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V.

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Zwei Tage später, da wurde an der Entreeglocke des Gymnasialdirektor Thaler heftig gerissen.

Es war ein so starkes, rücksichtsloses Klingeln, dass die hohe Soldatengestalt des Direktors unwillig von dem regenüberfluteten Fenster, wo er bereits auf seinen Besuch gewartet hatte, zurückfuhr, um sich erst ärgerlich über die verdüsterte Stirn zu streichen: „Wie formlos dieser Zeisig sich wieder anmeldet,“ dachte der Schulherrscher dabei verstimmt. „Wo bleibt da die so nötige Disziplin? Verdirbt mir wahrhaftig das ganze Kollegium. Na, diesmal fasse ich ihn aber fester. Ah, guten Abend, lieber Herr Kollege.“

„Guten Abend, Herr Direktor,“ wünschte der im zottigen Überzieher eintretende Zeisig, während er seinen durchnässten Schlapphut fest unter den Arm presste. „Sie haben mich zu sprechen gewünscht.“

„Jawohl,“ versetzte der Direktor höflich, wobei er den breiten Kopf mit den soldatisch gescheitelten Haaren neigte, an die sich ohne Übergang ein kurzer, blonder Hauptmannsbart anschloss, „vielleicht aber legen Sie vorher ab, lieber Kollege.“

Es lag bereits eine ganz leise Zurechtweisung in diesen Worten, jedoch der Löwe der Prima überhörte dergleichen.

„Nicht nötig,“ warf er hin und vollführte eine ungeduldige Bewegung. Gleich darauf aber schleuderte er seinen Überzieher auf den nächsten Stuhl, alles mit den Geberden eines Mannes, der dergleichen Förmlichkeiten unmittelbar vor ernsten Dingen für sehr überflüssig hält.

Dann liess er sich, ohne eine Einladung abzuwarten, in den nächsten Armstuhl nieder, stiess ein paar einleitende „Hums“ hervor und begann wieder nervös:

„Darf ich vielleicht fragen — —?“

„Eine Zigarre gefällig?“ unterbrach der an seinem Schreibtisch verharrende Direktor sehr deutlich, denn er hielt es mit Recht für unpassend, dass der Untergebene die Führung des Gesprächs so unbedingt an sich riss. „Eine Zigarre gefällig, lieber Kollege?“

„Nein — ja, — das heisst, wenn ich bitten darf.“

„Gewiss, bitte bedienen Sie sich — hier ist Feuer.“

Mit ein paar mächtigen Stössen paffte Zeisig ungeheure Dampfwolken von sich aus, ohne zu ahnen, wie sehr sich der Schulmonarch über diese Kraftentwicklung wieder zu kränken begann, und behielt bei alledem noch Zeit, durch die blauen Dünste hindurch den Eindruck des korrekten, weiten Studierzimmers mit seinen hohen Bücherregalen, den zwei Kaiserbildern und den an der Wand gekreuzten Offiziersdegen in sich aufzunehmen.

„Hum.“

Inzwischen hatte der Direktor gleichfalls eine Zigarre entzündet und sich seinem Besuch gegenüber bequem in den Arbeitssessel vor dem grossen Schreibtisch niedergelassen.

Nun schlug er nachlässig die Beine übereinander und begann. Zunächst mit einem wohlwollenden Lächeln.

„Na, Sie ahnen wohl selbst, lieber Kollege, wesshalb ich Sie hierher bitten liess?“

„Jawohl — hum — ich kann es mir denken.“

„Nun gut, dann gehe ich wohl auch nicht fehl, wenn ich voraussehe, dass Ihr Erstaunen über diese seltsame Leistung mindestens ebenso gross ist, wie die meine. Nicht wahr?“

Als Zeisig den immer kälter werdenden Ton in dieser geschäftsmässigen Frage spürte, blies der Löwe plötzlich schreckliche Wolken vor sich hin, fuhr sich nervös in den braunroten Kinnbart, bis seine rollenden Raubtieraugen mit einem wütenden Gefunkel auf seinem Vorgesetzten haften blieben.

Allein, Direktor Thaler mit den fest gerichteten blauen Soldatenaugen hielt diesen Blick stramm aus.

„Nun?“ heischte er nur dringender.

Zeisig riss noch immer an seinem Bart. Endlich fuhr es mit kaum verhaltener Erregung aus ihm hervor: „Erstaunen? — Nein, Sie vergessen, Herr Direktor, dass ich den jungen Mann durch vier Klassen hindurch begleitet habe und dass mir deshalb seine genialen Extravaganzen nicht allein bekannt — —“

„Genial?“ versuchte Thaler, wie über einen netten Scherz zu lächeln.

„Sondern auch lieb sind,“ endigte der gereizte Gegner rücksichtslos.

„Hum.“

Dann warf er sich mit Geräusch in seinen Ledersessel zurück und entflammte zwei Streichhölzer auf einmal. Der Direktor dagegen stäubte langsam seine Asche von der Zigarre, hob seine Augen prüfend zu dem vor ihm Sitzenden auf und verharrte eine Weile in einem peinlichen Schweigen.

So still wurde es, dass man die Regentropfen an die Scheiben spritzen hören konnte.

„Hören Sie mal, Herr Kollege,“ hob der Vorgesetzte endlich mit gänzlich verändertem, scharfem und bestimmtem Ton an, während er sich so straff aufrichtete, als hätte er Befehle für eine Kompagnie zu erteilen. „Der Aufsatz von Petersen dürfte auch für Sie eine bestimmende Bedeutung gewinnen. Ist Ihnen das bekannt?“

Zeisig schluckte. Es war, als hätte er etwas hinunterzuwürgen:

„Wieso?“ quoll es nur heiser aus seiner Brust.

„Weil dieses Gesudel eine Blamage ist.“

„Was?“

„Für Sie. Für meine Anstalt. Und für mich.“

„Eine Blamage?“

„Ich kann es nicht anders nennen,“ schloss der Direktor.

Jetzt hielt sich Zeisig nicht länger. Mit jenem kurzen Aufbrüllen, vor dem seine Primaner sich stets entsetzten, und das sowohl Hohn als Verachtung ausdrücken konnte, schnellte er nach vorn, stiess mit scharrendem Geräusch die Zigarrenkiste weit über den Tisch, öffnete zwei- oder dreimal die Faust, schleuderte ebenso oft den Kopf zur Seite, wie wenn er seinen Kragen damit zu weiten gedächte, und sprang plötzlich aus seinem Sessel empor mit jener unbewusst männlichen und majestätischen Haltung, die ihm seine Überlegenheit verschafft hatte. Er hatte sich bezwungen.

„Herr Direktor,“ wollte er ruhig erwidern, doch er brachte es nur zu einem unheimlichen Knurren, während seine Raubtieraugen dabei düsterer als jemals flammten, „Herr Direktor, machen wir es kurz. Hum —. Dass ich die absurden und unreifen Überzeugungen des jungen Menschen nicht teile, das bedarf wohl weiter keiner Erörterung. Ebenso, wie es bedauerlich bleibt, dass Petersen seiner glühenden Einbildungskraft gerade in diesem Aufsatz die Zügel schiessen liess. Auf der anderen Seite jedoch — ich gestehe es Ihnen ohne jede Einschränkung — bin ich stolz darauf, dass ich allen meinen Schülern, aber auch allen, eine angeregte Phantasie mit auf den Weg zu geben strebe. Denn diese tiefe und fruchtbare Phantasie, die man jetzt sehr zu Unrecht durch eine real praktische Erziehung zu verdrängen, ja auszurotten sucht, diese fruchtbare Phantasie halte ich für den tiefsten Wesenskern des deutschen Volkes von Anbeginn an. Für ein Geschenk seines Genius. Weil nur starke Phantasten von jeher Eroberer und Erbauer gewesen sind.“

„So?“ erwiderte der Schulleiter frostig, indem er seine ragende Gestalt gleichfalls voll zur Höhe streckte, „und ich bin Ihnen für diese Vorlesung sehr verbunden, Herr Oberlehrer Zeisig, Sie gestatten aber wohl, dass man auch anderen pädagogischen Grundsätzen huldigen dürfe. Nicht wahr? Vor meiner Ankunft mag es hier vielleicht in dieser Beziehung anders gehandhabt worden sein. Von jetzt an aber verlange ich unbedingt, hören Sie, ich sagte ‚unbedingt‘, dass Ihre Schüler mit einer gut bürgerlichen und monarchischen Gesinnung von meiner Anstalt entlassen werden. Sind Sie damit einverstanden?“

„Ich bin ein ebenso guter Monarchist, wie Sie,“ schrie Zeisig jetzt wutentbrannt und schleuderte voller Zorn und dunkelrot seine Zigarre in den hinter ihm stehenden Ofenkasten. „Aber ich bin es aus ehrlich erworbener Überzeugung. Und weil der Mensch eine Entwickelungsreihe und keine geprägte Form darstellt, so wünsche ich, dass auch jeder meiner Schüler in Mühe und Not seine eigene Überzeugung finde. Wer nicht versucht ist, der ist auch nicht erprobt, Herr Direktor. In diesem Ringen hat schon unser grosser Goethe die Erlösung zu finden geglaubt —,“ hier glitt ein etwas geringschätzendes Lächeln um die Lippen Thalers, der gerade die pädagogische Seite des Dichterfürsten nicht sonderlich hoch veranschlagen mochte — „und wie ich mich selbst, Sie können es ruhig anhören,“ schloss der schäumende Zeisig, „in jugendlichem Überschwang vom Gottesleugner und Tyrannenmörder zu höheren Idealen durchgeschlagen, so möchte ich um keinen Preis irgendeinem meiner Schüler, und besonders meinem Liebling Petersen nicht, dieses stürmische Handgemenge ersparen. Denn gerade dies drauf und dran, glaube ich, macht allein unser Leben lebenswert. — So, Herr Direktor — hum — dies hatte ich Ihnen zu sagen — verzeihen Sie, es ist hier ungewöhnlich heiss im Zimmer. — Im übrigen finde ich, ganz wie Sie, die ausgesprochenen Prinzipien in dem fraglichen Aufsatz überaus lächerlich, den Stil jedoch und all den Sturm und Drang einfach hinreissend und liebenswert. — So — darauf bin ich nun einmal eingeschworen. Verzeihen Sie. Hum —. Guten Abend, Herr Direktor.“

Damit hatte sich die Gewitterwolke entladen und gedachte nun rollend und wetterleuchtend abzuziehen.

Schon schlug die Hand des Davonstürmenden schallend auf den Türklopfer, als der nachdenklich gewordene Thaler endlich die Art für diesen ungeberdigen Draufgänger gefunden zu haben glaubte.

Mit ein paar grossen Schritten holte er ihn ein, legte ihm seine Hände wuchtig auf beide Schultern und schüttelte unter herzlichem Lachen die ganze Gestalt, wie wenn er den anderen zur Besinnung bringen wolle.

„Na, Sie alter Brummbär, so hören Sie doch.“

„Was denn?“ stotterte Zeisig verblüfft, der auf diese Wendung durchaus nicht gefasst war.

„Herr Gott, mein lieber Zeisig, ich will Sie doch nicht im Zorn von mir scheiden lassen. Unter keinen Umständen. Dazu schätze ich Sie viel zu sehr. Sie wissen wohl selbst, dass ich Sie für meinen hervorragendsten Mitarbeiter halte. Oder muss ich das etwa ausdrücklich betonen?“

„Herr Direktor,“ stotterte Zeisig, der sich den plötzlichen Umschwung durchaus nicht erklären konnte, und sah sich sehr unglücklich um.

„Und wenn man Sie so hört, alter Freund,“ fuhr Thaler kordial fort, „Ihre ganze fortreissende Art, dann muss man Sie ja ordentlich lieb gewinnen, Herr Gott, ja — trotz entgegengesetzter Ansichten —. Aber nun urteilen Sie selbst, kann ich diesen Aufsatz dem Schulrat vorlegen, ohne Gefahr für die mir anvertraute Anstalt? Sagen Sie.“

„Das weiss ich nicht, Herr Direktor, das weiss ich nicht. Darum hab’ ich mich nie gekümmert.“

„Ganz klar, Sie leben eben der Literatur und Ihren Idealen. — Aber weiter, können Sie sich denken, dass der Herr Schulrat Ihren Petersen auf diese Arbeit hin überhaupt zum mündlichen Examen zulässt? Dass er ihn nicht vielmehr wegen moralischer Unreife — ich spreche hier lediglich aus dem Gedankengang unseres Vorgesetzten — dass er ihn nicht einfach und glatt relegieren würde?“

„Relegieren?“ wiederholte Zeisig völlig betäubt, indem er sich verzweifelt durch sein Gelock fuhr, „halten — ja — halten Sie denn das überhaupt für möglich, Herr Direktor?“

„Ich bin davon überzeugt.“

„Ja, aber um Gottes willen, was tut man denn da?“ rief Zeisig ganz fassungslos, und in seinem ehrlichen Gesicht erschien der Ausdruck eines hilflosen Kindes. „Herr Direktor, hier müssen Sie helfen.“

Der Direktor trat zurück und nickte leicht:

„Sehen Sie, lieber Kollege, das hatte ich bereits im Sinne, als ich Sie hierher bitten liess.“

„Ja? — ja? — hatten Sie das?“ fragte Zeisig im Ton der Entschuldigung, in dem er verwirrt die Hände faltete. Und nun entwickelte ihm Direktor Thaler mit eindringlichem Ernst, dass Gust Petersen in der Behausung des Direktors den fraglichen Aufsatz noch einmal schreiben solle, nachdem Zeisig seinen Schüler von dem Vorgefallenen in Kenntnis gesetzt und ihn auf die Gefahr seiner Ansichten hingewiesen habe.

„Das soll ich tun?“ forschte Zeisig in sich hineinmurmelnd.

Er erwachte wie aus tiefer Versunkenheit, und für einen Moment begannen seine Raubtieraugen die alte Glut zu sprühen.

„Sie,“ schloss der Direktor nachdrücklich.

„Ich? — das heisst, ich halte das Ganze — nein, nein, aber trotzdem, ich schicke ihn — ich schicke ihn her,“ knurrte Zeisig jetzt in unterdrückter Erregung —, „tun Sie dann mit ihm, was Sie für Recht halten. Aber nun — ich will es gleich besorgen — nun, gute Nacht, Herr Direktor.“

Damit kehrte er sich mit einer merkwürdig kurzen Verbeugung um, lief durch das Entree, schoss dann die weisse Holztreppe hinunter, dass die Stufen unter ihm krachten, und hörte noch wie der Direktor, der ihm bis auf den Vorplatz gefolgt war, dem Davoneilenden nachrief, dass Thaler mit dieser ganzen Veranstaltung lediglich dem Dr. Zeisig ein Zeichen seiner Achtung zu geben gedächte.

„Jawohl — jawohl — hum — hum.“

Zeisig war auf der Strasse.

Es regnete in Strömen. Allein der Oberlehrer spannte seinen Schirm nicht auf. Plötzlich jedoch gebrauchte er ihn zu etwas Seltsamem. Bei der ersten Laterne nämlich blieb er stehen und begann in unverständlicher Wut auf den eisernen Pfahl einzuhauen.

„Da — da — solch’ ein — o, das ist ja — das ist ja — —“ Was er aber damit ausdrücken wollte, das hat die Nachwelt nie erfahren.

Eine Viertelstunde später nämlich sass er bereits in dem gemütlichen Zimmerchen, das er als Junggeselle von der Tischlerswitwe Gäde gemietet hatte; vor ihm stand eine Flasche des roten Weins, den er sich von seiner Griechenlandfahrt heimgebracht, und in seiner Hand hielt er einen Band des geliebten Goethe, den Direktor Thaler aus pädagogischen Gründen so sehr verachtete. Und mit lauter Stimme und zu seinem Tröste las er sich vor:

„Hier sitz’ ich, forme Menschen —

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, zu weinen,

Zu geniessen und zu freuen sich.

Und dein nicht zu achten,

Wie ich!“

Der Reiter auf dem Regenbogen

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