, „auch ein Taschentuch?“ Und als er etwas Konfuses darauf erwidert hatte, wurde er von Betti am Arm gefasst, er hörte undeutlich, wie seine Schritte auf der langsam sich windenden, hölzernen Treppe knarrten, und vernahm neben sich das imposante Rauschen von Bettis Seidenröcken.

Nach vielen Jahren gestand er noch, dass dieses Rauschen ihm damals unendlichen Trost eingeflösst hätte.

Vor einem weisslackierten Gitter, das mit seinen runden Stäben die halbe Treppe sperrte, wurde Halt gemacht. Hier musste der Porzellangriff einer Klingel gezogen werden.

„Dies ist besonders vornehm,“ stellte Betti fest, „ein solches Gitter findet man nur in sehr alten und aristokratischen Häusern. Sieh, darin liegt etwas Solides und Abgeschlossenes.“

Gleich darauf wurden sie von einem Dienstmädchen mit weissem Häubchen über eine weite Diele geführt, die sich rings um den Treppenaufgang herumzog und ganz mit altersgeschwärzten Danziger Schränken umstellt war. Auch ein paar Kirchenstühle aus Schwarzeiche fanden sich vor. Altertümlich geschnitzt.

„Danzig ist besonders vornehm,“ sagte Tante Betti wieder beifällig vor sich hin. Und dann stiess sie ihn leicht an, er solle einen Diener machen.

Gust steckte das Herz in der Kehle, denn da — da — kaum einen Schritt von ihm entfernt, in dem weiten, teppichbelegten Zimmer, da stand der Vater Marthas vor ihm, der alte Kräplin, über den so viele seltsame Sagen in der Stadt umgingen.

Im Moment fiel ihm ein, was sie als Knaben auf dem Gymnasium über den hohen, hageren Mann gefabelt hatten.

„Der alte Kräplin? — Der will eine Verschwörung gegen den König stiften.“

„Er hat ja auch irgend ein Verbrechen begangen, so dass sie ihn aus der Marine entlassen mussten.“

„I, ihr Schafsköpp, das war doch man, weil er als Kapitänleutnant seine Fregatte auf den Sand gesetzt hatte. Da oben in den schwedischen Schären. Und das ganze Schiff war verloren.“

„Ja, deshalb haben sie ihn abgesägt. Aber weshalb hat er nach seiner Entlassung alle patriotischen Bilder aus seinen Zimmern wegnehmen lassen? Merkt ihr was?“

„Und dann die Reden, die er führt. Habt ihr die mal gehört? Du, ich glaub’, er is bestimmt ein Sozialdemokrat.“

„Pfui, ihr dummen Kläs, wie kann ein Kapitänleutnant woll ein Sozialdemokrat werden?“

„Ja, ja, darin hat Malte von Zingst recht. Republikaner is fein, aber Sozialdemokrat, das is gemein.“

„Aber ein alter grober Kerl ist der alte Kräplin.“

„Das is er. Er is ’n ollen groben Sweinigel.“

Und nun stand der hohe, hagere Mann mit seinen grauen, peinlich und soldatisch nach vorn gekämmten Haaren vor Gust, und die scharfen, blitzenden Augen des alten Militärs hielten über den jungen Mann zuvörderst eine Musterung ab.

Gust fühlte, dass der alte Kapitän in diesem Moment alles sah. Den Gehrock mit den abgeschabten Ärmeln. Aber auch die tadellose weisse Krawatte.

„Setzen Sie sich, Fräulein,“ forderte endlich Marthas Vater mit scharfer, beinahe ätzender Stimme, während er sich ruckweise zu Tante Betti kehrte. „Dies also ist Ihr Neffe?“

„Ja“, erwiderte Betti, vor dieser militärischen Kürze ein wenig befangen. „Dies ist Gustav Petersen — er ist der Sohn meines verstorbenen Bruders, und ich hoffe, Herr Kapitän — —“

Der alte Kapitänleutnant schüttelte ungeduldig den Kopf. „Wie alt sind Sie denn?“ fragte er barsch dazwischen, während er sich jetzt direkt an den vor ihm verharrenden Gust wandte. Und gleich darauf ergingen die ebenso knappen Fragen, ob Gust jetzt sein Examen absolvieren und was er werden wolle?

„Ich will — Historiker werden,“ versetzte Gust, obwohl er im Augenblick fühlte, dass er sich über seine Neigung garnicht recht im klaren wäre.

„Jawohl,“ sekundierte Betti, sich zurücklehnend, „Professor, der die Geschichte studiert.“

„Aha — so — so.“

Der alte Kräplin beugte sich vor, verzog höhnisch den Mund und um die scharfe Hakennase zuckte es.

„Also solch ein Mensch,“ warf er ablehnend hin, „der die Tatsachen fälscht, wie es gerade verlangt wird? Hofhistoriograph? was?“

Da verliess Gust die Überlegung. Glühendrot wurde er, nein, er musste sich vor Marthas Vater zeigen:

„Herr Kapitänleutnant,“ begann er mit zitternder Stimme. „Das werd’ ich nie und nimmermehr werden. Denn meine innerste Überzeugung führt mich zur Republik, und zwar im atheniensischen Sinne.“

Diese letzte Einschränkung hielt Gust für besonders gut.

Einen Augenblick wurde es ganz still.

Man hörte deutlich einen schnarrenden Atemzug von Tante Betti, die, entsetzt, die Unterlippe sinken liess und vernahm, wie der alte Herr seinen Stuhl ein wenig rückte.

Dann aber begann der Kapitänleutnant plötzlich in ein kurzes, knasterndes Lachen auszubrechen. Es blieb zweifelhaft, ob er sich ärgere oder heimlich amüsiere.

„Hören Sie mal, junger Herr, Sie wissen wohl nicht, was Sie da reden?“ stiess er endlich abgehackt hervor, während er dicht vor Gust hintrat, als wolle er ihn nochmals von allen Seiten betrachten. „Solche Reden verbitte ich mir in meinem Hause. Verstehen Sie? Unreifes Zeug das — lauter Dummheiten. — Na und Sie,“ fuhr er höhnisch fort, wobei er sich einen schwarzen Hornkneifer aufsetzte, „Sie wollen meiner Tochter Literaturstunden erteilen? Haben dies Feld wohl auch bloss so von der grünen Seite beackert? Wie?“

„Herr Kapitän,“ rief Gust, vor dessen Augen alles rötlich verschwamm.

„Na, was denn, mein Jünging?“

„Ich lasse mich von keinem Menschen beleidigen. Auch von Ihnen nicht.“

Gust war es, als ob ihn bei diesem fürchterlichen Streite die ganze Klasse belausche, um ihm wie einem Gladiator zu applaudieren:

„Um Gottes willen,“ sprang Tante Betti verstört dazwischen. „Herr Kapitän, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich bis heute — — —“

„Setzen Sie sich, liebes Fräulein, setzen Sie sich doch. Was gibt es denn Grosses? Also Sie lassen sich nicht beleidigen, mein Söhnchen?“ Und wärmer setzte er hinzu: „Ist das auch Ihr Ernst? Ist das auch wirklich Ihre aufrichtige Meinung?“

Jetzt konnte Gust die Tränen nicht länger zurückhalten, aber er nahm sich zusammen und erklärte mit schwankender Stimme, dass er nach dem Vorausgegangenen auf die Ehre verzichten müsse, Fräulein Martha Stunden zu erteilen. So gern er es auch getan hätte. Ja, so gern er es auch getan hätte.

Es war nur ein ganz feines Schlucken, das ihn dabei befiel, und dann griff er nach seinem vergilbten Strohhut und machte seine Abschiedsverbeugung.

„Herr Kapitän,“ schob Betti atemlos dazwischen, die schon mehrmals in unterdrückter Wut den Schirm auf die Erde gestossen hatte: „Ich versichere Sie, Gust muss krank sein. Die Angst vor dem Examen. Sonst ist es mir unerklärlich. — Aber nun komm, mein Jünging,“ setzte sie mit einem Zornblick für Gust hinzu. „Komm man.“ Allein, ehe sie noch zur Schwelle gelangen konnten, hatte der alte Kräplin bereits den Arm des jungen Mannes gefasst und hielt ihn zurück. Und dann fiel es halb ärgerlich, abgerissen und zerbröckelt von seinen Lippen, nicht so heiss nehmen — alter kränklicher Mann — alle pensionierten Offiziere seien so — man hätte ja auch sein Kreuz zu tragen — aber, was der junge Herr da von „nicht gefallen lassen“ gesprochen hätte, das sei gut, das sei sehr gut, das bilde Charaktere.

„Ja, man müsse allerdings einen Charakter besitzen und einen Lebensplan dazu,“ warf Betti in ihrer Not dazwischen, „das wäre die Hauptsache.“

„Na, dann geben Sie mir mal die Flosse, junger Petersen,“ knurrte der Hausherr. Und als Gust zwar das Haupt nicht hob, weil er noch Tränen in seinen Augen spürte, aber dennoch schüchtern die Finger zur Höhe brachte, da drückte sie ihm der Kapitänleutnant mit starker Umklammerung.

„Schön. Nun geben Sie mir bitte Ihr Wort, dass in den Stunden von Politik und — na ja — also auch von Religion nichts gesprochen wird. Verstanden? Das bitt’ ich mir aus. — Gut. — Und im übrigen, da können Sie mit meiner Martha in Schöngeisterei schwärmen, so viel Sie Lust haben. Träumt leider sowieso schon zu viel, die Dirn. Übrigens, da nebenan sitzt sie mit ihrem Vetter. Gehen Sie ruhig rein, junges Deutschland, und besprechen Sie mit ihr den Stundenplan. Das Geschäftliche mache ich inzwischen mit Ihrem Fräulein Tante allein ab. Und nun wünsche ich Ihnen noch viel Glück zum Examen. — Wenn Sie sich da auch nichts gefallen lassen,“ fügte er mit einem nach innen gekehrten Seufzer hinzu: „so wird’s Ihnen gut tun. Für alle Fälle — adieu. Und nun bitte, liebes Fräulein, ich zahle also für die Stunde — — — — — — — — — —“

Zur selben Zeit, als dies in dem weiten Staatszimmer der Kräplins geschah, sassen zwei junge Menschenkinder in dem winzigen Nebenraum und lauschten auf die harten und heftigen Worte, die dort drinnen gewechselt wurden. Es war ein ganz kleines, viereckiges Stübchen, dick mit einem moosgrünen Teppich belegt, und die zarten Möbel von weiss gestrichenem Holz sowie die rosenrot geblümten Gardinen, schliesslich auch allerlei Nippes bewiesen, dass es sich hier ein junges Mädchen wohnlich gemacht habe.

Im Moment jedoch lehnte die Besitzerin dieser Herrlichkeiten ganz erstarrt in einem der winzigen Sessel, und ihre grossen braunen Augen richteten sich angstvoll auf die nahe Tür, und ihre schlanken Glieder, die doch bereits jungfräulicher Fülle entgegenstrebten, schreckten manchmal wie fröstelnd zusammen.

Eben tönten die schneidenden Worte des Kapitänleutnants deutlich vernehmbar herein, dass Gusts Ansichten nichts als dummes Zeug oder unreifes Geplapper wären.

„Grosser Gott,“ flüsterte Martha Kräplin tonlos zu ihrem Vetter Malte von Zingst hinüber, während ihre dunklen Wangen erblassten. „Das kann er sich ja garnicht bieten lassen; meinst du nicht auch, Malte?“

Der Angeredete, ein kräftig gewachsener junger Mann von etwa zwanzig Jahren, in dunklem, gut sitzendem Anzug, und mit düsterblonden, schlicht gescheitelten Haaren verzog sein ernstes Gesicht zu einem flüchtigen Lächeln. Dann zuckte er jedoch die Achseln:

„Es ist doch aber auch lächerlich, Martha,“ gab er ebenso leise zurück, „solche Kindereien öffentlich zum besten zu geben. Und noch dazu vor deinem Vater.“

„Kindereien? Du hast doch selbst mit Gust eine Verbindung begründet. Und wie schön sprachst du früher davon, Malte. Ihr wolltet doch die Geknechteten frei und glücklich machen?“

„Na, ja; das ist aber natürlich alles Schnack. Wir verstehen ja vorläufig noch garnichts vom öffentlichen Leben. Und müssen uns da draussen erst selbst noch tüchtig den Wind um die Nase wehen lassen. Wenn wir dann erst was geworden sind, nachher muss man selbstverständlich auch seine Pflicht gegen die anderen erfüllen.“

Bei seinen Worten wandte sie ihre klaren Augen auf ihn und legte nachdenklich den Finger an die Lippen: „Wie kalt und nüchtern du in letzter Zeit immer sprichst,“ meinte sie endlich kopfschüttelnd.

Der Junker, der an dem kleinen Blumentisch stand, rührte sich nicht. Nur die Falten über der energischen Nase vertieften sich noch etwas. Dann meinte er ohne sichtbare Erregung: „Draussen auf unserem verschuldeten Gute, da braucht man solche Nüchternheit, Martha. Ich wünschte, dass ich noch besser mit den Zahlen umzugehen verstünde. Und hier in der Pension für 50 Mark den Monat, da lernt man auch nicht gerade Gedichte machen.“

Als er so von seinen Entbehrungen sprach, aufrecht und fest, wie immer, und ohne um irgendwelches Mitleid werben zu wollen, da richteten sich die Augen des Mädchens so voller Güte auf den zu ihr Gekehrten, dass er beinahe schüchtern davor wurde.

„Na, es ist nichts,“ wehrte er mit verlegenem Lächeln ab, „das machen viele durch. Und es sind nicht gerade die Schlechtesten,“ setzte er in halbem Trotz hinzu.

Martha nickte halb unbewusst.

Drinnen war die Unterhaltung inzwischen leiser und milder geworden.

Und das schöne Mädchen regte sich jetzt erleichtert und fragte ihren Vetter mit einem teilnahmsvollen Blick, welche Laufbahn er nach bestandenem Examen einschlagen wolle. Aber ihre Gedanken weilten nicht hier, sondern dort drinnen bei dem merkwürdig hässlichen Menschen, dem Gust, dessen Augen sowohl in der Kirche, wie beim Konfirmationsunterricht so fern und ehrfürchtig an ihr gehangen hatten; „Wie in Andacht,“ dachte Martha errötend, und sie ahnte nicht, dass diese andächtigen Augen immer wie zwei Sterne durch ihren Lebenshimmel leuchten würden.

„Was willst du werden, Malte?“ fragte sie.

„Wenn ich das Examen bestehe, was garnicht so sicher ist, dann werde ich Jurist.“

„Jurist?“ wunderte sich die Cousine, „ist das nicht ein sehr trockenes Studium?“

Er zuckte wiederum leicht die Achseln.

„Das hilft nichts, wenn jemand Regierungsbeamter werden will, wie ich, dann braucht man’s eben. Zuvor aber werde ich Offizier.“

Da ging ein munteres Aufblitzen über die Züge des jungen Mädchens:

„Ja, das glaube ich dir,“ lächelte sie, „davon hast du ja immer geschwärmt.“

Doch der Junker liess sich von ihrer herzlichen Fröhlichkeit nicht anstecken. Ruhig belehrte er sie, dass der Mann, der befehlen wolle, erst gehorchen lernen müsse. Dazu aber sei der Dienst gerade die rechte Schule. Er wolle ja selbst hart angefasst werden, um später einmal andere Menschen auf rechte Art behandeln zu können.

„Wie fest und geregelt alles bei Malte ist,“ dachte Martha in einer Art beklemmter Bewunderung. „Aber, ob er wohl auch einmal solche wunderlichen Traumbilder erdichten kann, wie der da drinnen?“

Sie hatte Gust nur manchmal von ferne zugehört, aber seine glühende Darstellungsart war ihrem Gedächtnis haften geblieben. Und ihr Auge richtete sich wieder besorgt auf die nahe Tür, hinter der es so bänglich stille geworden. So geschah es, dass sie vollkommen übersah, wie Malte, der sich unbeobachtet fühlte, lange und fest seinen Blick zu ihr erhob, und wie seine Brust sich leise regte, da er den Glanz ihrer braunen Flechten prüfte, und wie ehrfürchtig sein Auge über die junge Pracht ihrer Glieder ging.

Langsam schloss er dabei die Faust.

Es war, als ob er einen Besitz nicht fahren lassen wolle.

„Guten Morgen, Fräulein Martha,“ wünschte Gusts zitternde Stimme, während er mit brennenden Wangen und aufgeregt auf den moosgrünen Teppich trat. „Ich will — ich soll nämlich —“

Er vollendete nicht, sondern fuhr sich über die Stirn und blickte wirr von einem zum andern.

„Na, was sollst du?“ half Malte Zingst mit gutmütigem Spott ein.

„Bitte, setzen Sie sich, Herr Petersen,“ forderte ihn auch Martha mit etwas unsicherer Förmlichkeit auf

Allein Gust liess sich nicht nieder. Dazu tobte zu grosse Erregung durch seine Sinne.

Eben erst einen Sieg errungen, einen grossen, unzweifelhaften Sieg über den grämlichen, verbitterten Mann, vor dem sich die meisten der Mitschüler Gusts heimlich grauten, und zwar durch männliches Festhalten an herrlichen Prinzipien.

O, das war gross, das war erhaben, das tanzte, wie ein Bachantenzug durch seine Einbildungskraft. Aber doch — war ihm nicht innerlich noch viel seltsamer zumute, da er jetzt hier weilte, hier in diesem kleinen Heiligtum, in diesem weiss und goldenen Tempel, in dem das vornehme ruhige Mädchen dort als Priesterin dahinlebte! Und wie er hier festwurzelte auf ihrem tiefen, weichen Teppich, ja, da sah er sie Formen annehmen, so wie er das ruhende Mädchen mit seiner halb heiligen, halb lüsternen Knabenphantasie stets erschaut, ersehnt, erzittert hatte.

Bald war sie ein herrliches heidnisches Götterbild mit marmorweissen Gliedern, hingestreckt auf rotem Pfühl, und dann blitzschnell sich wandelnd, ragte sie wieder vor ihm auf, schamhaft verhüllt bis an den Hals, mit hocherhobenen, betenden Händen, die Martha des neuen Testaments.

Horch — klingt da nicht die Orgel? Aus allen Ecken des weissen Tempels dröhnt ein singender Chor.

„Heilig — heilig.“

„Menschenskind,“ rief ihn Malte von Zingst aufs höchste verwundert ins Leben zurück, während er laut auflachte. „Willst du hier als Holzfigur anwachsen? Um was handelt es sich denn eigentlich?“

Da vollführte Gust, beschämt wie immer, wenn man ihn von seinen prangenden Schleichpfaden abberief, eine ungeschickte Verbeugung, setzte sich, zupfte an seiner weissen Krawatte, heftete einen scheuen Blick auf das wartende Mädchen und dann schoss es sprudelnd aus ihm hervor, ungestüm und doch mit leise durchklingendem Glücksgefühl, dass er Martha unterrichten solle.

„Sie? Ach wirklich?“ entfuhr es seiner Zuhörerin. „Hat Vater nachgegeben?“

„Du?“ wunderte sich auch Malte.

„Ja, ich — und ich freue mich furchtbar darauf.“

„Ich nicht weniger,“ gestand Martha Kräplin. „Verzeihen Sie, hatten Sie schon eine Schülerin?“

„Nein — niemals — Sie sind die erste.“

Und nun fuhren die Fragen herüber und hinüber. Die beiden spannen sich ein in ein wundersames Netz, das die bunte Jugend so leicht zu weben vermag, und in welchem es von Edelsteinen, Gold und Purpur nur so funkelte. Immer auffälliger vergassen sie des Zeugen, der ernst und befremdet auf sie herunterblickte.

„Was lesen Sie im Moment, Fräulein Martha?“ sprudelte Gust, der nicht genug hören konnte, heraus.

„Ich? — Ach Gott, ich weiss kaum, ob es das rechte ist? Ich lese eben den Egmont.“

„Und das soll nicht das rechte sein? Das ist ja gerade das, was ich mir gewünscht habe, das Schönste, was ich überhaupt mit Ihnen durchgehen könnte. Denken Sie doch nur, diesen prachtvollen Gegensatz. Auf der einen Seite den stolzen, freien, offenen, hochgemuten Aristokraten, und tief in der Dämmerung einer engen Seitengasse das kleine Bürgermädchen, das schöne Klärchen. Alles wirkt dunkel und holländisch in Klärchens Zimmer. Das liebende Mädchen selbst, das Spinnrad, die alte Mutter, der unglückliche Brackenburg, alles liegt wie im Schatten, als hätte es Rembrandt gemalt. Sie haben doch Rembrandts Hauptwerke schon gesehen, Fräulein Martha? Aber da plötzlich — Hörnerschall — Egmont mit seiner Wache zieht durch die Strasse. Hören Sie den Hufschlag? Und jetzt jubelt Klärchen und springt ans Fenster. Und da wird es auch licht — so hell, dass die engen vergitterten Fenster all den Sonnenschein nicht durchlassen können Er ist da — die Liebe reitet durch die Strasse. Da reitet er,“ rief Gust und warf die Hand vor.

„Ja, das ist er, das ist wunderschön,“ murmelte Martha Kräplin.

Ihre Augen taten sich weit auf.

Leuchtend, gross, umfassend.

Deutlich sah sie den lachenden Reiter an sich vorüberziehen, besass sie doch gleichfalls jene gottgesegneten Augen, die das Zauberland erschauen können, jene luftigen, sonnenhellen Schatten, die hinter dem Leben walten, die aber das gewöhnliche Werkeltagsauge nimmermehr erblickt.

„Ja, da zieht er,“ wiederholte sie im glücklichsten Traum.

Malte von Zingst griff langsam nach seinem Hut: „Ich will nun gehen,“ entschuldigte er sich, doch sprach er gedämpft, als fürchte er die beiden Fernen zu stören, „ich will noch etwas für die Prüfung repetieren — Guten Morgen!“

Und er ging wirklich, ohne, dass die Versunkenen ihn vermisst hätten. Wohl nickten sie zum Abschied mit den Häuptern, allein ihre Seelen weilten nicht hier, sondern in den volksbelebten, morgengrauenden Gassen von Brüssel, von denen nun Gust, um den Hintergrund zu malen, stossend und hackend erzählte.

„Ja, das ist der Hintergrund, Fräulein Martha. Sehen Sie nur, wie er das geschildert hat? Die engen Zeilen, wo man die gegenüberliegenden Häuser mit den Armen erreichen kann. Hier in unserer Stadt gibt es auch derartige Gässchen. Unten am Rik. Und nun beginnen die Glocken zu wimmern. Hören Sie dies Wehklagen? So haben sie neulich auch bei uns geheult, als der Speicher vom Dampfmüller Jarchow abbrannte. Sie erinnern sich doch? Und nun sehen Sie das niederländische Volk — die Bürger, wie es wimmelt, wie es sich drängt, stösst und schiebt. Laut, mit spitzen Worten hetzt sie der Schreiber. Aber pfui, sie schleichen dennoch zur Seite. Und warum? Weil eine lumpige spanische Scharwache durch sie hindurch schreitet — feige, spitzbärtige Spione mit riesigen Pumphosen. Bemerken Sie nur, Fräulein Martha, wie argwöhnische Blicke die Tyrannenknechte auf die Handwerker heften. Und wirklich, die Furcht ist gross, alles schweigt, alles will in die Häuser kriechen, um sich zu verstecken, — da, — im letzten Moment, hören Sie diesen gellenden Schrei? Ja, das ist sie, das ist das wahnsinnig gewordene Klärchen, das alles vergisst, das in fliegenden Haaren auf die Strasse stürzt, schreiend: „Egmont — soll sterben, Egmont, der euch alles war, rettet Egmont —“

„Rettet Egmont —“ schrie Gust ganz laut, indem er mit rollenden Augen und vorgeworfenen Armen aufsprang. „Rettet Egmont.“

Als er vom Schall seiner Worte geweckt wurde und nun linkisch und entsetzt eine entschuldigende Verbeugung zu machen gedachte, da bemerkte er etwas Seltsames.

Mit überfliessenden Augen lehnte Martha auf ihrem Sofa und schluchzte laut und leidenschaftlich vor sich hin, während ihre Hand sich fest in die Lehne gekrampft hatte.

„Um Gottes willen, Ihnen fehlt doch nichts?“

„Nein — nein, — aber wie schön — wie wunderschön Sie das vortragen können.“

„O, nicht doch,“ wehrte Gust mit klopfendem Herzen ab, denn der Anblick des weinenden Mädchens lähmte ihn beinahe.

Aber durch seine Sinne lärmte dennoch laut der Gedanke: Wie weich, wie engelsgut und liebevoll diese feuchten, braunen Augen blicken konnten. O, die Stunden mit ihr mussten Himmelsseligkeiten werden.

„Ja, und übermorgen,“ fuhr sie fort, ziehn wir in unser kleines Häuschen draussen am Bodden. Und wenn Sie erst Student sind, dann sollen Sie mir dort weiter all das Schöne erzählen, immer mehr, und immer weiter. Nicht wahr? Sie wollen?“

Sie reichte ihm die Hand.

Wohl spürte er eine zuckende Wärme, aber ob er die weissen Finger wirklich wieder gedrückt hatte, das wusste er im nächsten Moment nicht mehr.

Wie kam das?

Er befand sich plötzlich auf der Strasse, ohne Betti, die er vergessen, und laut eine Siegeshymne vor sich hin singend, eilte er in wilden Sprüngen dem Flusse zu, an dem seine Wohnung lag.

Seine Wangen erschauerten, und immer höher und heiliger tönten seine Siegesweisen.

Dasjenige aber, was er unverrückbar vor sich sah, das war der grünumgebene Bodden, um dessen Wiesen die Wasser leise schlugen und plätscherten. Oben aber auf den Strandsteinen, da hoben sich zwei Gestalten scharf von dem sonnenhellen Himmel ab. Das waren Martha und er.

Ja, das sind sie, und sie spähen beide dorthin, wo die Flut am fernsten Rande sich golden färbt. Ein grosser, breiter, goldener Strom, der sich ins Unendliche ergiesst.

So blinkt die Zukunft herüber.

Leuchtend, tausendfarbig, ohne Grenzen. Und alles sein, alles sein. O, das fasst das kleine Herz nicht, stille, stille, Sieg — Sieg.

Der Reiter auf dem Regenbogen

Подняться наверх