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Wer die Formel der «fremden Richter» aufgeladen hat

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Im Kampf gegen den Beitritt zum EWR erlangte der Topos der «fremden Richter» eine hohe Bedeutung, beziehungsweise: Sie wurde ihm gegeben. Die ursprüngliche Bedeutung, wie im vorangegangenen Kapitel umschrieben, spielte dabei überhaupt keine Rolle. Die «fremden Richter» wurden zur Chiffre für auswärtige Einwirkung unterschiedlicher Art, von Regulierungen durch «Brüssel» bis zur «Überschwemmung» des Landes durch fremde Arbeitskräfte und zum Lastwagentransit.

Nationalrat Christoph Blocher (SVP/ZH) nutzte seine vierte Albisgüetli-Rede vom 24. Januar 1992 zur Eröffnung seines Kampfs gegen den EWR-Beitritt und setzte dabei die später gebetsmühlenartig wiederholte Formel ein: «Haben wir 700 Jahre lang gegen ‹fremde Richter› gekämpft, haben wir uns 700 Jahre lang für eigene Richter eingesetzt, um jetzt plötzlich unsere Freiheit nicht nur gegen fremde Richter, sondern auch gegen fremdes Recht einzutauschen? So viel Verlust an Souveränität, an demokratischen Rechten, so viel Verlust an Selbstbestimmung lassen wir uns nicht gefallen!»62 Wie dargelegt, war die Inanspruchnahme eines 700-jährigen Widerstands falsch, Blocher knüpfte, was naheliegend war, an die im Vorjahr mit grossem Aufwand zelebrierten 700-Jahr-Feierlichkeiten an.63

Die «fremden Richter» waren – auch bei Blocher – bloss eine historische Figur fremder Mächte, die später in der nationalrätlichen EWR-Debatte auch als «neuzeitliche Vögte» mit Namen wie Delors, Mitterand und Kohl versehen wurden.64 Zutreffend interpretierte der deutsche Politikwissenschaftler Ralf Langejürgen, der eines der besten Bücher zur schweizerischen Europapolitik um 1990 verfasst hat, die «fremden Richter» als Teil eines breit angelegten «Widerstandsmythos», der einerseits mit dem Griff nach dem 13. Jahrhundert eine historische Kontinuitätslinie konstruierte, andererseits damit aber auch eine Parole zur Abwehr aktueller Überflutung insbesondere durch Arbeitslose zur Verfügung stellte.65

Nicht bemerkt hat Langejürgen jedoch: Der Aufruf zum Widerstand knüpfte an einen weiteren Topos an, und zwar an die gängige Losung von «Anpassung oder Widerstand» aus der Zeit der Bedrohung durch NS-Deutschland.66 Mit der Betonung des belasteten Worts der Anpassung konnte eine kooperative Haltung dem Projekt der Europäischen Gemeinschaft (EG) gegenüber diskreditiert werden. Blocher beschwor die Anpassung in der Rede vom Januar 1992 gleich zu Beginn und gleich mehrmals als Gefahr und betonte, dass sie nicht neu, sondern eben eine Wiederholung sei: «Ein weiteres Mal in der Geschichte unseres Landes ist überall von ‹Anpassung› die Rede. Anpassung sei das Gebot der Stunde. Anpassen müsse man sich an die Zeit und Umstände.»67 Anpassen woran? Bezeichnenderweise präsentierte Blocher die folgende Reihe negativer Gegebenheiten: anpassen an veränderte Drogensitten, an die stetig steigende Kriminalität, an missliche Asylpolitik – und vor allem an Europa beziehungsweise an die EG!

Entgegen der Gepflogenheit, Abstimmungskampagnen erst nach der Beratung der Vorlage durch das Parlament zu lancieren, hatte Blocher die Kampagne bereits im Januar 1992 eröffnet. Der Vertrag war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht abgeschlossen; dies sollte erst am 2. Mai 1992 der Fall sein. Die weitere Entwicklung stärkte Blochers Position. Der geplante EWR wurde zu einem Modell einseitiger Anpassung, weil der EuGH den Efta-Mitgliedern im EWR kein Ko-Entscheidungsrecht in strittigen Fragen des Europarechts zugestand und auf einer alleinigen Auslegung beharrte (Stichwort: Autonomie des Unionsrechts). Jacques Delors, Präsident der EU-Kommission, hatte bereits im Januar 1990 in seiner Jahresrede vor dem Europäischen Parlament dazu erklärt: «La codécision ne peut en effet résulter que de l’adhésion pleine et entière et donc de l’acceptation de l’ensemble du contrat de mariage.»68 Auf Antrag der Kommission wurde dies vom EuGH am 14. Dezember 1991 entschieden und am 14. April 1992 nochmals bestätigt.

Der Entscheid vom Dezember 1991 zog den Schweizern, die erwarteten, dass für den EWR ein gemeinsames EG/Efta-Gericht geschaffen würde, den Boden unter den Füssen weg. Der EG-freundliche Brüsseler Korrespondent Jörg Thalmann meinte, die «fremden Richter» würden «fremden». Er zeigte zwar Verständnis dafür, dass die EG eine einheitliche Rechtsprechung als «Kitt» für den Zusammenhalt brauche, und er erblicke in ihr (anders als die später gepflegten Bilder vom Monster) ein noch junges und schwaches Gebilde. Die EG müsse aber nicht nur sich selbst dienen, sie müsse heute weit über ihre Grenzen hinaus eine Ordnung gestalten und darum in den Aussenbeziehungen auch Kompromisse eingehen und ein «besonderes Nahverhältnis» aufbauen.69

Die auf schweizerischer Seite erwartete Gleichstellung der Partner im EWR-Vertrag und ein entsprechendes Mitentscheidungsrecht in strittigen Auslegungsfragen erwiesen sich als Illusion. Auf Delors’ Erklärung vom Januar 1990 gemünzt, erlaubte sich der schweizerische Aussenminister Wochen später in der Presse die wenig diplomatische Bemerkung, man sei es in der Schweiz nicht gewohnt, mit Leuten zu tun zu haben, die alle Jahre ihre Meinung änderten.70 Was blieb, war die Aussicht, in einem «Gemischten Ausschuss» bei geplanten EU-Gesetzen, die auch den EWR betrafen, im sogenannten «Decision Shaping» seine Meinung abzugeben. Ob die ernüchternde Erfahrung in der Öffentlichkeit zu einer Reaktivierung der «fremden Richter» führte, muss offenbleiben. Jedenfalls hätte die EWR-Mitgliedschaft bei strittiger Auslegung des betroffenen EU-Rechts die «Auslieferung» der Schweiz an das fremde Gericht bedeutet.


Die Bundesräte Adolf Ogi und Arnold Koller in der EWR-Debatte vom 20. November 1992 im Bundesbriefarchiv, vor dem Wandbild des Rütlischwurs. Die Abwehr gegen aussen war mit der Ablehnung auch der eigenen Regierung verknüpft.

Insofern als man dem Parlament eine meinungsbildende Funktion zuschreiben möchte, muss man sagen, dass es in diesem Fall spät, ja zu spät agierte. Ausgangspunkt der Beratungen war die bundesrätliche Botschaft vom Mai 1992. Darin musste der Bundesrat darlegen, dass der EuGH die Auslegungshoheit vor «nationalen Richtern» habe, er hütete sich aber, auf den Topos der «fremden Richter» einzugehen.71

Dieser Topos umfasste weit mehr als einzig die Richterfrage. An ihm haftete die ganze Gründungsgeschichte. Ein rechtsnationaler Volksvertreter vermisste in der bundesrätlichen Botschaft nicht die Ablehnung der «fremden Richter», ihm fehlte anderes, und das wollte Hans Steffen (SD/ZH) in seinem Votum nachtragen. Er erklärte, sich «einige Gedanken» zu Fragen gemacht zu haben, die in der Botschaft des Bundesrates nicht abgehandelt seien, und begann davon zu reden, dass er als Primarschüler in der Heimatkunde die Erzählung vom Schmied von Göschenen (von Robert Schedler, 1920) gelesen habe, der um 1240 den stiebenden Steg durch die Schöllenenschlucht gebaut habe, und dass es einen Kampf zwischen den drei Alten Orten und dem dynamischen Hause Habsburg um die Herrschaft über den Gotthardweg gegeben habe.72

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