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ОглавлениеDieser Tag noch, dann würde er sich ein schönes Wochenende gönnen. Im Wienerwald Rad fahren, schwimmen in der Neuen Donau, lesen, vielleicht ins Kino gehen. Die Aussicht auf zwei Tage nur für sich hob Schäfers Stimmung, als er sich auf den Weg ins Kommissariat machte. Vielleicht lag es aber auch an der höheren Dosis seines Antidepressivums – egal, es ging ihm besser.
Da er vor dem Eingang noch einmal umkehrte, um sich in der Bäckerei ein Marzipancroissant zu kaufen, erschien er eine Viertelstunde zu spät zur Morgenbesprechung. Aber manchmal sind kleine Fehler auch gut fürs gemeinschaftliche Gleichgewicht, dachte er und schaute in die Runde, die ihn freundlich begrüßte.
Leitner hatte bei allen in Frage kommenden chemischen und pharmazeutischen Betrieben angefragt, ob irgendwo Phosphorsäure abhandengekommen sei. Negativ. Nur die üblichen Einbruchsversuche … Drogenabhängige, die sich die gestohlenen Medikamente meist noch vor Ort verabreichten und dementsprechend schnell gefasst werden konnten.
Kovacs hatte, nachdem die Ermittlungen im Fall des ermordeten LKW-Fahrers keine neuen Ergebnisse gebracht hatten, mit den Befragungen der Anrainer in Borns Wohngegend weitergemacht. Zwei Ehepaare hatten sich über dessen politische Ansichten mehr als abfällig geäußert. Sie verachteten jede Form von Intoleranz, Rassismus und natürlich auch Gewalt – was Kovacs als ein wenig formelhaft, aber doch glaubhaft erschienen war. Bisher also kein Hinweis auf Verdächtige in der Nachbarschaft.
Nachdem Strasser zwar jede Menge an Unterlagen gesichtet, jedoch keinerlei wertvolle Erkenntnisse gewonnen hatte, berichtete Schäfer über Borns Kontoauszüge und welche Schlüsse er daraus zog. Natürlich war es sehr spekulativ, Born nur aufgrund seines Zahlungsverkehrs zu verdächtigen, sich mit Prostituierten beliefern zu lassen; alle Ermittlungen in diese Richtung sollten sie also möglichst diskret durchführen. Die Gedanken, die er sich am Vorabend über Borns Gehirn gemacht hatte, behielt er noch für sich … in diesem selbst geschaffenen Nebel gab es noch keine Orientierung und keinen Anhaltspunkt; keinen Baum, anhand dessen Moosbewuchs er sagen konnte: Hier ist Norden, hier Süden, ihr marschiert in diese Richtung, ihr da lang. Und metaphysisches Gerede würde in der Gruppe nur zu Verwirrung und Ratlosigkeit führen. Das würde er danach mit Bergmann allein besprechen. Eine weitere halbe Stunde lang gab Schäfer die Vorgehensweise vor und teilte die Aufgabenbereiche ein. Es gab noch Dutzende Bekannte und ehemalige Politkollegen, die es zu befragen galt; Kovacs und Schreyer sollten sich daranmachen; Strasser seine Ermittlungen in Borns wirtschaftlichem Umfeld fortsetzen; Leitner im Rotlichtmilieu recherchieren.
Bergmann teilte ihnen mit, dass sich die Beamten vom Verfassungsschutz gemeldet hätten. Sie hatten Plank noch einmal eingehend vernommen, was Schäfer mit einem leisen Fluch kommentierte. Außerdem wünschten sie sich noch vor dem Wochenende eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse. Er würde sich darum kümmern und bat seine Kollegen, die Dateien im Intranet rechtzeitig zu aktualisieren.
Zurück im Büro, gelang es Schäfer nicht, sich auf den Fall Born zu konzentrieren. Dieser Berg an Informationen, bislang ohne etwas, das irgendwie ein Motiv erkennen ließ. So ähnlich hatte er sich gefühlt, als sein Bruder Jakob ihn vor Jahren wieder einmal überredet hatte, in einen Klettergarten in der Nähe von Salzburg mitzugehen. Schäfer war vor der übermächtigen Felswand gestanden, ohne Ahnung, wo er dort eine Hand oder einen Fuß hinsetzen konnte. Leck mich, hatte er trotzig gemeint, den Klettergurt abgelegt und war spazieren gegangen.
Sah er sich eben noch einmal die Akte des LKW-Fahrers an. Manfred Schöps, geboren am 11.10.1962 in Amstetten, wohnhaft in Wien seit 1992, ledig, keine Kinder. Wohl ein einsamer King of the road, mutmaßte Schäfer und ging zu den Tatortbildern über. Der LKW stand am äußeren Rand des Parkplatzes, daneben ein verdreckter Rasenstreifen und ein paar zerzauste Büsche, die sich vermutlich ein anderes Schicksal gewünscht hatten, als zwischen Fernfahrer-Parkplatz und Schnellstraße eingezwängt zu sein. Der Täter musste in der Schlafkoje hinter dem Fahrersitz gelauert haben. Schöps hatte den Zündschlüssel schon eingeführt, als ihn die Kugel ins Genick getroffen hatte. Keine Schmauchspuren; der Schuss war aus einem halben Meter Entfernung abgegeben worden; nicht aufgesetzt, wie es ein Profi getan hätte. Schäfer versuchte, sich den Tatablauf vorzustellen: Schöps hat in der Raststation zu Abend gegessen. Er steigt in sein Fahrzeug, das er laut Zeugenaussagen kaum einmal absperrte. Wenn die Kiste wer stehlen will, steht ihm das Schloss sicher nicht im Weg, hatte Schöps die Vorwürfe seiner Kollegen wiederholt entkräftet. Außerdem: Wo willst du einen 32-Tonner so schnell verstecken? Er steckt den Zündschlüssel ein, bumm. Zwischen Rückenlehne und Hinterwand der Schlafkoje war nur gut ein Meter Platz, sah Schäfer beim Betrachten der Innenaufnahmen des Fahrzeugs. Das heißt, dass der Schütze sich aufgerichtet, an die Rückwand gedrückt und anschließend geschossen hat. Warum? Warum setzt er den Lauf nicht auf? Schäfer lehnte sich zurück und schloss die Augen. Hier war niemand am Werk gewesen, der Schöps kaltblütig aus dem Weg geräumt hatte, weil der eine Gefahr darstellte; viel eher ein Amateur, der seinem Opfer nicht näher als nötig kommen wollte; der beim Schießen vielleicht sogar die Augen geschlossen und eher zufällig schon beim ersten Mal tödlich getroffen hatte. Warum sah Schäfer jetzt das Bild einer Frau vor sich? Er griff zum Telefon und rief Kovacs an, die zwei Minuten später an seinem Schreibtisch saß.
„Erstens: Überprüfen Sie noch einmal alle privaten Kontakte von Schöps, vor allem die weiblichen … bohren Sie nach, ob es irgendwo eine heimliche Liebschaft gegeben hat … und dann nehmen Sie sich alle anderen Fahrer der Firma vor, die mit einem gleich oder ähnlich aussehenden LKW unterwegs waren …“
„Gut … sagen Sie mir auch, warum?“
„Ja … beim nächsten Mal.“
„Irgendwann geht sie Ihnen an die Gurgel“, meinte Bergmann, nachdem Kovacs den Raum verlassen hatte.
„Wieso?“, fragte Schäfer überrascht.
„Na, weil Sie sie ins Feld ziehen lassen, ohne sie aufzuklären, wieso und wohin …“
„Ah … die jungen Hunde … die sollen zuerst schnüffeln und apportieren lernen und dann erst auf eine bestimmte Beute abgerichtet werden … aus Ihnen ist ja auch was geworden, oder?“
„Was woanders ohne Sie aus mir geworden wäre, kann ich ja schlecht überprüfen …“
„Fangen Sie ja nicht an, in Paralleluniversen zu denken, Bergmann … das macht nur wehmütig und verführt zum Alkoholmissbrauch … auf jetzt, wir gehen …“
„Wohin?“
„Raus ins Freie … wir haben was zu besprechen …“
„Haben Sie Angst, dass wir hier abgehört werden?“
„Reden Sie mir keine Paranoia ein … es ist Sommer, da lässt es sich draußen besser denken.“
Sie suchten sich eine abgelegene Bank im Rosenpark des Volksgartens. Schäfer öffnete die Flasche Apfelsaft, die er zuvor am Automaten gezogen hatte, und trank die Hälfte in einem Zug.
„Wir denken zu engstirnig.“
„Aha … und was sollen wir anders machen?“
„Die Beziehung zwischen Opfer und Täter in den Mittelpunkt stellen … nicht die üblichen Indizienketten, Verdachtsmomente, blablabla … da wird man ja meschugge … ich komme mir immer mehr vor wie ein menschliches Google …“
„Na ja, das ist unsere Arbeit … und so schlecht ist unsere Aufklärungsquote nicht …“
„Das meine ich ja gar nicht … wenn ein Mann seine Frau zerstückelt und versenkt oder jemand bei einem Raubüberfall erschossen wird, kommen wir um diese Methoden nicht herum, da haben Sie völlig recht … aber Sie müssen doch zugeben, dass dieser Fall eine andere Sprache spricht … da steckt System dahinter …“
„Bestimmt … aber jedes System entsteht aus Knotenpunkten, Beziehungen … und die untersuchen wir gerade … oder verstehe ich da was nicht?“
„Nein, da haben Sie schon recht … das läuft natürlich weiter wie gehabt“, gab Schäfer zu und schloss für einen Moment die Augen, um sich seine Gedanken vom Vorabend in Erinnerung zu rufen.
„Der Mord hat etwas … was soll das … ausufernder Hass? Aber dafür ist das Vorgehen zu besonnen … das ist ja fast medizinisch … ein Prozedere … “
„Wir haben es mit einem Geisteskranken zu tun …“
„Das ziemlich sicher … nur: Er kommt und geht ohne Spuren, nichts haben wir gefunden, kein Haar, keine Textilfasern …“
„Ein akribischer Plan … ein intelligenter Mensch …“
„Unbedingt … deshalb macht mich das auch so nervös. Wir sind diesem Plan weit hinterher … und was uns in so einem Fall erfahrungsgemäß neue Ansätze bringt …“
„Ist hoffentlich kein zweiter Mord …“
„Das haben Sie jetzt gesagt … aber Sie haben leider Gottes sehr oft recht, Bergmann … schreiben Sie sich das ruhig in Ihre Komplimentemappe … dieser Mensch hat entweder zumindest ein paar Wochen darauf verwendet, diesen Mord zu planen, oder er hat Born gekannt … er hat gewusst, wann der allein zu Hause ist, wann er von niemandem überrascht wird … das ist kein Amateur, der sagt: So, Kinder, Abendessen fällt aus, ich gehe heute mal einen alten Naziknacker mit Säure übergießen … seid brav und um zehn ist der Fernseher aus … “
„Sie meinen, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der schon einmal getötet hat …“
„Ja … das ist zu professionell für einen Anfänger … Sie wissen, wie Serientäter anfangen … ist noch kein Meister vom Himmel gefallen … ’tschuldigung … aus der Hölle, müsste ich wohl sagen … da bleibt was zurück … die sind nervös … in ihrem Rausch gefangen … erst beim zweiten oder dritten Mal wird die Inszenierung dann sorgfältiger … ach, ich kenne mich auch nicht mehr aus …“
Sie gingen eine Runde um die Rosenbeete, wobei Schäfer sich die Namensschilder jeder Züchtung ansah. Am liebsten hätte er seine Laufschuhe bei sich gehabt und wäre bis in den Wienerwald gelaufen; dieses Kribbeln unter der Haut, dieses übermäßige Schwitzen … er musste sich irgendwie körperlich verausgaben.
„Gehen Sie ohne mich zurück … ich habe noch was zu erledigen.“
Er querte den Heldenplatz und ging über Kohlmarkt und Graben zu einem Textilgeschäft, wo er eine Badehose und ein Handtuch kaufte. Warum sollte er ein schlechtes Gewissen haben? Eine halbe Stunde in der Neuen Donau – das würde seinen Geist erfrischen, das käme der Arbeit nur zugute. Mit der U1 fuhr er zur Donauinsel, wo er die Uferpromenade entlangspazierte, bis er einen schattigen Platz unter ein paar Birken fand. Er breitete sein Handtuch aus, stellte sich hinter die Bäume und zog sich um. Was sollte er mit seiner Dienstwaffe tun? Die konnte er nicht einfach hier liegen lassen. Er sah sich um, wickelte die Pistole ins Handtuch und ging ein paar Schritte zu einem Gebüsch, wo er sie unter einem Haufen aus Reisig und Grasschnitt verbarg. Dann lief er zum Ufer, prüfte mit dem rechten Fuß die Wassertemperatur und sprang hinein. Mit kräftigen Zügen kraulte er an die andere Seite, wo er einen Moment verschnaufte und wieder retourschwamm. Ein paar Minuten blieb er auf seinem Handtuch sitzen, dann sprang er abermals ins Wasser. Er genoss es, seinen Körper zu spüren; wie ihm die Oberarmmuskeln zu schmerzen begannen, wie sich die Handflächen fast krampfartig verspannten, wie eine Maschine zog er durchs Wasser, kämpfen, Schäfer, kämpfen, er fühlte sich großartig.
Auf dem Rückweg blieb Schäfer bei einem Eissalon stehen. Da dort an die fünfzig Sorten verkauft wurden, brauchte es seine Zeit, bis Schäfer sich für eine Tüte mit drei Kugeln, Honig-Topfen-Marille, entschieden hatte. Dann bestellte er fünf weitere Sorten, die er in eine Styroporbox packen ließ. Über die Freyung spazierte er zum Kommissariat und blieb vor dem Eingang stehen, bis er das Eis fertig gegessen hatte.
Bergmann war damit beschäftigt, den Bericht für die Beamten des Verfassungsschutzes zu ordnen. Schäfer machte ihnen beiden einen Kaffee und stellte sich ein paar Minuten hinter seinen Assistenten, um ihn bei der Arbeit zu beobachten. Nicht dass er ihn kontrollierte; er bewunderte vielmehr seine Fähigkeit, in eine Unmenge an Daten eine Ordnung zu bringen, in der sich jeder von Anfang an zurechtfand. Und siehe, es war gut. Ach, Bergmann, was täte ich ohne Sie!
„Haben Sie schon einmal Honigeis gegessen?“
„Nein … klingt aber gut … muss man wahrscheinlich mit einer fruchtigen Sorte mischen, die dem Honig die schwere Süße nimmt …“
Schäfer rieb sich am Nasenflügel und fragte sich, ob das wirklich Bergmann war, der das gesagt hatte.
„Können Sie ja gleich versuchen … ich habe ein Kilo in der Styroporbox hier … Honig, Topfen, Marille, Schokolade und Oberskirsch … ich hole ein paar Schüsseln und Löffel und Sie rufen inzwischen die Meute zusammen.“
Strasser und Leitner waren unterwegs; also saßen sie zu viert im Besprechungszimmer und löffelten das Eis weg, bevor es völlig zerschmolz. Schäfer aß die beiden Portionen, die den zwei abwesenden Kollegen zugedacht waren.
„Honig“, meinte er später, als er mehr als satt in seinem Sessel hing, „woran denken Sie dabei?“
„Wenn ich jetzt Bienen sage, ist das zu banal?“
„Nein … was noch …?“
„Blumen, Nektar, Pollen, Stachel, Imker, Honigbrot … warum eigentlich?“
„Als ich auf dem Weg hierher mein Eis gegessen habe …“
„Sie haben vorher schon eins gegessen?“
„Na ja … ein kleines, eine Tüte … auf jeden Fall schlecke ich an diesem Honigeis und denke so über Honig nach – so wie Sie eben – und plötzlich macht es … also es pocht irgendwie in meinem Kopf, ganz leise, als ob jemand vorsichtig an eine Tür klopfte …“
„Sind Sie zum Arzt gegangen?“
„Wieso zum Arzt, nein, das war eher metaphorisch gemeint … irgendwo im unterbewussten Raum bildet sich ein Gedanke und möchte in das Zimmer, wo ich ihn wahrnehme … aber ich weiß nicht, wie ich ihm die Tür öffnen soll … verstehen Sie: tock, tock …“
„Und es hat etwas mit Honig zu tun?“
„Ja … oder mit Bienen, Blüten, Wiesen …“
„Vielleicht sollten Sie noch eins essen …“
„Noch ein Honigeis? Mir ist jetzt schon ziemlich schlecht.“
Sie verließen das Kommissariat gemeinsam kurz nach sechs, Bergmann ging in die Tiefgarage, Schäfer zur U-Bahn. Er überlegte sich, die Einkäufe fürs Wochenende gleich zu erledigen. Doch als er am Supermarkt vorbeikam und durch die Glasfassade die Schlangen an den Kassen sah, verschob er es auf den nächsten Tag.
Zwei Stunden später saß Schäfer auf dem Balkon seines Nachbarn und ließ sich den Nacken massieren. Was für eine Wohltat – auch der leichte Schmerz, den Wedekinds Daumen verursachten, wenn sie sich langsam, aber kraftvoll in die verhärtete Muskulatur drückten. Bienen, Wiese, Feld summte Schäfer in sich hinein, als sich die Tür in seinem Kopf mit einem Mal auftat – dahinter war allerdings nur eine kleine dunkle Abstellkammer ohne weiterführende Tür, an der Wand ein Pappschild, auf dem der Name Bienenfeld stand. Und Schäfer wusste, wo er diesen Namen aufgeschnappt hatte: der Doktor, dessen Beerdigung sein Bruder in der Vorwoche besucht hatte. Erstaunlich: Seine Geschmacksknospen gaben ein Signal für Honig an sein Gehirn, das sich mit einem anderen Bereich kurzschließt und den Namen Bienenfeld aufblinken lässt. Waren es die Medikamente, die seine Zahnräder da oben zu hochtourig laufen ließen, worauf die sich überfordert verschoben? Würde er jetzt irgendwann eine Erektion bekommen, wenn er eine Amsel pfeifen hörte? Vielleicht hatte sich ja auch im Gehirn des Mörders etwas grundlegend verschoben. Abgesehen von der Tat an sich. Aber das gehörte für Schäfer ja schon zur Normalität.