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IV.

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Eine Tür fliegt ins Schloss. Mit dröhnendem Nachklang. Durch die Korridore hallt es weiter.

Krach — bumm.

Dann bängliche Stille.

Zeisig ist da. Professor Zeisig, der Löwe des Gymnasiums, vor dessen Brüllen Rebellenklassen erzittert haben; der sich zum Fenster hinauslehnt, um von da Prüfungsarbeiten zu diktieren. Und hinter ihm regt sich nichts. — Alles sitzt wie gebannt. Kein Blick fällt aus das Heft des Nachbarn. Denn das Brüllen des beleidigten Löwen zerreisst Nerven, wirkt tödlich.

„Setzen.“

Man hat es nicht nötig, aber vor Zeisig erhebt man sich. Auch der Direktor erweist Zeisig diese Ehre; ob aus Courtoisie, denn er ist ein Höfling, oder aus Respekt, ist nicht festzustellen.

„Setzen.“

Ein unterdrücktes Atmen, die Entscheidung ist nahe.

„Ich habe Ihnen das Thema des Examenaufsatzes mitzuteilen,“ beginnt Zeisig, während er, auf dem Katheder stehend, seine vierzehn Abiturienten mit einem seiner glühenden Blicke überfliegt. „Hum —“ dieses Räuspern gilt als ein Zeichen der Missbilligung. Und bald wird auch klar, was den Unwillen des Löwen so sehr erregt.

Heftig fährt er sich durch den kurzen braunroten Kinnbart.

„Hum — man hat sich wieder für ein historisches Thema entschieden, das Sie aus der Lektüre des Cicero kennen und dem die Verschwörung des Catilina zugrunde liegt. Der Titel lautet: ‚Wem erteilen wir mit Recht den Namen ‚Vater des Vaterlandes‘?‘ Es steht Ihnen frei, sich eng an die römischen Vorgänge zu halten; für die anderen jedoch, die sich gern freier bewegen — hum, hum — habe ich es ausgewirkt, dass sie den Rahmen ihrer Ausarbeitung nach Herzenslust über die ganze Historie ausspannen dürfen. — So — drei Stunden haben Sie Zeit. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass keiner meiner Schüler so ehrlos ist — aber ich möchte Sie in dieser Stunde nicht beschämen. Gehn Sie freudig an die Arbeit, schreiben Sie ohne Erregung, ganz so, wie wenn Sie mir persönlich Ihre Ansichten über die römische Insurrektion Mitteilen wollten. — Anfangen!“

Wieder ein Aufatmen.

Mit einem lauten, scharrenden Geräusch setzt sich Zeisig, schlägt ein Buch auf und neigt seine Löwenmähne, als wenn er unbekümmert und teilnahmslos lesen wolle.

Aber nur einen kurzen Moment.

Dann suchen seine düsteren Augen sofort die bleichen, bekannten Gesichter seiner Schüler auf, und es ist, als wenn er jeden einzelnen mit einer gewissen Herzensangst studiere, ob er der strengen Forderung auch gewachsen wäre.

Sorgenvoll gleiten seine Blicke.

Da — der mittelmässige Stark, — der ernsthafte Malte Zingst, — der unberechenbare Gust Petersen.

Ja, ja, das ist der interessanteste seiner Schüler, aber auch sein unsicherster Kantonist.

„Hum — hum,“ brüllt Zeisig, um sich ein wenig Luft zu machen.

Dann wird es still — ganz, ganz still.

Die Blätter rauschen, die Federn knistern, manchmal scharrt ein Fuss auf dem Estrich.

Allmählich röten sich die Gesichter der Schreibenden, heftiger werden die Seiten umgeschlagen, es richtet sich zuweilen auch ein Auge bang und zweifelnd auf den Lehrer.

Dann springt Zeisig auf und schreitet mächtig auf das flehende Augenpaar zu. Als ob er strafen oder Hilfe bringen wolle.

„Hum — hum — schreiben Sie vollkommen ruhig.“

Von alledem sieht und hört Gust Petersen nichts. In seine Seele ist es eingezogen, wie Feiertagsfreude.

Welch eine schöne, bunte, farbige Aufgabe. Und wie gern, wie leidenschaftlich gern weilt er nicht in den engen Gassen des alten Rom.

Mit begeisterten, traumglühenden Blicken starrt er auf seine weissen Blätter hinab, dann hebt er das rotbuschige Haupt, kaut an seinem Federhalter, und vernimmt für einen Moment das Summen der Fliegen, die an der weissen Decke spielen.

Gar feierlich still ist es heute in der Klasse. Als ob alle den bitteren Ernst der Stunde fühlen.

Den bitteren Ernst?

Was ist das? Ein heftiger Schmerz beginnt durch Gusts Herz zu wühlen. Denn ganz unvermittelt muss er an jene Familienberatung in seinem Heim denken, an das Schluchzen der Mutter, an Tante Bettis Lebensplan, an die schonenden Verbeugungen des alten Junggesellen, und vor allen Dingen an das graue Gespenst der Armut, dessen rauschende Schleppe ja die Treppen des alten Schifferhäuschens fegen soll.

Wie seltsam, dass er bisher das Geräusch noch nie vernommen.

Er fährt auf.

Galt das ihm?

Bei Gott, Zeisig starrt gerade auf ihn hin. „Hum, Petersen, wollen Sie denn nicht beginnen? Worauf warten Sie noch? — Eine halbe Stunde haben Sie bereits verloren. Phantasieren Sie, bitte, ein andermal.“

Gust taucht schnell die Feder ein und spritzt sie heftig ab.

Ja, gewiss, jetzt heisst es anfangen. Und etwas Grosses muss es werden. Nur nicht der gewöhnliche Brei, nein, etwas, wovon man auf dem Gymnasium noch nach Jahren reden wird.

Etwa: „Kuckt, Jungs, das hat Gust Petersen geschrieben.“

„Ja, der — der war aber auch ein Poet.“

Warum wohl die dunklen Augen Zeisigs noch immer so glühend und rollend auf ihn gerichtet sind? Wie unruhig sich der Leu mit der weissen blutlosen Hand durch den kurzgelockten Bart fährt, und wie raubtierhaft jetzt der Mann wieder vom Katheder herabspringt—. Ja, beim grossen Zeus, so muss Catilina ausgesehen haben, dieser wunderbare Verschwörer, den Gust heimlich so sehr liebt; ganz wie Zeisig muss er anzusehen gewesen sein, genau so. Das heisst natürlich nur äusserlich. Denn seelisch, das ist unumstösslich, seelisch ist er ein Verwandter von Gust. Gust ist ja selbst Catilina. Gust-Catilina haust im alten Rom in furchtbarer Mittellosigkeit und Verschuldung. (Gust hat sich erst kürzlich von Herrn Winkelmann fünf Mark geliehen. Das stimmt also.) Auch eine Verschwörung, hat sie Gust nicht gleichfalls gestiftet? Die Schülerverbindung, jene heimlich auf einem Bodenzimmer tagende Versammlung, der so verbissen republikanische Charaktere, wie Karl Stark und der verarmte Junker Malte von Zingst angehören? Wahrlich, die Ähnlichkeit ist schlagend. Und jetzt, jetzt begreift Gust auch, was Zeisig mit dem Satze gemeint hat, dass die Begabteren den Rahmen ihrer Untersuchung weiter spannen dürften. Zeisig liebt selbst diesen eitlen Streber Cicero keineswegs, dem der verkommene Senat den Titel eines Vater des Vaterlandes verlieh. Zeisig weilt selbst mit seinem Herzen in dem niedrigen, verfallenen Tempel, in dem zur düsteren Mitternachtsstunde der bleiche Catilina seine Scharen versammelt, Zeisig selbst lauscht mit schauderndem Entzücken den ersten Tubenstössen, die in der kleinen etrurischen Feldstadt Faesulae das Signal zum Losbruch der herrlichen Revolte geben sollten.

Und wenn auch tausendmal nicht; nur Beschränktheit kann in dem zitternden Festhalten eines mürbe gewordenen Junkerregiments das Heil des Staates erblicken. Nein, mag Malte von Zingst, selbst ein Junker, der dort drüben auf der zweiten Bank so ernst und sicher schreibt, mag er dem gescheitelten Zungendrescher ruhig den Lorbeer reichen, er, Gust, weiss, ahnt, fühlt, dass in dem Verschwörer Catilina die moderne Zeit steckt, dass seine Helfershelfer vorzeitige Frühlingsboten sind, die durch den Winterschnee reiten. Jawohl, und tausendmal ist es so, alles Grosse haben in die Welt nur die Amstürzler gebracht. Deshalb — einen Besen her — fortkehren wollen wir, fortkehren den Schnee von dem Weg, auf dem die Rosse der Heilsbringer traben. Fortkehren, damit sie nicht gleiten und stürzen, die Kommenden — kehren, kehren für die neue Zeit.

Er schreibt. Und sein erster Satz lautet:

„Catilina gebührt mit Recht der Name Vater des Vaterlandes.“

Zu derselben Zeit sass Toni Stark auf dem Rand ihres Bettes und schluchzte bitterlich. Bis in das letzte Versteck ihrer lebenshungrigen Seele hinein war sie getroffen. Dicht vor ihr hatte vor wenigen Sekunden ihre Mutter mit ihrem starren bewegungslosen Gesicht gestanden, hatte die schmalen, verkniffenen Augen weit aufgerissen, um endlich barsch und gefühllos hervorzustossen, ob ihre Tochter denn nun „rein mall1)“ geworden wäre?

„Sag’ eins — sag’ doch eins, mein Döchting,“ so hatte es giftig geklungen, während die knochige Hand sich nach der hübschen runden Mädchenschulter ausstreckte, als ob sie von da etwas herunterreissen wolle, „sag’ doch, mein Döchting, wozu hast du dir denn heut am Wochentag das neue rosa Kattunkleid angezogen? Ach, und kuck doch, auch noch die Schleife um den Hals? I, das is ja nett. Wirst du nun bald sagen?“

„I, bloss so,“ stotterte Toni, aber gleichzeitig sah sie sich trostlos in dem kleinen weissen Dachzimmerchen um, ob kein Weg zur Flucht offen stünde.

Jedoch Mudding Stark hielt den Ausgang gewichtig besetzt.

„Bloss so?“ wiederholte die Angreiferin noch mehr gereizt, „na, denn will ich dir sagen, was du vorhast, du dummes Gör. Vor das Gymnasium willst du ziehen, um dort die Primaners zu erwarten, die halbwüchsigen Bengels — unser Karl is noch der vernünftigste darunter — damit sie dir Komplimente machen sollen, du unverständige Dirn. Schämst dich garnicht? Gleich ziehst du das Kleid aus.“ Und damit rüttelte die mütterliche Faust bereits an den hübschen Goldknöpfen, so dass die Taille aufging und von den Schultern herunter fiel.

„O, Mudding — Mudding — bitte, bitte.“

„I was, hier —“ die knöcherne Hand schlug leicht auf den entblössten runden Mädchenarm, so dass eine huschende Röte erschien — „gleich machst du, fix.“

Aber dann schien Mudding Stark plötzlich ein beängstlicher Gedanke zu kommen. Rasch setzte sie sich die Hornbrille auf die Nase und sah ihrer Tochter untersuchend ins Angesicht:

„Du?—Du klänst doch nich etwa gar mit Gust?“ fing sie drohend an, wobei ihre Stimme ins Heisere umschlug, „du — ich sag’ dir — doch nich etwa mit diesem Bengel, aus dem im Leben nichts wird? Dirn, wenn du solche Raupen im Kopf hast, dann werd’ ich dir eins ernsthaft kommen müssen. Verstehst du mir? Ernsthaft.“

Dabei schob sie sich die Brille auf die Stirn, starrte ihrer Tochter bis auf den untersten Grund der Augen und versetzte ihr plötzlich einen solch heftigen Schlag auf den Arm, dass Toni vor Schreck laut aufschrie.

„Liebes Mudding.“

„I, was, — ist es Gust?“

„Nein, nein.“

„Sag’ die Wahrheit.“

„Wahr und wahrhaftig nicht.“

„Na, dann segen dich Gott — mehr sag’ ich nicht —. Und nu bleibst du hier, nimmst dir was zu arbeiten vor und sitzt mucksenstill, bis ich wiederkomm’. Hörst du? — Ich will selbst eins nach unsern Karl sehen, wie er geschrieben hat. Und nu fix, den Rock runter.“

Damit war sie gegangen.

Auf der Treppe jedoch hatte Mudding Stark noch einmal Kehrt gemacht, und die in Tränen aufgelöste Toni vernahm zusammenzuckend, wie sich der Schlüssel ihres Kämmerchens plötzlich von aussen scharf und geräuschvoll im Schlüsselloch drehte.

Auch das noch?

War sie gefangen?

Halb ungläubig stürzte sie zur Tür. Dann rüttelte sie.

Fest zugeschlossen.

Und von draussen verklang noch das mahnende Wort der Mutter: „Mucksenstill.“

Und sie schluchzte bitterlich.

Vielleicht würde sie sich schneller getröstet haben, wenn sie hätte beobachten können, wie hübsch sie in ihrer kindlichen Not aussah, und wie rund und blitzend die Tränenperlchen ihr über Wangen und Schultern träufelten. Die Sonne allein lugte dabei durch das Dachfenster hinein, nickte ihr zu und spiegelte sich in den anmutigen Kugeln.

Da polterten heftige Tritte über die Stufen. An der Tür wurde gerüttelt, das war vielleicht Befreiung.

„Wer ist da?“ rief Toni hoffnungsvoll.

„Ich —“

„Gust?“

„Ja, ich — ich bin als erster mit unserem Aufsatz fertig geworden und gehe bereits eine Stunde in der Stadt spazieren. Da wollte ich nur mal Nachfragen, wie Karl geschrieben hat? Ist er schon da?“

Keine Antwort, aber nach einer Weile klang es von drinnen kleinlaut: „Ich hab’ mich eingeschlossen.“

„So mach’ doch auf.“

„Ja, aber der Schlüssel steckt draussen.“

Gust war zu erregt, als dass er über dieses merkwürdige Spiel der Mechanik nachgedacht hätte. Ohne weiteres drehte er den Schlüssel um und drang hinein. Da sah er denn das Bild, das er lange Jahre nicht wieder bannen konnte.

Das weinende Mädchen auf dem Bettrand, entblösst die Arme und Schultern. Die von schwarzen Strümpfen umspannten Füsse kaum von dem kurzen Röckchen bedeckt, und das ganze Geschöpf so in Trauer versunken, dass sie auf all die Unordnung nicht sonderlich zu achten schien.

„Gut, dass du kommst, Gust,“ schluckte sie.

„Herr Gott, warum weinst du, Toni?“

„Ich? —“ sie unterdrückte ihr Schluchzen, „ich weine garnicht.“

„Doch — hat dir jemand etwas zuleide getan?“ stammelte er und starrte auf sie hin.

Wie er ihre weisse Haut glänzen sah, befiel ihn eine so ungeheure Ehrfurcht, als ob er vor einer Königin kniete. Unerreichbar hoch ragte sie vor ihm.

„Setz’ dich,“ bat sie leise, während sie ihm mit dem Fuss einen Stuhl zuschob.

Allein er beachtete die Aufforderung gar nicht, sondern konnte nur verstört hervorbringen:

„Nein, das geht nicht, Toni.“

Da wusste sie erst, was ihn bannte. Glühendrot schreckte es über ihre Wangen, und doch überlief sie ein heimliches Wohlgefühl, dass er so demütig und dienend vor ihr stände.

Dann raffte sie hastig die grüne Schlafdecke um sich zusammen, und als er sich nun kleinlaut auf dem Stuhl niedergelassen, da sassen sie sich beide gegenüber in bangem Schweigen, beide zitternd und bebend, denn die geheimnisvollste Stunde der Jugend war über ihnen.

Endlich schüttelte sich das Mädchen.

„Das halt’ ich hier in dem Hause nicht lange mehr aus,“ hob sie mit geschnürter Stimme an, und die blitzenden Tränen quollen wieder aus ihren Augen, „denke dir, jetzt haben sie mich hier eingeschlossen, weil ich mit jemandem nicht zusammentreffen soll.“

Als Gust diese Andeutung vernahm, legte sich ihm ein banger Druck aufs Herz, in unbestimmter Scham vermochte er nur zu forschen, wer das sei.

Allein Toni schwieg trotzig, richtete ihre feuchten Augen auf die sonnenumglänzte Dachluke und warf endlich kurz hin: „Das sag’ ich dir nicht.“

Da wusste Gust genug.

Er also? — Eine schwere Bedrängnis fasste ihn. In seiner Beklemmung führte er den Finger zum Munde, und grenzenlose Verlegenheit malte sich auf seinen Zügen.

Er also? Herr Gott, war er tatsächlich so schlimm? Aber wenn Toni wirklich seinetwegen so leiden musste, ja, besass er dann nicht die dringendsten Verpflichtungen gegen sie? Ganz gewiss, er musste ihr seinen Beistand leihen, sie von diesen unwürdigen Fesseln lösen. Dazu war er doch Catilina, dass er die Unterdrückten von ihrer Sklaverei befreite.

Und wie er jetzt auf dies Mädchen in der grünen Schlafdecke hinblinzelte, das so rührend hilflos vor ihm sass, da befiel ihn die weiche Zärtlichkeit des Beschützers für dieses weinende junge Weib.

„Sei ruhig, Toni, ich will dir helfen.“

„Ach, wenn du das könntest — aber ich glaub’s nicht, die Welt ist so schlecht.“

„Ja, schlecht ist die Welt, man muss alles zusammenschlagen.“

„Und dann bin ich auch so verlassen.“

„Das sollst du nicht sagen. Ich bin ja dein Freund.“

Toni wandte unvermutet ihre blauen Augen auf ihn hin.

„Ach, Gust, bist du nicht der Freund von Martha?“

Da bekam Gust plötzlich einen seelischen Stoss. Seine Gedanken und Gefühle verwirrten sich. Gehörte er im Moment wirklich der fernen, reinen Martha, vor der seine Einbildungskraft kniete wie der Diener, der seiner Herrin die Schuhe löst, oder war das Rauschen und Treiben, das jetzt durch seinen Körper flutete, stärker, war es das Irdische, das Wirkliche, was ihn zu Toni leitete?

Als er noch so schwankend verweilte, da regte sich Toni, und die grüne Schlafdecke verschob sich etwas von ihrer Schulter.

Gust wurzelte fest.

Ah, — da erschien es wieder, dasjenige, was Toni so neu, so einzigartig machte, so reich, so hoch, so göttlich —

Noch einmal riss er sich los, durchmass mit schweren Schritten den kleinen Raum und bezwang sich.

Aber das schwere Rauschen in seinen Gliedern dauerte fort.

„Höre, Toni, du musst selbständig werden,“ entschied er endlich mit kräftigem Entschluss.

„Ja,“ rief die Angeredete, stürmisch aufspringend; „du hast recht. Aber wie soll ich das werden?“

Er wandte wieder seinen Blick auf sie und sein Herz klopfte.

Warum?

Er begriff sich nicht. Vielleicht war er krank. Ganz zerschlagen fühlte er sich.

„Sag’, was soll ich werden?“ drängte die Fortgerissene von neuem.

In diesem Augenblick hatte die starke Einbildungskraft des Phantasten Macht über seine Zuhörerin gewonnen. Und nun ging es über Stock und Stein.

„Was soll ich werden? Ich tu alles, was du sagst.“

„Etwas recht Hohes — du sollst — sollst — ach, willst du nicht Schauspielerin werden?“

„Ich?“

Mitten in der kleinen Dachkammer und noch immer dicht umhüllt von der schützenden grünen Decke wuchs sie an. Zweifel kamen ihr.

„Schauspielerin? Ich?“ wandte sie zaudernd ein.

„Ja, ja, du hast eine schlanke Gestalt wie eine hübsche Weidengerte, Toni.“

„Ja?“ wachte sie auf, „hab’ ich die?“

„Und sprechende blaue Augen, die voller Leben sind.“

„Findest du? Ist das auch wahr?“

„Gewiss, wie kannst du nur zweifeln? In solch’ einem feierlichen Augenblick? Und dann — es geht von dir so etwas aus — —“

„Was? Sag’ doch schnell —“

„Solch eine Kraft — versteh’ mich recht — solch eine Macht, die bezwingt.“

„Ach, du Lieber, du Guter.“

Sie wollte auf ihn zustürzen, ihm die Hände drücken, sie küssen. Jedoch die Decke, die verwünschte lange Schleppe hinderte sie noch einmal.

„Ja, und was du noch nicht kannst, das lehre ich dich — wir lesen Theaterstücke zusammen, ich spiele dir vor — pass’ mal auf.“

„Ja, ja — alles, alles, was du nur willst, Gust,“ wollte sie jubeln, allein plötzlich verstummte sie. Ein erdrückender, niederschlagender Gedanke lähmte ihre Freude.

„Was ist denn?“

„Meine Eltern — die leiden es ja nie und nimmer.“

„Eltern?“ wiederholte Gust verächtlich; ein trotziger, ablehnender Zug glitt über sein gutmütiges Antlitz. Dann schlug er herausfordernd die Arme untereinander. „Darin liegt es eben. Du brennst einfach durch.“

Da schlug Toni schallend die Hände zusammen. Die Decke entglitt ihr, und die Sonnenstrahlen warfen kleine helle Tupfen auf ihre Haut.

„Durch?“ echote sie, während ein Schauer von Freiheit und Glück sie zu überrieseln begann.

Sie wusste nichts mehr von sich, sie ahnte nicht einmal, warum Gust ganz plötzlich und unvermittelt vor ihr zitterte.

„Ja, durch,“ gab er in seinem hinstarrenden Traum zurück, und seine Stimme klang dumpf und gepresst, und seine Blicke hefteten sich verzweifelt auf das am Boden liegende Tuch, „zu Direktor Türckow nach Stralsund. Den kenn’ ich ganz genau.“

„Du, das tu’ ich,“ schrie Toni im hellsten Glück. „Das tu’ ich.“

Mit einem einzigen Sprung schnellte sie auf ihren Befreier zu, und während sie beide Arme um seinen Hals schlang, presste sie ihren schmalen blonden Kopf an seine Wange.

Einen Augenblick dünkte es Gust, er stände auf einer neuen Erde, eine vorüberzuckende Minute glaubte er, er sei bis dahin noch nicht gewesen, und ein ganz fremder, neuer, riesenstarker Mensch wüchse in ihm empor. Dann aber tat er die Augen auf, und diese Augen nahmen wahr, wovor er bis jetzt brennende Furcht empfunden.

Das Unverhüllte.

Blutrot und peinigend schlug die Scham über ihm zusammen. Ihm war es, als ob er im Moment das halbnackte Mädchen dort hassen müsse.

„Pfui,“ verwies er sie heftig, während er sich mit schweren Bewegungen loswand. „Pfui, Toni — besinn dich doch — das höchste an der Frau ist die Tugend.“

Aber sein Ausbruch war zu unvermittelt, die stürmische Toni begriff ihn garnicht.

„Tugend? Was hast du denn? Bleib doch.“

„Nein — nein.“ — Er hatte sich losgerungen, und nun stürzte er zur Tür, nicht, als hätte eben das Leben seine lieblichste Gabe an die Brust des Unfertigen gelegt, sondern, wie wenn eine geisselnde Furie auf seinen Nacken gesprungen wäre. „Jetzt nicht — ich komm’ wieder —,“ stammelte er noch — „bald“.

Und vollkommen verwirrt fuhr er die Treppe hinab — einen Absatz — den nächsten, bis er erschöpft auf der Strasse anlangte.

Ein frischer Wind, der von der See hereinwehte, strich hier leise summend an den Häusern entlang. Gierig sog Gust die Kühlung ein.

Dann lief er, aufgewühlt und erregt bis ins Innerste, die Gasse hinab, ohne zu wissen, wohin seine Bahn ihn führe. Nur ganz, wie von ferne, empfand er, dass dieser Weg ihn vielleicht in das Heim von Tante Betti leiten könnte.

Auch gut. Nur zu gleichgültigen Menschen, die von dem Streit in seinem Innern nichts ahnten, die nicht wussten, welch’ ein zermalmendes Abenteuer er eben bestanden.

Keuchend stürzte er weiter. Aber der Lauf befreite ihn nicht. Klirrend und klingelnd, wie ein Karussell, das mit tollem Flitterputz überladen sich um sich selber dreht, so kreisten seine Gedanken im engen Ringe.

Sein Examen, Catilina, die wunderschöne vornehme Martha, Egmont, — und dann, was färbte sich so dunkel? Was schillerte so glänzend weiss aus der grünen Decke hervor?

„Nein, nein.“

Mit wildem Ungestüm suchte er sich zu überreden, dass dies Gedenken unwürdig, hässlich, gewöhnlich sei. „Ja, ja, das ist das Gemeine dieser Erde, es will mich aus meiner Höhe herabziehen, es hängt sich an mich mit seiner lüsternen Schwere. Aber ich bin ein Strebender, ich besiege diese Anfechtungen.“

So tobte es durch sein Hirn. Aber das Karussell drehte sich weiter, und je rasender er von dannen stürmte, desto kreischender und wilder lärmte die Musik, bis er plötzlich heftig an einen Passanten anrannte.

Der Wandrer griff mit der linken Hand schmerzlich an den getroffenen Leib, mit der Rechten zog er mechanisch den Zylinder.

„Vergebung,“ dienerte Herr Winkelmann, denn er war es — „freue mich ausserordentlich, Herr Gust, aber um Gottes willen, wie sehen Sie denn aus!“

„Mein Examen,“ stammelte Gust.

„Allerdings, begreife vollkommen. Noch nichts gegessen, leerer Magen. Aber hier stehen wir gerade an der Gaststube von Ihlefeld. Mudding Ihlefeld — Sie wissen schon. Ganz ungewöhnliches Menu heute. Büffelsuppe, Stör, Französisches Filet, Kompot, Butterbrot und Käse. Bewahre, ich lasse Sie nicht — ganz besondere Ehre für mich, mit einem Abiturienten zu speisen. — — Bitte, bereiten Sie mir das grosse Vergnügen, voranzutreten.“

Und als Gust in den düsteren Bogengang der alten Studentenkneipe eintrat, gefolgt von der soliden Alltäglichkeit des Herrn Winkelmann, da begann sich das gespenstische Karussell langsamer und immer müder zu drehen, und zuletzt vernahm Gust nur noch ein ganz feines, fernes Klingeln.

Zur selben Zeit stand Toni in ihrem Dachverschlag vor einem Scherben Spiegelglas, der an die Wand genagelt war, und betrachtete verwundert ihre Blösse, über welche noch immer die munteren Sonnentupfen hinwegtanzten.

Dann reckte sie sehnsüchtig die hübschen, runden Arme.

„Warte nur, du Jung’,“ fiel es dabei listig von ihre frischen Lippen — — „ich krieg’ dich noch, ich mag dich nun mal gar zu gern. — Wart’ bloss, du sollst noch mal bitten kommen.“

Und dann verschränkte sie die Hände hinter dem Kopf, blinzelte wohlig in die Sonne hinein, fragte sich: „Ob ich wirklich Schauspielerin werd’?“

Es klang beinah wie Neugierde.

Der Reiter auf dem Regenbogen

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