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6.

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Wenn Schäfer länger als zehn Minuten unter der Dusche zubrachte, ohne dass er davor in der Gerichtsmedizin gewesen war … dann, weil ihm die Gedanken durchgingen und er die Zeit vergaß. Weil sich etwas in seinem Kopf eingenistet hatte, das nun still vor sich hinbrütete, ohne dass er wusste, was oder wo genau. Wie diese seltsamen sich drehenden Kreise und Fraktale auf seinem Bildschirmschoner, so ging es da oben zu, zu schnell, um ihre Wege zu verfolgen, zu verwirrt, um daraus einen verwertbaren Zusammenhang herzustellen. Vor allem nicht nach dem, womit er sein Gehirn in den letzten Tagen gefüttert hatte. Auch angestrengtes Nachdenken hilft da wenig, sagte er zu seinem Spiegelbild, davon bekommt man einen hochroten Kopf und die Adern treten einem auf die Schläfen wie den schneidigen Rittern, die das Schwert Excalibur aus dem Fels zu ziehen trachten. Verbissen und selbstsüchtig gelangt man nicht an dieses hehre Ziel, einzig das Vertrauen in die weisen Fügungen der Geschwister Zufall und Schicksal kann einen auf den Thron des Wissens heben. Wohlan, tapferer und selbstloser Junker, nun ran an den Gral.

Als er aus dem Bad ins Wohnzimmer ging, sah er den Regen die Dachfenster herabrinnen. Nichts mit dem Fahrrad. Und obwohl sein Dienstwagen noch vor der Tür stand, beschloss er, die U-Bahn zu nehmen. Der Straßenverkehr und seine üblichen Teilnehmer, zurzeit nichts für sein Gemüt. Den Weg von der Haustür zur U-Bahn legte er im Laufschritt zurück; für einen Regenschirm fühlte er sich noch nicht alt genug.

„Essen Sie das noch?“, fragte er Bergmann, als er ins Büro kam und auf dem Schreibtisch seines Assistenten ein halbes Marzipancroissant liegen sah.

„Eigentlich schon … haben Sie nicht gefrühstückt?“

„Doch, aber offenbar zu wenig.“

„Nehmen Sie’s“, meinte Bergmann seufzend und sah sein Croissant in Sekundenschnelle in Schäfers Mund verschwinden.

„Köschtlich … wo gibt’s die?“, schmatzte Schäfer und ging zur Espressomaschine.

„In der Bäckerei bei der U-Bahn … wie war Ihr Treffen mit dem Psychiater?“

„Mit welchem … ach so … na ja … wenig ergiebig … die sind immer so theoretisch … bei Ihnen was Neues?“

„Ja … Frau Born hat uns ganz wider Erwarten ihren Kalender geschickt … also die Tage, an denen sie am Semmering war …“

„Und?“

„Nichts ‚und‘ … bis jetzt habe ich nichts, womit ich die Daten in Zusammenhang bringen könnte … weder über die schwarze Limousine noch über irgendwelche Besuche …“

„Wo sind die Bankauszüge?“

„Hat Strasser …“, meinte Bergmann, und als er Schäfer zum Telefon greifen sah: „Brauchen Sie gar nicht probieren. Der ist bei der OMV …“

„Was macht er da … Benzin schnüffeln?“

„Born war vor seiner Zeit im Nationalrat dort beschäftigt …“

„Wirklich? Ich habe die immer eher bei den Sozis gesehen …“

„Sind sie auch … deswegen war Born dann auch schnell weg vom Fenster …“

Das Telefon läutete. Plank war eben eingetroffen, der Mann, der in seiner Studentenzeit Borns Wagen mit Säure übergossen hatte; ob sie ihn in den Vernehmungsraum bringen sollten? Nein, ins Besprechungszimmer, bislang war er nur Auskunftgeber. Schäfer trank seinen Kaffee aus, nahm sich einen Notizblock und verließ das Büro.

Wenn der was damit zu tun hat, befördere ich Schreyer zum Leutnant, dachte Schäfer, als er Plank sah. Ein gutmütig wirkender Mann in seinem Alter, weiches Gesicht, lichtes blondes Haar, runde Hornbrille, zerknitterter Leinenanzug … völlig außerhalb des Täterprofils – selbst wenn sie noch kein aussagekräftiges erstellt hatten. Er redete eine knappe Stunde mit dem Mann und ließ ihn wieder gehen. Sein Anschlag auf Borns Auto war nichts als eine zornige, überschießende Reaktion auf dessen damalige Wahlkampagne gewesen. Schäfer erinnerte sich: Die Nationalisten hatten damals Hunderte Anzeigen gegen Unbekannt eingebracht, weil ihre Wahlplakate regelmäßig zerstört worden waren. Was Wunder – Schäfer selbst hatte einmal nach einem Bier zu viel den Faserstift gezückt und Born einen Hitlerbart aufgemalt. Ein Auto mit Säure zu übergießen war zwar etwas gröber – aber nach über zehn Jahren nichts, das eine weitere Ermittlung gegen Plank rechtfertigte. Als Schäfer ihn fragte, ob er sich an irgendeinen Mitstreiter erinnerte, der zu solch einer Tat fähig wäre, verneinte Plank, ohne überhaupt nachgedacht zu haben. Schäfer konnte es ihm nicht verübeln. Vom damaligen Innenminister angestachelt, waren einige Polizisten zu jener Zeit nicht gerade sanft mit den linken Studenten umgegangen. Und jetzt einen von ihnen zur Zusammenarbeit mit ebenjenen zu überreden … keine Chance.

Auf dem Weg zurück ins Büro traf Schäfer mit Strasser zusammen, der mit einem Stapel Unterlagen zu ihnen unterwegs war. Er hatte sich die Füße wund gelaufen und den Mund fusselig geredet, das sah Schäfer seinem stolzen Gesicht an. Erreicht hatte Strasser aber bestimmt so gut wie nichts – sonst hätte er bei erstbester Gelegenheit den Polizeipräsidenten angerufen und sich bei ihm wichtig gemacht; so weit kannte Schäfer den strebsamen Chefinspektor schon.

„Und … Fall gelöst?“, fragte er ihn und schnalzte mit der Zunge.

„Damit kann ich leider nicht aufwarten … aber ich habe eine Menge brauchbarer Informationen zusammengetragen.“

„Na dann …“, antwortete Schäfer und hielt Strasser die Tür zum Büro auf.

Eine halbe Stunde hörte Schäfer Strassers Vortrag zu, dann klinkte sich sein Gehirn aus und ging seine eigenen Wege. Dieses Faktenwühlen war nicht seine Art. Es blockierte wichtige Verbindungen … das war wie in den kommenden Wochen beim Urlaubsreiseverkehr: Alle standen stundenlang im selben Stau und dann fanden sie sich erst recht am selben Ziel wieder. Mainstream … er musste sich etwas anderes überlegen.

„Geben Sie mir die Kontoauszüge“, meinte er, als Strasser zwischen Borns Aufsichtsratsjob in einem halbstaatlichen Unternehmen und seiner Präsidentschaft in einem Schützenverein gerade eine Pause einlegte.

„Sicher“, erwiderte Strasser, legte eine prall gefüllte Klarsichtfolie auf den Schreibtisch und wartete, bis ihn Schäfer oder Bergmann zum Weiterreden aufforderte.

„Ich bin zwei Stunden weg“, erklärte Schäfer, nahm die Kontoauszüge sowie die Liste von Frau Born und stand auf. „Gute Arbeit, Strasser … Kollege Bergmann sagt Ihnen dann, wie es weitergeht.“

Ohne seinen Assistenten anzusehen, verließ Schäfer das Büro – er bemerkte dessen vorwurfsvollen Blick auch so. Doch was half es, wenn er hinter seinem Schreibtisch nur unruhig wurde und nichts weiterbrachte. Er brauchte Bewegung; außerdem hatte er Hunger.

Über den Ring spazierte er bis zum Volksgarten, wo er sich auf eine Kaffeehausterrasse setzte und einen griechischen Salat bestellte, der dort mediterran hieß. Fast hätte er eine Frau neben ihm um eine Zigarette gebeten. Mit nervösen Fingern blätterte er die Kontoauszüge durch … was machte er nur falsch, dass er sich trotz seines vergleichsweise hohen Ranges nicht annähernd solcher Zahlen erfreuen konnte … und das war nur ein Girokonto … da schienen Borns Anleihen, Aktien und Beteiligungen gar nicht auf. Vielleicht doch ein ganz banaler Geldmord? Irgendwelche Betrügereien, Hinterziehungen … bei solchen Summen war es doch mehr als wahrscheinlich, dass im Gegenzug irgendjemand sehr viel verloren hatte.

Die Kellnerin wartete, bis er den Tisch freigeräumt hatte, und stellte den Salat ab. Als Schäfer das Besteck aus der Papierserviette schälte, läutete sein Telefon.

„Schäfer … Ah, Leitner, wo treibst du dich herum? … Brav … Ja, was ich von dir brauche: Haben wir einen verlässlichen Informanten im Zuhältermilieu? … Den Kratky … Also eigentlich suche ich eher wen, der sich in besseren Kreisen bewegt … Hm … Was heißt, dass er sauer auf uns ist? … Na, sehr toll, wer hat das verbockt? … Na, was frage ich auch noch … Mugabe, der Arsch … Probieren kann ich’s ja … Wenn du Zeit hast, könntest du bei der Spurensicherung vorbeischauen, ob da was weitergeht … Und drei Nachbarn müssen noch befragt werden, da weiß Bergmann Bescheid … Klar … Gut, danke einstweilen.“

Mürrisch spießte Schäfer eine Tomate und ein Stück Schafkäse auf. Wie konnte jemand Polizeipräsident werden, der keine Gelegenheit ausließ, ihr Tagesgeschäft mit hirnrissigen Aktionen zu erschweren? Einen ihrer verlässlichsten Informanten per Gerichtsbeschluss zu einer öffentlichen Zeugenaussage zwingen zu wollen … schon einmal etwas vom Vertrauensgrundsatz gehört … kein Wunder, dass der Mann nicht mehr für sie arbeiten wollte.

Schäfer rückte den Teller an den Tischrand, legte die Kontoauszüge neben die Liste, die Borns Witwe ihnen geschickt hatte, und sah sie Zeile für Zeile durch. Da gab es etwas; er nahm sein Telefon und rief Bergmann an.

„Sagen Sie: Hat Frau Born sich darüber geäußert, ob ihre Landaufenthalte lange vorher geplant gewesen sind oder … Nach Lust und Laune … Nichts, ich schaue mir nur gerade seine Kontoauszüge an und bin vielleicht auf eine auffällige Parallele gestoßen … Sag ich Ihnen später … Bald.“

Sie hatte sich für ihre Ausflüge zum Semmering also meistens spontan entschieden. Das passte zwar nicht in das Bild, das Schäfer von der akkuraten und durchgestylten Frau hatte, doch warum sollte sie diesbezüglich die Unwahrheit sagen. Mindestens zweimal im Monat fuhr sie aufs Land; in mehr als der Hälfte der Fälle hatte Born am Tag vor ihrer Abreise eine Summe zwischen tausend und zweitausend Euro behoben. Und wenn man die bescheideneren Bankomatauszahlungen in den Tagen danach in Betracht zog, musste er das Geld schnell ausgegeben haben.

Schäfer rief die Kellnerin an seinen Tisch und verlangte die Rechnung. Drogen hatte Born keine genommen; das hätte Koller herausgefunden; Glücksspieler war er auch keiner; und für alle seriösen Unterfangen hätte er bei diesen Beträgen wohl mit Karte bezahlt. Also wofür sonst gibt ein alter Mann so viel Geld aus, wenn seine Frau nicht zu Hause ist? Cherchez la femme!

Als Schäfer am Ring stand, winkte er ein Taxi heran und ließ sich ins Stuwerviertel im zweiten Bezirk bringen. Viel Hoffnung auf eine brauchbare Auskunft machte er sich nicht; aber versuchen musste er es.

Er stieg in der Lassallestraße aus und rüttelte kurz darauf an der Tür eines Lokals, das sich als Herrenclub ausgab. Als niemand öffnete, schlug er ein paarmal mit der Faust dagegen.

„Gepudert wird erst ab sechs“, meinte eine unwirsche Männerstimme, zu der wegen dem getönten Sichtschlitz kein Gesicht gehörte.

Schäfer holte seinen Ausweis aus der Jacketttasche und hielt ihn dem Mann entgegen, worauf die Tür aufging.

„Schäfer, na gut“, seufzte ein korpulenter und ungesund gebräunter Mittfünziger, „die Jackie ist eh schon auf.“

„Bezahlen werde ich … pudern nicht“, sagte Schäfer und betrat das Lokal, in dem bis auf eine Stehlampe an der Bar kein Licht brannte. Dass einem dieser Gestank nach kaltem Rauch, verschütteten Spirituosen und einem Hauch von Erbrochenem, den solche Lokale tagsüber ausatmeten, in der Nacht nie auffiel.

„Trinken kannst woanders billiger, Inspektor.“

„Dass sie den alten Born ermordet haben, weißt du bestimmt, oder?“

„Kann sein … geht mich nichts an …“

„Es geht nicht um dich … ich will wissen, ob er sich regelmäßig beliefern hat lassen …“

„Ich mach keinen Escort … und da herinnen hab ich den nie gesehen … bei mir kommen nur Anständige herein …“

„Natürlich … also: Wer ist da zurzeit gut im Geschäft? Schwarze Nobelstuten … darf was kosten …“

„Frag den Kapitän … aber sag nicht, dass ich dich geschickt habe … der beißt …“

„Hat der einen ganzen Namen?“

„Otto … hat das Femjoy beim Praterstern …“

„Und warum Kapitän?“

„Weil er nur ein Aug hat … und einen Papagei, verstehst?“

„Sicher … danke.“

Durch eine Seitengasse spazierte Schäfer zum Praterstern, blieb einmal kurz vor einem Zigarettenautomaten stehen und war nach einer Viertelstunde vor besagtem Etablissement. Nichts an dem noblen Neubau deutete auf ein Bordell hin. Ein dezentes Messingschild am Eingang, auf dem ebenso gut „Botschaft des Königreichs Schweden“ hätte stehen können. Schäfer läutete und hielt seinen Ausweis dem Kameraauge entgegen. Ein kurzes Summen, er drückte die Tür auf und ging zum Lift, der ihn in den obersten Stock brachte. Durch eine schwere Flügeltür gelangte er in einen riesigen Salon mit roten Samtmöbeln, Ölgemälden mit nackten Nymphen und reichlich barockem Zierrat … es sah aus wie im Warteraum eines in der freudianischen Ära hängen gebliebenen Luxuspsychiaters. Eine junge, ganz und gar unnuttige Frau begrüßte ihn höflich und fragte ihn nach seinen Wünschen.

„Ich muss zum Otto“, antwortete Schäfer und ärgerte sich, dass er nicht nach dem Nachnamen gefragt hatte.

„Ich werde sehen, ob der Herr Musil Zeit hat“, erwiderte sie und deutete ihm, Platz zu nehmen.

Schäfer setzte sich in einen der roten Fauteuils, blickte kurz sehnsüchtig in den goldenen, sandgefüllten Standaschenbecher neben sich und fragte sich, wo hier das Geschäft stattfand. Doch wenn das Femjoy das ganze obere Stockwerk einnahm, gab es wohl reichlich Platz für diskrete Begegnungen und wahrscheinlich auch noch ein paar weitere Ausgänge, die irgendwelche Türschilder mit Namen nicht existenter Anwaltskanzleien trugen. Vielleicht half das den verheirateten Freiern ja, ihre Lügen über spätabendliche Besprechungen selbst zu glauben.

Nach gut zehn Minuten kam die junge Frau wieder und bat ihn, ihr zu folgen. Durch eine ledergepolsterte Tür führte sie ihn in einen Raum, den Schäfer zu seiner Zufriedenheit als das Reich eines echten Zuhälters erkannte: dichte Rauchschwaden über dem riesigen geschmacklosen Schreibtisch, den zwei wachsame Dobermänner flankierten, an der Wand dahinter eine Fototapete eines Palmenstrands, auf dem zwei dauergewellte Blondinen im Sand lagen und ihre Brüste, die unnatürlich nach oben ragten, der Sonne hinhielten.

„Die beiden Burschen da können hoffentlich meine Glock erschnüffeln …“, sagte Schäfer zu dem Mann mit der Augenklappe, der in einem schwarzen Ledersessel hinter dem Schreibtisch thronte und sich mit einer Hand über seine Glatze strich, als würde er seinen Scheitel richten. Phantomschmerzen?

„Vielleicht … aber sie wissen auch, dass sie schneller sind … keine Sorge, Herr Inspektor … was zu trinken? Mineral, Kaffee, Cognac?“

„Einen Kaffe nehme ich gerne.“ Schäfer setzte sich vorsichtig in den Sessel vor Musils Schreibtisch.

Entgegen Schäfers Erwartung drückte sein Gastgeber auf keinen versteckten Knopf und befahl per Gegensprechanlage die Getränke; er stand auf, ging zu einer hölzernen Wandverkleidung, griff an die Seitenleiste und ließ so eine verspiegelte Hausbar erscheinen, zu der auch eine Kaffeemaschine gehörte.

„Sehr schick“, meinte Schäfer, ohne eine Antwort zu erhalten.

„Also, worum geht’s?“, wollte Musil wissen, nachdem er den Kaffee abgestellt hatte.

„Hermann Born …“

„Der ist tot.“

„Danke für die Aufklärung … darf ich jetzt den suchen, der ihn umgebracht hat?“

„Ich wüsste nicht, was ich damit zu tun haben soll …“

„War er Kunde bei Ihnen?“

„Herr Inspektor …“

„Major.“

„Na schön … Herr Major, Diskretion ist mein Kapital, wo käme ich da hin, wenn ich so einfach meine Kunden preisgäbe …“

„Jetzt ist es Nachmittag, ich bin allein hier“, wurde Schäfer plötzlich ungehalten. „Wie schaut es aus, wenn ich am späten Abend mit zehn lauten Kollegen in Uniform hier auftauche?“

Musil schaute Schäfer erstaunt an, schrieb dann etwas auf einen Notizzettel und reichte ihn über den Schreibtisch.

„Die Nummer meines Anwalts. Soll ich Sie noch zur Tür bringen oder …“

„Ich finde selbst hinaus“, antwortete Schäfer, erhob sich aus seinem Stuhl und überlegte, ob er Musil die Hand reichen sollte.

„Bis demnächst“, sagte er und verließ das Büro.

Im Aufzug verfluchte er sich selbst. Wie konnte er nur so dumm sein und den Mann so vor den Kopf stoßen? Diese dämliche Achtzigerjahre-Nummer vom noch gutmütigen Polizisten, der aber auch genauso gut mit einer Truppe wikingerhafter Elitebullen anrücken konnte. Musil war Profi, ein Geschäftsmann, gegen den er nichts in der Hand hatte … kein Verdacht, kein einziges Indiz … was war in ihn gefahren … er hätte einen Gefallen von ihm gebraucht … stattdessen sorgte er dafür, dass er ohne die Einwilligung des Staatsanwalts keinen Fuß mehr in Musils Etablissement setzen konnte. Was jetzt? Musste er eben Leitner darauf ansetzen. Es gibt allerdings auch noch einen anderen Weg, dachte Schäfer und hielt das nächste freie Taxi an.

Bergmann war nicht im Büro. Schäfer setzte sich an den Schreibtisch, fuhr den Computer hoch und starrte missmutig auf den Desktop, bis sich sein neuer Bildschirmschoner aktivierte: ein Korallenriff, in dem sich Anemonenfische, Skalare, Papageienfische und anderes Meeresgetier tummelten. Isabelle hatte ihm den Bildschirmschoner vor zwei Tagen per E-Mail geschickt und Schäfer genoss es, sich in dem virtuellen Aquarium zu verlieren. Diesmal konnte es ihn nicht beruhigen. Er war deprimiert, sauer auf sich selbst. So euphorisch ihn Arbeitserfolge und angenehme Erlebnisse zurzeit stimmten, so unverhältnismäßig war die Niedergeschlagenheit, mit der er auf unerwünschte Ereignisse reagierte. Wofür nahm er denn diese Medikamente? Der Vergleich mit der Badewanne fiel ihm ein. Hatte er sich zu wohl gefühlt und im Übermut das halbe Wasser über den Rand verspritzt? Vielleicht sollte er einfach den Zufluss verstärken. Er holte eine kleine Plastikdose aus der Hosentasche und entnahm ihr eine Tablette, die er in zwei Teile brach. Dreißig Milligramm statt zwanzig … was konnte das schon anrichten.

Nachdem er weitere zehn Minuten auf den Bildschirmschoner gestarrt und mit sich gehadert hatte, ob er zur Trafik gegenüber gehen sollte, nahm er das interne Telefonverzeichnis von Bergmanns Schreibtisch und suchte sich die Nummer eines Kollegen heraus, der im Dezernat zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität arbeitete. Ob sie sich um sechs Uhr kurz treffen könnten, er bräuchte unter Umständen einen Gefallen. Nachdem sie sich in einem Gastgarten nahe der Freyung verabredet hatten, rief Schäfer zuerst Kovacs und dann Schreyer an. Irgendwas Neues? Hatten sie versucht, das Handy zu orten, von dem Born angerufen worden war? Und Schreyer solle ihm bitte nochmals die Nummer schicken.

Kurz vor sechs verließ Schäfer das Büro, spazierte zur Freyung und setzte sich in den Gastgarten des vereinbarten Restaurants. Sein Kollege Martinek erschien mit zehn Minuten Verspätung und wie immer im Laufschritt. Wahrscheinlich eine Neurose, die er im ständigen Wettlauf gegen das organisierte Verbrechen entwickelt hat, dachte Schäfer und reichte ihm die Hand.

„Habt ihr in den nächsten Tagen irgendwelche Razzien laufen?“, fragte Schäfer nach einem kurzen, belanglosen Austausch über Wetter, Welt und Vorgesetzte.

„Was brauchst du?“

„Eine Telefonnummer“, antwortete Schäfer und holte einen Notizzettel aus seiner Jacketttasche, „der letzte Anruf, den Born erhalten hat, bevor sie ihm das Licht abgedreht haben … niemand von seinen Bekannten kennt die Nummer. Möglich, dass er sich mit Prostituierten beliefern hat lassen … und das ist zurzeit die einzige Spur …“

„Wie oft ist er von dieser Nummer angerufen worden?“ Martinek strich mit dem Zeigefinger über die Nummer, als könne sie allein dadurch ihr Geheimnis preisgeben.

„Einmal … das Handy ist erst vor vier Wochen angemeldet worden …“

„Hast du dich schon umgehört bei unseren Freunden?“

„Ja“, meinte Schäfer ausweichend, „nichts … seit Mugabes Aktion ist die Auskunftsbereitschaft begrenzt.“

„Ja, das haben wir auch schon gemerkt … Idiot … und jetzt willst du, dass ich bei jeder Razzia ein paar Handys einsammle und überprüfe, ob diese Nummer gespeichert ist … richtig?“

„Genau …“

„Am Wochenende steht was an … und zwei Aktionen kann ich vorziehen, wenn der Staatsanwalt sein Okay gibt … das wäre mir ohnehin ganz recht …“

„Damit würdest du uns einen großen Gefallen tun …“

„Jederzeit … aber versprechen kann ich nichts.“ Martinek winkte den Kellner heran. Sitzen war wirklich nicht seins.

Als Schäfer sich von der Rückenlehne wegdrückte, um aufzustehen, bemerkte er, dass sein Hemd am Rücken völlig nass war. So heiß war es in dem schattigen Innenhof doch gar nicht, wunderte er sich, verließ den Gastgarten und machte sich auf den Heimweg.

Später saß er am Balkon und telefonierte mit Isabelle. Er war wortkarg und kam über ein paar Phrasen den Tagesablauf betreffend nicht hinaus. Wie denn auch. Jeder Satz machte ihm schmerzhaft bewusst, dass es jetzt nicht Worte waren, die er mit ihr austauschen wollte. Wie lange würden sie das noch aushalten? Immer war er der Meinung gewesen, dass er zu viel Freiraum brauchte, als dass eine Beziehung funktionieren könnte. Und jetzt wünschte er sich keinen Zentimeter zwischen ihnen beiden. Er wünschte ihr eine gute Nacht und beendete das Gespräch. Wo war denn Wedekind? Jetzt, da Schäfer einmal nichts gegen die Gesellschaft seines wunderlichen Nachbarn gehabt hätte. Tu dir nicht selbst so leid, ermahnte er sich und ging in die Küche, um sich eine Dose Gulasch aufzuwärmen.

Als er wieder am Balkon saß und lustlos einen Fleischbrocken nach dem anderen in den Mund schob, trat sein Nachbar ins Freie. Mit einem stummen Nicken begrüßte er Schäfer und lächelte ihn verständnisvoll an. Der Mann spürt Schwingungen, sagte sich Schäfer, der sieht Auren und so Zeugs.

„Hallo … haben Sie Lust auf ein Glas Bier?“

„Ich trinke keinen Alkohol … aber wenn ich eine Tasse Tee mitbringen darf, setze ich mich gerne einen Augenblick zu Ihnen.“

„Sicher“, freute sich Schäfer und ging zur Wohnungstür, um seinen Nachbarn hereinzulassen. Er holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, ging mit Wedekind auf den Balkon und klappte einen zweiten Liegestuhl auf.

„Wie funktioniert das eigentlich, was Sie machen?“, wollte Schäfer wissen, nachdem sie ein paar Minuten schweigsam eine Ameisenstraße betrachtet hatten, die von einem winzigen Loch in der Mauer über das Balkongeländer führte und dann zwischen den Blumentöpfen verschwand.

„Zusammenhänge“, antwortete Wedekind, „ein System von Energieflüssen und sich wechselseitig beeinflussenden Zuständen, die den ganzen Körper und folglich auch den Geist betreffen.“

„Hm … und wie sehen Sie das?“

„Ich spüre es … das klingt für Sie jetzt vielleicht esoterisch, aber es ist nur eine Form der Sinneswahrnehmung, die den meisten in unserer Gesellschaft abhandengekommen ist … mit ein bisschen Sensibilität kann das jeder wieder lernen …“

„Kann man damit auch … so was wie … funktioniert das auch bei Gemütszuständen?“

„Sicher … aber Sie dürfen sich das nicht wie einen Schalter vorstellen, den ich drücke und dann passt wieder alles … das ist ein langsames, wiederholtes Einrichten, an dem Sie sich genauso beteiligen müssen …“

Na gut, dachte Schäfer, das habe ich doch in ähnlicher Weise schon von meinem Therapeuten gehört. Konnte ihm denn niemand einfach eine Nadel irgendwo in den Kopf stecken und alles war wieder gut?

Nachdem Wedekind gegangen war, blieb Schäfer noch bis lange nach Mitternacht am Balkon sitzen. Er ließ sich ihr Gespräch durch den Kopf gehen. Zusammenhänge … solche, die man verlernt hat, zu sehen … eine andere Perspektive … ein Spüren … so arbeitete er selbst doch normalerweise auch … und jetzt wühlte er sich durch Daten, lief von Befragung zu Befragung … verärgerte Zuhälter … suchte nach Telefonnummern … er musste sich auf die Tat konzentrieren, musste das entscheidende Moment sehen. Welche Beziehung hatte Born zu seinem Mörder gehabt? Was war in seinem Kopf, das dieser unbedingt vernichten musste? Er hätte ihn doch auch erschießen können … kurze Zeit später wäre Borns Gehirn ohnehin bis in die letzte Zelle abgestorben. Hier lag ein Schlüssel zur Lösung des Falls … in dieser Unlogik … hier musste er sich festhaken.

Der bessere Mensch

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