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Den Kopf umwölkt von den Traumresten einer unruhigen Nacht, erschien Schäfer im Kommissariat. Sollte er seinem Therapeuten am Nachmittag von der Ausstellung auf der Baumgartner Höhe erzählen? Dass er sich freiwillig gemeldet hatte, die Schulklasse dorthin zu begleiten? Sie sollten sich nicht noch zusätzlich zu ihrer Arbeit dem Schrecken des Todes aussetzen – etwas in der Richtung würde ihm der Therapeut vorwerfen, zu dem er inzwischen nur mehr alle zwei Wochen ging. Was sollte er denn tun? Nicht hinsehen war auch eine Form der Wiederbetätigung, wie Bergmann treffend bemerkt hatte. Außerdem hing doch alles zusammen: die Mörder und ihre Opfer, die eine Grausamkeit mit der anderen; und wenn man den Tod einmal zum Reiseleiter gewählt hatte, musste man sich nicht über die Orte wundern, an die er einen führte. Er warf dem Psychiater ja auch nicht vor, dass er sich ständig mit Irren umgab.

Als er gerade dabei war, die Gruppe zur Morgenbesprechung zusammenzurufen, rief Kamp an. Er solle noch eine halbe Stunde warten; zwei Männer vom Verfassungsschutz würden vorbeikommen, da ein politisches Motiv nicht auszuschließen sei.

„Großartig … das heißt dann wieder einmal, dass wir jeden Schritt mit ihnen abstimmen dürfen und doppelt so lange für alles brauchen“, raunte Schäfer Bergmann zu.

„Vielleicht nehmen sie uns auch Arbeit ab …“, erwiderte Bergmann gelassen, weil er wusste, dass sein Chef noch nie mit irgendjemand anderem jeden Schritt seiner Arbeit abgestimmt hatte.

„Sie nehmen uns Arbeit weg und finden das heraus, was sie herausfinden wollen …“

„Sie fürchten, dass uns Mugabe wieder hineinpfuscht …“

„Genau“, gab Schäfer mürrisch zu. Zwischen dem Polizeipräsidenten und ihm gab es ein stilles Abkommen, sich nicht mehr als nötig zu befehden. Beide hatten sich in jüngster Vergangenheit ein paar Fehltritte geleistet, die – einmal publik gemacht – mit ihren Ämtern nicht vertretbar wären. Dabei sah Schäfer seine eigenen Entgleisungen natürlich als den Zweck heiligende Mittel, die letztendlich dazu geführt hatten, zwei Mörder zu überführen. Und der Polizeipräsident, der den renitenten Schäfer allzu gerne in die Provinz versetzt hätte, war von diesem leider mit einem der beiden Täter beim Abendessen gesehen worden. Ob die Bekanntschaft mit dem obersten Exekutivbeamten des Landes einem Mörder geholfen hatte, so lange unentdeckt zu bleiben? Dafür hatte Schäfer gar nicht erst nach Beweisen gesucht. Ein Anruf bei der Presse und der Polizeipräsident wäre aus seinem imperialen Büro katapultiert worden wie ein Kampfpilot aus einer abgeschossenen Mig. So hatten sie es bei dieser Pattstellung belassen, und wenn Mugabe wieder einmal an Schäfers Bauern rüttelte, knurrte der genauso grimmig wie jener, wenn ihm der Major an den Turm pinkelte.

Ein Kollege von der Spurensicherung hatte ihm ein E-Mail mit dem Betreff „Borns Porn“ geschickt. Sie hatten den Laptop des Mordopfers durchsucht und waren auf eine ansehnliche pornografische Sammlung gestoßen – allerdings unbedenklichen Inhalts, wie es der Beamte formulierte: keine Kinder, keine Tiere, keine realen Gewaltszenen. Glück gehabt, sagte sich Schäfer, und dachte dabei weniger an die Ermittlungen als vielmehr an seinen Kollegen, der ebenfalls in therapeutischer Behandlung war, weil ihn das, was er regelmäßig auf konfiszierten Computern fand, in tiefe Verzweiflung gestürzt hatte.

Eine halbe Stunde vor dem Besprechungstermin suchte Schäfer Kovacs in ihrem Büro auf.

„Haben Sie mir wenigstens eine Flasche Roten mitgebracht von Ihrem Ausflug ins schöne Burgenland?“, begrüßte er sie halb vorwurfsvoll.

„Verbotene Geschenkannahme“, erwiderte Kovacs trocken, rückte vom Schreibtisch weg und holte eine Papiertasche zwischen ihren Füßen hervor, die sie Schäfer hinhielt. „Intensive rotbeerige Nase, Anklänge von Blutorangen, Veilchen und etwas Waldboden … den Rest habe ich vergessen …“

„Ah“, meinte Schäfer überrumpelt, nahm die Tasche entgegen und ignorierte das dümmliche Grinsen von Schreyer, der sich von seinem Bildschirm gelöst hatte und ihnen nun seine gesamte Aufmerksamkeit widmete. „Also … ja … danke. Und die Arbeit? Was haben Sie gemacht da unten?“

Kovacs drehte ihren Sessel zu Schäfer hin und kaute auf ihren Lippen. Dann griff sie zu einem Schnellhefter und reichte ihn Schäfer, der pro forma darin herumzublättern begann.

„Vor zwei Jahren hat der Mann mit seinem LKW ein kleines Mädchen überfahren … sie war sofort tot … die Mutter ist mit dem Tod ihrer Tochter nicht fertiggeworden und seitdem die meiste Zeit in der Psychiatrie …“

„Rache also“, schloss Schäfer und legte die Dokumente zurück auf den Schreibtisch. „Und wer?“

„Weiß ich nicht … die Verwandten der Frau leben in der Nähe von Oberwart … nach dem Unfall ist sie dorthin zurückgegangen und hat eine Zeitlang bei ihren Eltern gelebt … bis es nicht mehr gegangen ist …“

„Bruder, Vater, Onkel“, trieb Schäfer sie an, „lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen …“

„Von den männlichen Verwandten kann es keiner gewesen sein … die haben alle ein Alibi … außerdem ist der LKW-Fahrer nie verurteilt worden, weil die Kleine ohne zu schauen mit ihrem Roller auf die Straße gefahren ist … der war ja völlig fertig …“

„Scheiße, so was … aber warum sind Sie dann überhaupt dorthin?“

„Weil wir sonst nichts finden“, gab Kovacs zu. „Der Mann hat bei seinen Kollegen den Spitznamen Samariter gehabt … gutmütig, hilfsbereit, keine Drogen, keine Prostituierten, kein Glücksspiel …“

„Nichts, von dem wir wissen … der Täter hat ihm zwar alle Wertsachen gelassen, aber das heißt nicht, dass es nichts gegeben hat, das für ihn wertvoll war …“

„Was zum Beispiel?“

„Keine Ahnung … irgendetwas Belastendes … ein Foto … ich weiß es nicht … vielleicht war er Zeuge von irgendeinem anderen Verbrechen … zur falschen Zeit am falschen Ort … kommen Sie jetzt … Schreyer, hast du schon was über die Telefonnummer herausgefunden?“

Schreyer sah Schäfer aus schwarzgeränderten Augen an, deren Lider auf Halbschlaf standen.

„Nichts bis jetzt … und es wird wahrscheinlich auch nicht viel werden. Das Handy ist erst vor vier Wochen gekauft worden.“

„Hast du die Nacht durchgearbeitet?“

„Hmh … kann man so sagen …“

„Sehr fleißig … dann nimm dir jetzt eine Decke und leg dich in irgendeinen Park …“

„Ich will aber in keinem Park schlafen … wie sieht denn das aus …“

„Na von mir aus, such dir eine Couch oder geh nach Hause … vor zwei will ich dich hier jedenfalls nicht mehr sehen.“

Dass Schäfer dem Inspektor eine Ruhepause befahl, war nur zur Hälfte seiner Sorge um dessen Wohlergehen geschuldet. Wie viele andere geistige Grenzfälle lief Schreyer nämlich gerade in Zeiten völliger Übermüdung zu Höchstform auf und die konnten sie zurzeit sehr gut gebrauchen. Doch bei einer ausführlichen Besprechung in Anwesenheit von zwei dezernatsfremden Beamten wollte Schäfer den Inspektor nicht dabeihaben. Intern wussten sie alle mit seinen sonderlichen Bemerkungen umzugehen – doch von außen wollte Schäfer seine Truppe nicht als Freakshow belächelt wissen.

Auf dem Weg ins Besprechungszimmer trafen sie auf Leitner, der seinen Vorgesetzten kurz unter vier Augen sprechen wollte.

„Was gibt’s?“, wollte Schäfer wissen, nachdem er Kovacs vorausgeschickt hatte.

„Ich wollte Ihnen das sagen, bevor wir mit denen vom Verfassungsschutz zusammensitzen …“

„Was sagen?“, fragte Schäfer, worauf Leitner seinen Notizblock aufklappte.

„1997 hat ein Student namens Xaver Plank einen Säureanschlag auf Borns Auto verübt … seine Eltern haben die Sache über einen außergerichtlichen Vergleich aus der Welt geräumt.“

„Das hat Born zugelassen?“

„Vermutlich, weil Plank senior in der Partei war …“

„Na ja … zwischen Auto und Kopf ist halt schon ein ziemlicher Unterschied … aber wir werden uns den Mann auf jeden Fall vornehmen … gute Arbeit, Leitner … auch dass du das nicht gleich vor allen hinausposaunt hast …“

Die Besprechung wurde weit weniger schlimm, als Schäfer erwartet hatte. Die beiden Beamten ersuchten ihn nur, die jeweiligen Ermittlungen miteinander abzustimmen und sie über Neuigkeiten so schnell wie möglich zu informieren. Schäfer versprach ihnen bestmögliche Kooperation und sah aus dem Augenwinkel Kamp, der ihn mit einem argwöhnischen Blick bedachte. Gut, ihm konnte er nichts vormachen.

Über die Vorgehensweise, die Schäfer anschließend vorschlug, waren sich alle einig: die Befragungen fortsetzen, wirtschaftliche Verbindungen durchleuchten, politische Widersacher unter die Lupe nehmen, Borns Vergangenheit, seine Jugend, seine Ehe, seine vorherigen Beziehungen … zum Schluss erwähnte Schäfer noch die schwarze Limousine, über die Frau Born hoffentlich Aufschluss geben konnte. Allerdings wollten sie die Witwe auch nicht zu sehr bedrängen, da sie mit den Vorbereitungen für die Beisetzung und den ganzen notariellen Angelegenheiten ohnehin schon unter Druck stand.

„Wann wird die Leiche freigegeben?“, wollte Kamp wissen.

„Ich rede heute mit Koller …“

„Wir dürfen die Säure nicht außer Acht lassen“, brachte sich Bergmann ein. „So einfach ist die auch nicht zu bekommen …“

„Wir werden alle relevanten Einrichtungen dahingehend überprüfen“, meinte einer der Verfassungsschutzbeamten und machte sich eine Notiz. „Wir sollten auch noch unsere IT veranlassen, uns einen geschützten Bereich im Intranet zu verschaffen, über den wir alle Informationen laufen lassen.“

„Kümmere ich mich darum und gebe euch dann Bescheid“, erwiderte Bergmann.

Zurück im Büro, rief Schäfer den Gerichtspsychiater an. Vielleicht konnte der ihm in Bezug auf das Tatmuster und den Charakter des Mörders weiterhelfen. Sie vereinbarten, sich nach Dienstschluss zu treffen, um sieben in einem Lokal im fünfzehnten Bezirk, zwei Häuser neben der Ordination des Psychiaters. Nachdem er aufgelegt hatte, nahm Schäfer ein paar Münzen auf dem Schreibtisch und begann, sie hin und her zu schieben. Eine reduzierte Art einer systemischen Aufstellung, hatte Bergmann einmal gemutmaßt, ein Austarieren der Energiefelder, ähnlich den morphogenetischen Feldern, die der Physiker Sheldrake … keine Ahnung, war Schäfers Antwort gewesen, auf dem Tisch ist es einfacher zu verschieben als im Kopf. Er platzierte Born als Zwei-Euro-Stück in der Mitte und umkreiste es mit einem Ein-Euro-Stück. Er musste ihn betäubt haben … sonst wäre die Sauerei am Tatort viel schlimmer gewesen … oder zuvor erschossen, erschlagen, erwürgt … Schäfer griff zum Telefon.

„Koller, du lüsterner Greis … Hör zu: Wäre es möglich, dass wir es mit zwei Tätern zu tun haben? … Dass ihn einer getötet hat und dann ein zweiter … Nur ein Gedanke … Weil mir die Vorgehensweise so unlogisch erscheint … Ach, und wann? … Na gut, dann komme ich da auch nicht weiter … Danke … Ja, wasch dir die Hände davor …“

„Was ist das für eine Theorie mit den zwei Tätern?“, wollte Bergmann wissen.

„Jetzt keine gute mehr … ich habe mir überlegt, ob wir dieses paradoxe Vorgehen vielleicht ganz einfach erklären können, wenn wir von zwei Tätern ausgehen: einer, der ihn niederschlägt … und der andere, der dann mit der Säure anrückt …“

„Aber?“

„Koller ist sich ziemlich sicher, dass Born an den Einwirkungen der Säure gestorben ist … allerdings braucht es noch irgendwelche Analysen … also müssen wir uns jetzt darauf konzentrieren, welche Symbolik hinter dieser Hirnaus­löschung steht …“

„Wenn es eine gibt …“

„Was denn sonst?“

„Eine falsche Fährte … eine absichtliche Inszenierung, um uns in die Irre zu führen …“

„Danke für die Motivation, Bergmann … hm, leider haben Sie recht. Das müssen wir in Betracht ziehen … wann sind Sie heute bei Frau Born?“

„Um zwei …“

„Vergessen Sie bitte nicht, sie nach dem schwarzen Mercedes zu fragen … und wann genau sie in den letzten Monaten in ihrem Landhaus war …“

„Hab ich mir schon notiert …“

„Sie sind ein Genie … ich gehe jetzt zur Spurensicherung, um mir Borns Pornosammlung anzusehen …“

„Viel Spaß“, erwiderte Bergmann und Schäfer war sich nicht sicher, ob er den anzüglichen Unterton in Bergmanns Stimme hineininterpretiert hatte oder nicht. Eher schon; sie hatten beide schon genug entsprechendes Material gesichtet, um zu wissen, dass sich dabei so gut wie nie auch nur ein Funken Erotik entzündete. Schäfer wollte sehen, was Born gesehen hatte. Rechtsextreme, Reaktionäre, Faschisten, Fundamentalisten … in den meisten Fällen verbargen sie in einem dunklen Winkel genau das, wogegen sie wetterten, wovor sie sich fürchteten, was sie aufregte und manchmal auch erregte.

Er holte sein Fahrrad aus der Tiefgarage und kettete es zehn Minuten später vor den Laboren der Spurensicherung an einen Laternenpfahl. Auf der Treppe in den ersten Stock begegnete er einem Biochemiker, den er seit gut zehn Jahren kannte und der ihn bei jedem Aufeinandertreffen ansah, als sei ihm sein Gegenüber völlig fremd. Wenn er es nicht wieder vergaß, wollte er den Gerichtspsychiater später zu diesem Phänomen befragen. Im Arbeitsraum der Forensiker roch es nach Strom, Chemie und Männern.

„Wollt ihr nicht einmal ein Fenster aufmachen, ihr Zombies?“ Schäfer trat hinter einen der Anwesenden, der gleichzeitig auf vier Bildschirmen arbeitete.

„Schäfer, du Kriminalfossil … was glaubst du, warum es in einem forensischen Labor eine spezielle Lüftung gibt, hä? Sporen, Verunreinigungen … sei froh, dass wir so was wie dich hereinlassen.“

„Jaja … also, wo sind die blonden Busenbomber in den SS-Uniformen?“

„Nichts dergleichen“, meinte der Techniker und zog einen Laptop heran, „da, dieser Ordner … da hinten ist ein freier Tisch, wo mein vierjähriger Sohn ab und zu sitzt … da kannst du nichts anstellen …“

Schäfer nahm den Laptop und setzte sich an den ihm zugewiesenen Schreibtisch. Nachdem er die ersten paar Bilddateien durchgesehen hatte, konnte er nicht anders als lachen. Born, der in unzähligen Ansprachen die Umvolkung der Österreicher wie ein Damoklesschwert über dem Land hatte pendeln lassen, stand offensichtlich auf Afrikanerinnen. Was Aussehen und Alter betraf, dürfte er nicht wählerisch gewesen sein: Korpulente Fünfzigjährige fanden sich auf der Festplatte ebenso wie gazellenhafte Frauen im jüngeren Alter. Ob eine der Abgebildeten minderjährig war, konnte Schäfer nicht beurteilen; doch als pädophil wollte er Born auf keinen Fall bezeichnen. Auch die gut fünfzig Filme waren vergleichsweise harmlos und, nach dem jeweiligen Vorspann zu urteilen, legal erhältlich. Also nichts, was sich nicht irgendwann auch auf den Festplatten so gut wie jeden geschlechtsreifen Mannes fand.

„Was ist mit seinem E-Mail-Verkehr?“, rief er seinem Kollegen zu.

„So gut wie gar nichts … diesbezüglich hat er wirklich noch zur alten Generation gehört“, antwortete der Techniker, trat neben Schäfer und öffnete einen weiteren Ordner.

„Die kannst du alle ins Mailprogramm ziehen … sind nicht einmal fünfzig.“

„Ist irgendwas gelöscht worden in den letzten Tagen?“

„Nein, deutet nichts darauf hin …“

„Danke …“

Schäfer las die E-Mails durch, die zu neunzig Prozent Antworten auf fremde Nachrichten waren. Borns Tochter, der Schachkollege, ein paar Namen, die Schäfer nicht kannte und in seinem Notizblock festhielt.

Er sah auf die Uhr. In einer Stunde hatte er seinen Termin. Und wenn er in der Praxis seines Therapeuten keinen Schwächeanfall erleiden wollte, musste er davor noch etwas essen. Er nahm den Laptop und stellte ihn seinem Kollegen auf dessen Schreibtisch zurück.

„Vielen Dank, R2-D2, und bis demnächst …“

„Ja, schleich dich …“

Schäfer sperrte sein Fahrrad auf und fuhr in Richtung seines Therapeuten. Auf halbem Weg hielt er bei einem japanischen Lokal, wo er sich in den Gastgarten setzte und eine Sushibox bestellte. Während er die Misosuppe löffelte, dachte er an Born und seine sexuellen Vorlieben. Hatte der Alte sich damit begnügt, sich auf die schwarzen Schönheiten einen herunterzuholen, oder gab es Kontakte, die darüber hinausgingen? Gab es eigentlich in Wien ein Bordell, das sich auf Dunkelhäutige spezialisierte? Aber das wäre zu riskant gewesen. Der Nazi im Afropuff … so blöd war nicht einmal Born, dass er dafür seinen Ruf aufs Spiel gesetzt hätte. Wie auch immer: Sie würden nicht umhin kommen, seine Frau deswegen zu befragen. Schäfer legte die Stäbchen ab und nahm sein Telefon.

„Bergmann … jetzt wird’s heikel. Nach dem zu urteilen, was ich auf Borns Computer gesehen habe, stand der alte Knabe auf die ganz und gar nicht arische Rasse … Genau … Und … Touché, Bergmann, Sie werden die Born etwas vor den Kopf stoßen müssen … Ganz dezent natürlich … Was soll ich Ihnen dafür schulden, ich bin Ihr Vorgesetzter … Die Flasche Muskateller? Die habe ich Ihnen doch längst schon … Na gut, Sie bekommen morgen zwei von diesem Tussigesöff … Danke, und viel Glück!“

Mit einem schadenfrohen Grinsen aß Schäfer sein Sushi fertig, bezahlte und machte sich auf den Weg. Die Uhr im Wartezimmer zeigte ihm, dass er eine Viertelstunde zu früh war. Das passierte in letzter Zeit häufig. Womöglich lag es an den fehlenden Zigaretten, deren Rauchzeit noch in seinem Zeitsystem gespeichert war. Er nahm sich ein medizinisches Journal und blätterte es durch, bis er auf einen Artikel über Gehirnschäden bei Gewaltverbrechern stieß. Bestimmt interessant, dachte er sich und legte das Magazin wieder beiseite, nachdem er in der ersten Spalte auf zu viele ihm völlig fremde Wörter gestoßen war. Die Tür zum Behandlungszimmer ging auf, der Therapeut bat Schäfer herein.

„Glauben Sie, dass Sie diese Ausbrüche so weit unter Kontrolle haben?“, fragte ihn der Therapeut, nachdem sie Schäfers Wutausbrüche der letzten Wochen besprochen hatten.

„Ich denke, ja … wenn es nicht schlimmer wird …“

„Ängstigt Sie das?“

„Ich mich selbst? … Nein, manchmal ist es mir peinlich … ich meine: Ich soll ein Vorbild für die Gesellschaft sein … und da macht es sich nicht so gut, wenn ich jugendliche Migranten als stinkendes Tschuschenpack beschimpfe …“

„Das haben Sie getan?“

„Ja … ich weiß nicht, woher diese Ressentiments plötzlich kommen … gleichzeitig geht es mir so gut wie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr …“

„Man könnte sagen, Sie fühlen sich besser … im doppelten Sinne …“

„Genau“, Schäfer lächelte, „ich fühle mich zurzeit wirklich besser als die meisten anderen … das nennt man wohl Überheblichkeit.“

„Solange Sie niemandem Schaden zufügen, sollten Sie sich darüber keine zu großen Sorgen machen. Natürlich wäre es besser, wenn Sie sich in dieser Umstellungsphase mehr Zeit für sich nehmen und Konflikten so weit wie möglich aus dem Weg gehen … aber das ist wohl wenig realistisch, oder?“

„Was soll ich tun? Die Menschen hören einfach nicht auf, sich umzubringen … und ich verstehe es auch … ich bin darin ausgebildet, meine Wut nicht in blinde Aggression umschlagen zu lassen, aber …“

„Vielleicht hilft es Ihnen, wenn Sie verstehen, was zurzeit in Ihrem Kopf vorgeht …“

„Ich weiß ziemlich genau, was da oben vorgeht … ist schließlich mein Kopf …“

„Ich meine eher den medizinischen Aspekt … Ihr limbisches System, also der Teil in Ihrem Gehirn, in dem sich wesentliche Prozesse abspielen, die Ihr Gefühlsleben betreffen … schon minimale Änderungen im Stoffwechselhaushalt dieses Systems wirken sich massiv auf Ihr Empfinden aus … und die Medikamente, die ich Ihnen verschrieben habe, greifen ebendort ein …“

„Sie meinen, ich habe meine Tage … nur viel länger …“

„Vereinfacht ausgedrückt, ja“, sagte der Therapeut und musste lachen, „nur ist es bei Ihnen nicht das Östrogen, sondern das Serotonin, das Noradrenalin und andere körpereigene Chemikalien …“

„Kann das schlimmer werden? Ich meine: Ist es möglich, dass ich die Kontrolle über mich verliere? Immerhin trage ich eine Waffe …“

„Stellen Sie sich das wie eine Badewanne vor, in die Sie warmes Wasser einlaufen lassen. Bisher hat bei Ihnen sozusagen der Stöpsel gefehlt und das Wasser ist einfach ausgelaufen. Mit den Medikamenten haben wir den Abfluss verstopft. Jetzt geht es Ihnen besser, weil Sie entspannt baden können. Aber ganz genau geregelt sind die Zuflussgeschwindigkeit und der Überlauf eben noch nicht … Sie sind dabei, sich an einen neuen Zustand anzupassen … das braucht Zeit … und die Medikamente helfen Ihnen dabei, aber die Therapie und Ihr Umgang mit sich selbst sind mindestens ebenso wichtig …“

„Was soll ich tun?“

„Beobachten Sie sich … achten Sie darauf, aus welchen Anlässen Sie jähzornig werden … welche Situationen und welche Personen eine Rolle spielen … und wenn Sie auf Distanz zu sich selber gehen können, wird es Ihnen auch gelingen, sich besser zu kontrollieren.“

„Also soll ich keine zusätzlichen Medikamente nehmen?“

„Nein, würde ich vorerst nicht … aber wenn Sie das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren, melden Sie sich umgehend.“

Als Schäfer ins Kommissariat zurückfuhr, bewegten sich seine Gedanken so schnell, dass er ihnen nicht folgen konnte. Dieses ganze Gerede über sein Gehirn hatte ihn wirr gemacht. Und am Abend sollte er noch dazu den Gerichtspsychiater treffen, um abermals über diese seltsame Substanz zu reden, die ihn so unter ihrer Fuchtel hatte. Er sollte lieber mit ein paar Kollegen Billard spielen gehen und sich ein Bier zu viel genehmigen. Das hatte die Dinge schon oft ins Lot gebracht. Auf dem Gürtelradweg blieb er bei einer Bank stehen, setzte sich hin und rief Isabelle an. Sie meldete sich nicht, also sprach er ihr auf die Mailbox. Ab neun wäre er zu Hause.

„Wo ist mein Wein?“, begrüßte ihn Bergmann.

„War es so schlimm?“ Schäfer tätschelte seinem Assistenten die Schulter.

„Na ja … was sie gesagt hat, war das eine: Was uns einfiele, mit solchen obszönen Verdächtigungen das Andenken ihres Mannes in den Dreck zu ziehen, blablabla … aber das hatte eindeutig was Theatralisches und sie musste sich sehr anstrengen, überrascht zu wirken … ich glaube, dass sie eine Ahnung hatte und die einfach ganz weit hinten in ihrem Gehirn abgelegt hat …“

„Jetzt fangen Sie auch schon mit dem Gehirn an … was für eine Ahnung?“

„Weiß ich nicht … eine Geliebte … dass er zu den Nutten gegangen ist …“

„Was ist mit dem Auto?“

„Konnte sie gar nichts dazu sagen … schwarze Limousinen würden dort ständig verkehren, schon möglich, dass ihr Mann einmal von einem Freund besucht worden ist, der so ein Auto besitzt …“

„Da kann ich ihr nicht unrecht geben … haben Sie die Tage, an denen sie am Semmering war?“

„Nein … hat sie noch nicht geschafft … und jetzt könnte es wohl etwas länger dauern …“

„Bergmann … dass Sie immer in jedes Fettnäpfchen treten müssen …“

„Das ist ja wohl die Höhe. Sie haben …“

„War doch nur ein Scherz … darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee machen, Herr Kollege?“

„Lieber wäre mir ein Tee.“

Kurz vor sechs kam Leitner vorbei und berichtete über die Ergebnisse seiner Befragungen. An Feindschaften hatte es Born auf keinen Fall gemangelt. Aber keine der Personen, deren Namen im Laufe der Gespräche gefallen waren und die er anschließend überprüft hatte, entsprach im Entferntesten jemandem, der zu so einem Verbrechen fähig war. Er legte Schäfer eine Liste auf den Schreibtisch, die dieser höflichkeitshalber überflog.

„Was ist mit dem Dings, dem Studenten?“

„Xaver Plank … der kommt morgen Vormittag … sieht das alles offensichtlich sehr entspannt.“

„Na gut … gibt’s von Strasser etwas Neues?“

„Ähm … mir hat er nichts erzählt …“

„Erste Ergebnisse morgen Mittag“, erklärte Bergmann, „bisher hat er nichts gefunden.“

Nachdem Leitner das Büro verlassen hatte, lehnte Schäfer sich zurück und schloss die Augen.

„Wenn wir ehrlich sind, dann haben wir noch gar nichts“, meinte er gähnend, „also nichts, was wir uns nicht zusammenreimen können.“

„Er ist ja auch erst vorgestern umgebracht worden …“

„Stimmt“, gab Schäfer verwundert zu, „kommt mir schon viel länger vor.“

Um sieben verließ er das Kommissariat, um sich mit dem Gerichtspsychiater zu treffen. Wie er es geahnt hatte, war er mit dem Treffen überfordert. Was der Mann aus der vollständigen Zerstörung des Gehirns alles ableiten konnte … der Sitz der Seele in Gehirn oder Herz, Bräuche der Kannibalen, Rituale der Maya, Experimente der Nazis … und wie half ihm das bitte bei der Tätersuche weiter? Schäfer war froh, als ein Kollege des Psychiaters das Lokal betrat und sich zu ihnen an den Tisch setzte. Er bestellte noch ein kleines Bier, um nicht unhöflich zu erscheinen, und ließ die beiden schließlich allein.

Der bessere Mensch

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