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Woher der Begriff «fremde Richter» kommt

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In der Verwendung der Formel «fremde Richter» lassen sich drei Grundtypen unterscheiden: Entweder wird sie einfach und ohne weitere Reflexion als gegeben genommen, oder sie wird bewusst als verpflichtendes Erbe der «Gründungscharta» des 13. Jahrhunderts verstanden. Und dann gibt es diejenigen, die von ihr reden, weil sie finden, dass man die Formel nicht verwenden sollte. Auch von ihnen wird im Lauf dieser Ausführungen die Rede sein. Zunächst geht es hier aber um den historischen Hintergrund des bekannten Bezugspunkts.

Die Formel «fremde Richter» wird dem auf Anfang August 1291 datierten Bündnis entnommen.3 Dieses Dokument ist 1891 zum Bundesbrief erhoben und damit zur Gründungscharta der Eidgenossenschaft gemacht geworden.4 Gemäss diesem Dokument beanspruchten die Stände Uri, Schwyz und Unterwalden tatsächlich ein Richterprivileg: In den urschweizerischen Tälern sollte kein Richter angenommen werden, «der das Amt irgendwie um Geld oder Geldeswert erworben hat oder nicht unser Einwohner oder Landsmann ist». Ähnlich statuierte es bereits eine wenige Monate zuvor von König Rudolf von Habsburg den Schwyzern am 19. Februar 1291 in Baden ausgestellte Urkunde.

Bruno Meier betont, der Bund von 1291 sei kein hochpolitischer, gegen Habsburg-Österreich gerichteter Bund gewesen, wie man dies insbesondere in den bedrohlichen Zeiten während des Zweiten Weltkriegs gerne sah.5 Richter und Vogt, Judikative und Exekutive im modernen Sinn, sind in dieser Zeit nicht zu trennen, eine Gewaltenteilung war inexistent. Wenn die Schwyzer eigene und keine gekauften Richter wollten, dann beanspruchten sie eine direkte Beziehung zum König ohne eine Zwischengewalt. Es ging also mehr um Selbstbestimmung nach innen als um die Abwehr «fremder Richter». Wie Clausdieter Schott erläutert, leiteten die Landvögte, die als Richter bezeichnet wurden, das gerichtliche Verfahren bloss, während ausgewählte Landleute die Urteile fällten.

Bis weit ins 19. Jahrhundert konnte es schon deswegen keine autoritativen Bezüge auf die Bundesformel der «fremden Richter» geben, weil das auf das Jahr 1291 datierte Dokument nicht bekannt war. Bekannt war der Bund von Brunnen von Dezember 1315, der immer als der erste Bund gegolten hatte. Die wiederholte Behauptung, man habe während 700 Jahren gegen «fremde Richter» gekämpft, ist falsch, wie ja auch die Behauptung völlig falsch ist, dass «seit Jahrhunderten» das Volk die oberste Instanz sei, wie Christoph Blocher immer wieder herausstreicht und auch an der Albisgüetli-Tagung 2016 betonte.6

Bezeichnenderweise kommt der erst später bekannt gewordene Topos im berühmten Drama «Wilhelm Tell» (1804) nicht vor. Der deutsche Nationaldichter Friedrich von Schiller (kein «fremder Richter», aber eigentlich ein fremder Dichter) lässt den Schwyzer Stauffacher in der Rütliszene (ein Mondregenbogen im Hintergrund), zweiter Aufzug, zweite Szene, immerhin das Folgende deklamieren: «Unser ist durch tausendjährigen Besitz / Der Boden – und der fremde Herrenknecht / Soll kommen dürfen und uns Ketten schmieden, Und Schmach antun auf unsrer eignen Erde?»

Christoph Blocher, von Student Damian Rossi 2013 befragt, war der Meinung, das Wort der «fremden Richter» stamme von Schiller, und dieser habe sich auf den Bundesbrief von 1291 gestützt.7 In Schillers Drama ist aber nicht von «Richtern» die Rede, und das Dokument von 1291 dürfte ihm höchstwahrscheinlich unbekannt gewesen sein. Es war zwar 1760 vom Basler Gelehrten Johann Heinrich Gleser publiziert und 1780 von Johannes von Müller in seiner «Schweizer Geschichte» registriert worden, erhielt aber erst nach 1804 einen kanonischen Platz in der Geschichtsschreibung. Damals bildete einzig der legendäre Rütlischwur von 1307 und noch nicht der «Brief» von 1291 den vermeintlichen Ausgangspunkt der Eidgenossenschaft.8

Von «fremden Richtern» hätte allenfalls die Rede sein können, sofern die Formel gegen Ende des 15. Jahrhunderts geläufig gewesen wäre, als das Verhältnis zu dem 1495 geschaffenen Reichkammergericht geklärt werden musste. Da ging es aber um Reichsrecht und nicht um internationales Völkerrecht, das es als solches noch gar nicht gab. Im Frieden von Basel von 1499 erzielten die Eidgenossen die grundsätzliche Befreiung vom Reichskammergericht. Einzelne Eidgenossen wandten sich aber zum Missfallen ihrer Obrigkeiten dann und wann trotzdem an diese Instanz, zum Beispiel an das in Rottweil eingerichtete Reichsgericht.

Die vollständige Befreiung (Exemption) kam erst im Westfälischen Frieden von 1648 zustande. Bis dahin sah sich die Eidgenossenschaft mehr oder weniger selbstverständlich als Teil des Heiligen Römischen Reiches.9 Aber es gab auf eidgenössischer Seite einen geringeren Bedarf und offenbar eine andere Grundeinstellung zur Frage der Konfliktbeilegung und zur «Verdichtung» der Reichsverfassung: Das Gebiet der Eidgenossenschaft war weniger Unruhen ausgesetzt, zudem zog sie politische Lösungen den langwierigen und teuren Rechtsprozeduren vor.10

Erst zu jenem Zeitpunkt, also in den westfälischen Friedensverhandlungen, setzte der eidgenössische Gesandte unter dem Einfluss Frankreichs, das die schweizerische Ablösung vom Reich und damit indirekt von Habsburg-Österreich betrieb, auf nationale Souveränität. Ein Streit um «eigene» oder «fremde Richter» war dies nicht, und in der heutigen Debatte über nationale und supranationale Zuständigkeiten bildet dieser Teil der Geschichte bezeichnenderweise keinen aufgeladenen Bezugspunkt.


Vogt und Richter in gemeinsamem Verfahren: Der eine beaufsichtigt, die anderen urteilen. Rat und Gericht zu Bern versammeln sich 1470, um den sogenannten Twingherrenstreit beizulegen (vgl. HLS). Abbildung von 1483 aus der «Amtlichen Berner Chronik» von Diebold Schilling.

Wir verfügen nicht über den Überblick, der uns zuverlässig Auskunft gibt, wie sich politische Voten in den letzten Hundert Jahren seit 1891 auf die Ablehnung «fremder Richter» als wegleitendes Gebot bezogen. Im Rahmen der Feierlichkeiten von 1891 wurde die Ablehnung «fremder Richter» nicht hervorgehoben. Wenn am 1. August 1891 auf dem Festplatz von Schwyz und am 2. August 1891 auf dem Rütli von der Befreiung vom «fremden Joch», von «fremder Gewalt», und der Wahrung «eigener Rechte» die Rede war, dann entsprach dies dem bereits geläufigen Narrativ des Freiheitsepos.11 Für die Erfassung der heutigen Bedeutung des Topos ist dies insofern relevant, als es zeigt, dass die Formel von 1291 nicht per se Wichtigkeit hat, sondern in bestimmten Kontexten und mit bestimmten Absichten wichtig, ja hochwichtig gemacht werden kann. Dazu hätte es einer elementaren Voraussetzung bedurft: Es hätte ausser- oder oberhalb der Schweiz Gerichtsbarkeiten geben müssen, die für die Schweiz oder eine schweizerische Konfliktpartei aus bestimmten Gründen hätten wichtig werden können. Diese gab es vorerst aber nicht.

Würde man vom Bild der «fremden Richter» annehmen, dass es ein wichtiges Element der «imagologischen Bastelei» des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei, würde man durch genaues Hinschauen eines anderen belehrt.12 Sucht man in der entsprechenden Literatur nach dem Begriff, fällt auf, dass er nicht vorkommt. Der Abgrenzungsdiskurs konzentriert sich auf die Bekämpfung der Tyrannen. In Ursula Meyerhofers Studie zur nationalen Integration der Jahre 1815–1848 dominiert die Binnenproblematik des Kampfs zwischen der fortschrittlichen und der konservativen Schweiz.13 Und gemäss der Arbeit von Sascha Buchbinder halten sich die um 1900 tätigen Historiker Wilhelm Oechsli, Johannes Dieraurer und Karl Dändliker in ihren populären Geschichten der Schweiz bei den «fremden Richtern» überhaupt nicht auf.14

Im Falle Oechslis ist dies umso bemerkenswerter, als ihm Erbfeindschaft und Fremdheit zur Abgrenzung vom Eigenen wichtig sind. Die bösen Anderen, das sind die Landesfürsten im Allgemeinen und die Habsburger im Besonderen, nicht gemeint aber ist das Reich. Oechsli: «Vom Kaiser, vom Reich abhängig zu sein, hiess damals so ziemlich sein eigener Herr sein.»15 Die «fremden Richter» könnten etwa seit 1900 immer wieder mal ein Thema in 1.-August-Reden gewesen sein. In der vorhandenen Literatur weist aber nichts darauf hin.16 Einen klassischen Richterbeleg lieferte viel später der SVP-Mann Ueli Maurer in seiner 1.-August-Rede von 2013, die er als Bundespräsident hielt: «Schon im Bundesbrief steht: Wir wollen keine fremden Richter. Mit diesem Grundsatz sind wir bis jetzt gut gefahren.»17

Stichproben zeigen, dass selbst in der Zeit der Geistigen Landverteidigung (insbesondere der Jahre 1930–1945) diese Formel nicht im Vordergrund stand.18 Der Historiker Karl Meyer, der später an der Universität Zürich lehrte, widmete 1929 dem Richterartikel zwar einen Aufsatz, dabei war ihm aber die chronikalische Rückführung auf frühere Formulierungen wichtiger als die Betonung der Jurisdiktionshoheit.19 Und in seinen populären Schriften von 1941 zum 650-Jahr-Jubiläum hob er nicht die Ablehnung «fremder Richter» hervor, sondern das den eigenen Untertanen auferlegte Verbot, sich an externe Gerichte zu wenden: «Vor allem aber musste verhindert werden, dass irgend eine schuldige oder unterlegene Urschweizer Prozesspartei, Habsburgfreunde oder schon bloss Querulanten, dem inländischen Richter einen Streit vorenthielten oder dem von ihm ausgesprochenen Urteil sich widersetzten und den Fall nach auswärts […] zogen.»20 Meyer konnte bei der damaligen Bedrohung durch die totalitären Nachbarn ohne «fremde Richter» auskommen und sich damit begnügen, die zähe, trotzige, furchtlose und opferfreudige Abwehrbereitschaft der Eidgenossen zu beschreiben.21 Die offizielle Schrift zur «Bundesfeier 1941» kam ebenfalls ohne die «fremden Richter» aus.22

Keine Mühe hatte man in der Schweiz mit der Schiedsgerichtsbarkeit in internationalen Konflikten, zumal man da auf eine lange innenpolitische Tradition zurückblicken konnte.23 Schon vor 1914 war die Schweiz eine entschiedene Befürworterin dieser Art von Konfliktregelung. Schiedsgerichte gab es bereits im 14. Jahrhundert für Konflikte, die unabhängig von obrigkeitlichen Instanzen und ohne entsprechende territoriale Begrenzungen gemäss privater Vereinbarung der Streitschlichtung dienten.24 Marcel Senn konnte darum im Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) festhalten: «Das Schiedsgericht diente v. a. Kaufleuten und Händlern, die zwischen verschiedenen Hoheitsgebieten und Rechtsordnungen ein ökonomisch kalkulierbares Beziehungsnetz aufrechterhalten wollten.»25 Ob es Schiedsverfahren zwischen öffentlichen oder privaten Stellen waren, ihrem Wesen war eigen, dass neben den beiden Parteirichtern der dritte, gemeinsame Richter (der Obmann) stets ein «fremder Richter» war, ja sein musste.26 «Fremd» war er allerdings insofern wiederum nicht, als die Streitparteien sich auf ihn geeinigt und ihn sich so zu eigen gemacht hatten. Das konnte man auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg sagen, hingegen nicht vom Europäischen Gerichtshof (EuGH), weil dieser, wenigstens was das Rechtssystem betraf, in eigener Sache urteilte. Auf gesamteidgenössischer Ebene setzte sich die Schiedsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert durch.27

1947/48 berieten die eidgenössischen Räte den Beitritt der Schweiz zum Internationalen Gerichtshof der UNO und hiessen ihn mit starkem Mehr gut, der Nationalrat mit 95:0, der Ständerat ebenfalls ohne Gegenstimme.28 Die «fremden Richter», die man sich mit diesem Entscheid einhandelte, wurden nicht thematisiert, obwohl damit zu rechnen war, dass sich auch die Schweiz einer derartigen Gerichtsbarkeit unterziehen müsste. Nationalrat Karl Renold (BGB/AG) führte als Berichterstatter rein sachlich und nicht im Sinne einer beruhigenden Versicherung aus, dass auch die Schweiz, obwohl kein Mitglied der UNO, dem Gericht angehören könnte, wenn Sicherheitsrat und Generalversammlung eine entsprechende Empfehlung abgäben. Die näheren Bedingungen seien aber noch nicht festgelegt und würden erst umschrieben, wenn weitere Nichtmitgliedstaaten der UNO Mitglied des Gerichtshofs würden.29 In dieser Debatte wurde mehrfach betont, wie vertraut die Schweiz mit Schiedsgerichtsverfahren sei. Antoine Favre (CVP/VS) zum Beispiel erklärte: «[…] l’idée d’une jurisdiction internationale répond à un idéal qui a toujours été le nôtre. La Suisse possède une expérience plusieurs fois séculaire dans le domaine de l’arbitrage.»30

Um gegen «fremde Richter» im modernen Sinn zu sein, musste es Gerichte mit Zuständigkeit für die Schweiz geben. Das war aber, von den internationalen Schiedsgerichten abgesehen, erst seit 1974 der Fall.

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