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4.

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Kurz vor acht läutete Bergmann an der Haustür. Schäfer bat ihn herauf, da er sich noch nicht fertig umgezogen hatte. Während er im Wäschekorb nach einem halbwegs sauberen Laufdress suchte – wann würde er sich endlich eine Putzfrau suchen? –, wärmte sich Bergmann im Vorraum mit Dehnungsübungen auf.

„Das werden Sie auch nötig haben“, meinte Schäfer und schnupperte an einem zumindest äußerlich sauberen T-Shirt, „letztes Mal sind Sie ja ganz schön eingegangen.“

„Schlechten Tag gehabt“, entgegnete Bergmann mit angespannter Miene, „heute überrunde ich Sie.“

„Wenn ich Ihnen eine Runde Vorsprung gebe, vielleicht.“ Schäfer schob seinen Assistenten aus der Wohnung und versperrte die Tür.

Auf der Fahrt zu den Steinhofgründen tauschten sie sich über die Ermittlungsergebnisse aus, die noch nicht einmal im Ansatz auf einen Verdächtigen hinwiesen. Schreyer war auf die Telefonnummer angesetzt, Strasser wühlte sich durch Borns Geschäftsverbindungen, Leitner war mit Befragungen beschäftigt. Gab es irgendwelche Ergebnisse von den Forensikern oder aus der Gerichtsmedizin?

„Nichts, was auf ein gewaltsames Eindringen hinweist … die Alarmanlage war deaktiviert, die Kameras ebenfalls … sieht tatsächlich so aus, als hätte Born seinen Mörder freiwillig ins Haus gelassen. Von Koller ist noch nichts Neues gekommen …“

„Verstehe … da vorne ist ein Parkplatz frei …“

Bergmann stellte den Wagen an der Mauer ab, die die Steinhofgründe umgab, legte die Lenkradsperre ein und stieg aus. Sie liefen sich ein und steigerten dann langsam ihr Tempo, bis ihnen das Reden schwerfiel. Für ein effizientes Training waren sie zu schnell unterwegs, das war ihnen beiden klar – doch seit Schäfer wieder regelmäßig Sport trieb, hatte sich auch wieder der Wettkampfcharakter ihrer gemeinsamen Laufrunden eingestellt. Als sie an der Otto-Wagner-Basilika vorbeikamen, sah Schäfer das Plakat, das auf die Ausstellung in einem der Pavillons der psychiatrischen Anstalt hinwies. Das Telefonat mit Isabelle, so schließt sich der Tageskreis, dachte er beim Anblick des ausgezehrten Mädchens, das von einem amerikanischen GI mit Rotkreuz-Binde aus dem Gebäude getragen wurde. Hier hatte der Arzt gewütet, dem jetzt am Internationalen Gerichtshof in Den Haag der Prozess gemacht wurde. Dass dieser über sechzig Jahre nach seinen Verbrechen ausgeliefert werden konnte, war auch dieser Ausstellung zu verdanken. Zwei deutsche Journalisten hatten sich nach deren Besuch auf die Spur des Folterers gesetzt und ihn schließlich in Buenos Aires gefunden. Wie war jemand zu so etwas fähig? Und wer bringt es fertig, diesen Wahnsinn heute noch zu verteidigen, gedachte Schäfer des jüngst verblichenen Hermann Born.

Ein Mann mit ungepflegtem Vollbart, in Socken und in einem hellblauen Schlafanzug kreuzte ihren Weg, unverständlich vor sich hin murmelnd und gierig an einem erloschenen Zigarettenstummel saugend. Ein Patient der Psychiatrie, war sich Schäfer sicher und wurde von einer in letzter Zeit sehr seltenen Schwermut befallen. Dieser riesige wilde Park, durch den sie liefen, ein einziger bipolarer Zustand, wo sich die zahlreichen Obstbäume der herrschenden Hoffnungslosigkeit in der Klinik entgegenzustemmen schienen, indem sie im Frühjahr wie manisch erblühten, größer, duftender und üppiger als anderswo. Und wie nah war Schäfer selbst vor Kurzem diesem Zustand aussichtsloser Verzweiflung gewesen. Hatte sich schon als einer der tragisch in sich gekehrten Menschen gesehen, die ihm beim Laufen regelmäßig unterkamen. Die Depressiven, Schizophrenen, Suchtkranken, deren Zustand ihnen meist nicht einmal erlaubte, ihre Kleidung dem Wetter anzupassen. So zogen sie barfuß durch den Schneematsch, hüllten sich im Juli in dicke Jacken, zwischen den Fingern erloschene Zigarettenstummel, an denen sie gierig saugten. War es schlicht Glück gewesen, das ihn vor einem derartigen Schicksal bewahrt hatte? Doch was wäre es schon gewesen im Vergleich zu dem, das den Hunderten Kindern während des Krieges hier heroben widerfahren war. Schäfer hielt an einem Brunnen und hielt den Kopf unter das fließende Wasser.

„Gesund ist das nicht“, ermahnte Bergmann ihn.

„Aber das geringere Übel.“

Bevor sie zurück zum Wagen gingen, machten sie an einem Holzzaun ein paar Dehnungsübungen, schweigsam und auf das Ziehen in den Muskeln konzentriert.

„Ist irgendwas?“, wollte Bergmann wissen, als sie langsam den Wilhelminenberg hinabfuhren.

„Nein … doch … die Ausstellung ist mir wieder eingefallen … wo ich vorigen Monat mit der Schulklasse war …“

„Hat mir auch ein paar schlimme Träume beschert …“

„Sie waren auch dort?“

„Ja … letzte Woche …“

„Freiwillig?“

„Wie man’s nimmt … auf jeden Fall ist Ignorieren und Wegschauen auch eine Form der Wiederbetätigung, oder?“

„Wie wahr … bis morgen“, sagte Schäfer und drückte die Wagentür auf.

„Ja, bis morgen“, erwiderte Bergmann mit einem gezwungenen Lächeln.

Gleich nachdem er die Wohnung betreten hatte, schlüpfte Schäfer aus seinem Laufdress und stellte sich unter die Dusche. Doch die Schwermut, die auf ihm lastete, ließ sich nicht abwaschen wie die Salzkrusten auf dem Gesicht. Mit einem Glas Wasser und einem überreifen Pfirsich setzte er sich auf den Balkon. Ihm war übel und er war froh, als sein Nachbar auf den Balkon trat.

„Müde?“

„Ja … war ein anstrengender Tag …“

„Soll ich Sie massieren?“

„Wie bitte?“

„Ich bin Heilmasseur … klassische Massage, psychoenergetische, Shiatsu …“

Schäfer wollte ablehnen; er fühlte sich wie ein gestrandeter Wal in seinem Liegestuhl; andererseits: Tun Sie sich etwas Gutes, Herr Schäfer.

„Na ja … wenn es Ihnen keine Umstände macht …“

„Überhaupt nicht … ich muss ohnehin wieder langsam in Übung kommen …“

„Na gut … soll ich zu Ihnen hinüberkommen?“

„Wäre am besten, da haben wir den Tisch“, meinte Wedekind und ging in die Wohnung, um Schäfer die Tür zu öffnen.

Die Einrichtung war noch etwas karg, aber durchaus geschmackvoll. Fast weiblich, dachte Schäfer, als er die orange- und türkisfarbenen Wandteppiche betrachtete. Wedekind ließ die Jalousien herunter. Schäfer solle sich auf den Tisch legen, Bauch nach unten, Hände neben das Gesäß. Langsam und gleichmäßig atmen, ganz entspannt liegen. Während Schäfer tat, wie ihm geheißen, legte sein Nachbar eine CD mit indianischer Musik ein. Heya, heya, heya, heyayaya … wo bin ich denn hier gelandet, dachte Schäfer, während Wedekind mit dem Handballen sanft auf seinen Nacken einzudrücken begann. Als er das Gleiche bei Schäfers Steißbein tat, bekam er völlig unerwartet eine Erektion.

„Ihre Libido ist blockiert“, meinte Wedekind nüchtern, wobei Schäfer genau den gegenteiligen Eindruck hatte.

Doch womöglich hatte sein Nachbar recht. Isabelle hatte er zuletzt vor vier Wochen gesehen. Und wenn er es sich recht überlegte: Wann hatte er denn zuletzt mit einer Kellnerin geflirtet oder auch nur einer Frau hinterhergesehen? Er hatte keine Lust, das war es wohl; auf dem Beipackzettel ebenfalls als Nebenwirkung angeführt; doch mit dieser hatte Schäfer nicht gerechnet.

Mit einem leisen „Danke“ teilte Wedekind dem fast schon schlafenden Schäfer nach einer knappen Stunde mit, dass die Behandlung beendet sei. Doch er solle noch so lange liegen bleiben, bis er wieder ganz bei sich sei.

„Chmm“, machte Schäfer und zwang sich nach ein paar Minuten, die Augen zu öffnen und aufzustehen.

„Sie sind gut in Form, aber ziemlich verhärtet.“ Wedekind hielt Schäfer eine Tasse hin.

„Ich fühle mich aber gerade ziemlich weich … das war eine Wohltat, danke.“

„Gern geschehen … wann immer Sie möchten.“

„Nur wenn ich Ihnen dafür den üblichen Stundensatz zahlen darf“, sagte Schäfer und trank das lauwarme Ingwergetränk in einem Schluck.

„Beim nächsten Mal … dieses Mal geht aufs Haus.“

„Na, dann sage ich doppelt Danke … und jetzt werde ich mich wohl hinlegen … gute Nacht, Herr Nachbar.“

„Gute Nacht, Major.“

Obwohl Schäfer wie erschlagen war, gelang es ihm nicht, einzuschlafen. Diese Ausstellung … der Blick auf das Plakat hatte wie ein Schlag unterhalb der Kniescheibe funktioniert, das Entsetzen war nach oben geschnellt; die alltäglichen Leichen, egal in welchem Zustand, vermochten diesen Reflex nicht mehr auszulösen … aber Kinder, wie konnte jemand so mit Kindern umgehen? Er wälzte sich ein paarmal herum und stand schließlich auf, um sich vor dem Fernseher abzulenken. Bei einem Verkaufssender, auf dem ein vorgealterter, solariumoranger Mann unter Aufputschmitteln einen Universalmixer anbot, blieb Schäfer hängen. Zuerst landeten die üblichen Gemüsesorten in verschiedenen Plastikaufsätzen … ein Knopfdruck und Suppe. Doch als der Verkäufer einen Avocadokern und dann eine Handvoll Betonschutt in den Mixer warf und dieser alles zu feinem Staub verarbeitete, richtete sich Schäfer auf und sah der Präsentation mit wachsendem Interesse zu. Zu guter Letzt schrieb er sich den Namen des Geräts auf einen Notizzettel, stellte den Fernseher auf lautlos und nahm das Telefon. Er suchte die Nummer seiner Nichte aus dem Adressbuch und drückte die Wähltaste. Er ließ es läuten, bis die Mailbox kam, und legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Dann eben ihren Vater.

„Hallo Jakob … Wieso soll ich nicht schlafen können, darf ich meinen Bruder nicht mehr anrufen … Gut, dir? Hast du Dienst? … Wer ist denn gestorben? … Bienenfeld? Nein, sagt mir nichts … Okay, natürliche Ursache? … In seiner Ordination? Und da hat ihm niemand geholfen? … Verstehe, wie alt war er? … Trotzdem früh … Wie geht’s Lisa? … Habt ihr wieder gestritten? … Nein, bestimmt nicht … Vielleicht zieht sie ab und zu an einem Joint … Aber nie in dem Ausmaß, wie wir das betrieben haben, liebes Brüderlein … Natürlich ist das mit den eigenen was anderes, aber … Behaupte ich auch gar nicht … Aber im Vergleich zu den Jugendlichen, die ich hier so mitbekomme, fällt Lisa in die Kategorie brav bis spießig … Also mach dir nicht zu viele Sorgen … Ja, ich rede mit ihr, versprochen … Na dann, entspannten Dienst noch und bau keinen Kunstfehler … Grüß Lisa von mir … Und natürlich auch Monika … Servus.“

Schäfer legte das Telefon weg und musste über die Sorgen seines Bruders lächeln. Wenn alle Mädchen in diesem Alter so wie Lisa wären, müsste man sich keine Sorgen um die Zukunft der Welt machen. So liebenswürdig, feinfühlig und großzügig – wenn er selbst je eine Tochter bekäme, würde er sich wünschen, dass sie so wie Lisa wäre. Er ging in die Küche und durchsuchte die Anrichte nach Schokolade oder anderen Süßigkeiten. Nichts. Wo war denn die Familienpackung Mannerschnitten hingekommen, die er vor ein paar Tagen gekauft hatte? Er zog das T-Shirt hinauf, packte mit beiden Händen das Fettgewebe unterhalb seines Nabels zwischen Daumen und Zeigefinger und zog daran. Er musste wirklich Obacht geben.

Der bessere Mensch

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