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Frühe Abwehr – zweite Runde

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Als es in der zweiten Runde von 1974 um den nun beabsichtigten Beitritt zur EMRK ging, waren die «fremden Richter» wiederum sehr präsent, ja noch stärker als 1969. Der Bundesrat, der in seinem Bericht von 1968 gar nicht auf den Topos eingegangen war, hielt es jetzt für nötig, sich in seiner Botschaft von 1974 dazu zu äussern. Zum einen widersprach er explizit den Versuchen, «den alten Bündnisvertrag von 1291 heraufzubeschwören, der die Verpflichtung enthielt, nur heimische Richter anzuerkennen»; zum anderen betonte er, wie schon Masoni 1969, dass es um eine freiwillige Beteiligung an der Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes gehe, was «keineswegs als Unterwerfung unter fremde Richter angesehen werden» könne.46

In dieser Runde äusserten sich Befürworter des EMRK-Beitritts sozusagen vorweg zur Berechtigung des Vorbehalts gegen «fremde Richter». Ständerat Raymond Broger (CVP/AI) ging gleich zu Beginn der Debatte auf diesen «Slogan» ein, um zu betonen, dass sich die heutigen Verhältnisse «sehr drastisch und wesentlich» von jenen um 1291 unterscheiden würden. «Unser Land ist nicht mehr ein weltabgelegenes Gebiet, in dem sich eine genossenschaftliche Freiheit gegenüber feudalistischer Bedrängnis halten konnte, sondern unser Land ist zwar noch ein Kleinstaat, aber ein solcher, der weltpolitisch eine eigentliche Handelsmacht bedeutet und zu überaus zahlreichen Ländern sehr intensive Beziehungen pflegt.»47

Broger mass den Strassburger Entscheiden allerdings einen zu unverbindlichen Charakter bei, wenn er sagte: «Im vorliegenden Fall kann von einem fremden Richter überhaupt nicht die Rede sein. Wir unterstellen uns auf eine beschränkte Zeit einer Pseudo-Jurisdiktion der Europäischen Kommission für Menschenrechte. Diese Kommission hat keine eigentliche richterliche Funktion. Sie beschränkt sich in Streitfällen auf die Feststellung von Tatsachen; sie strebt eine gütliche Einigung an und gibt allenfalls Empfehlungen an die Staaten ab, die ratifiziert haben, selbstverständlich Empfehlungen, die man freiwillig befolgt nach dem Grundsatz: pacta sunt servanda. […] Eine Einschränkung unserer Souveränität ist von dieser Seite her nach meiner Auffassung nicht im geringsten zu befürchten.»48

Berichterstatter Walter Renschler (SP/ZH) hielt später im anderen Rat zutreffend fest: «Ferner sind die Urteile des Gerichtshofes und die Entscheide des Ministerkomitees zwar verbindlich, aber sie haben keine kassatorische Wirkung, und sie sind nicht unmittelbar durchsetzbar.»49

Das für den konservativen Ständeherrn Broger bemerkenswerte Votum wurde in ähnlicher Weise sekundiert durch Ständerat Mathias Eggenberger (SP/SG), der ebenfalls den «wesentlichen» Unterschied von damals und heute betonte: «Jene Richter sollten uns von aussen, von einer fremden Rechtsauffassung her, aufgezwungen werden; wir entscheiden völlig autonom und frei über den Beitritt zur Konvention und damit auch zur Anerkennung des europäischen Gerichtshofes.»50 Schliesslich verstärkte Bundesrat Pierre Graber (SP/NE) indirekt das Bild der «fremden Richter», indem er den Beitrittsgegnern vorwarf, sich unter dem Banner der Ablehnung der «fremden Richter» versammelt zu haben («ses adversaires se rangeant sous la bannière de l’opposition aux juges étrangers»).51

Auch im Nationalrat kam die erste Erwähnung der «fremden Richter» von einem Befürworter des Beitritts zur Konvention. Nationalrat Claudius Alder (LdU/BL): «Der Beitritt bedeutet daher sicher keine rechtsstaatliche Revolution, sondern ist gewissermassen eine Selbstverständlichkeit. Die Bedeutung der Konvention für unseren Rechtsalltag darf daher auch nicht überschätzt werden. Die bösen Töne vom fremden Recht und den fremden Richtern, die uns mit der Konvention aufoktroyiert würden, können wir uns nur mit totaler Unkenntnis jener, die sie verbreiten, erklären, oder aber, diese Variante unterstelle ich lieber nicht, mit einem bewussten Störmanöver gegen unseren Rechtsstaat. Wir dürfen uns von diesen Tönen nicht beeindrucken lassen.»52

Diese Störtruppe hatte ihr Lager vor allem im Nationalrat. Und da taten sich insbesondere wiederum James Schwarzenbach (Rep./ZH) und zusätzlich Werner Reich (NA/ZH) hervor. Schwarzenbach erklärte in gespielter Tiefstapelei, sich zu entsinnen, «einmal gehört zu haben», der eidgenössische Bund sei entstanden, weil er keine «fremden Richter» und keine fremde Einmischung dulden wollte. Er übernahm aus der Debatte von 1969 wörtlich Hofers Formulierung, dass die Figur des «fremden Richters» in uns «tiefe Schichten des historischen Bewusstseins» aufwühle. Konkreter störten ihn aber die Individualbeschwerde und die «neuerliche Beschneidung unserer garantierten Souveränität». Im Weiteren war er der Meinung, ein Gang nach Strassburg, den er als «Gang nach Canossa» bezeichnete, würde sich erübrigen, wenn man selbst gute Richter habe: «Wenn wir uns aus Gründen der Wahrung unserer verbrieften Rechte nicht fremden Richtern unterstellen wollen, dann haben wir dafür besorgt zu sein, dass unsere Richter auch wirklich gute Richter sind und dem Staatsbürger garantieren, was ihm die Menschenrechtskonvention verspricht.»53 Und Nationalrat Reich lehnte den EGMR ab, weil er fremd und supranational sei und ihm mehr Rechte zuerkannt würden als dem eigenen Bundesgericht.54

Auf das Votum Reich eingehend, bemerkte Walter Renschler (SP/ZH) in seiner Eigenschaft als Berichterstatter: «[Es ist] völlig falsch, immer wieder mit dem emotionsgeladenen Schlagwort vom ‹fremden Richter› zu kommen. Darum geht es nun hier wirklich nicht; dieser Vergleich mit dem ‹fremden Richter› ist unzutreffend. Im Gegensatz zu den fremden Richtern zur Zeit der alten Eidgenossenschaft ersetzt die Europäische Menschenrechtskonvention unsere Rechtsordnung nicht durch fremdes Recht.»

Wie zu erwarten, wurden die wenigen Verurteilungen, die der Schweiz durch Entscheide des EGMR widerfuhren, von der politischen Rechten genutzt, um gegen die «Unterwerfung unter Strassburg» zu protestieren. 1987 reagierte die aus der Ablehnung der UNO-Mitgliedschaft von 1986 hervorgegangene AUNS auf das Strassburger Urteil im Fall F. zu einem Heiratsverbot mit dem Kommentar: «Es sind die fremden Richter in Strassburg, die bei uns sagen, was Rechtens ist.»55 1988 führte eine weitere Verurteilung der Schweiz durch «Strassburg» wegen ungenügender gerichtlicher Beurteilung einer Beschwerde gegen eine Busse von 130 Franken im Kanton Waadt (Fall Belilos) zu einer erneuten Belebung des Bilds der «fremden Richter».

Es war der Innerschweizer Ständerat Hans Danioth (CVP/ UR), der darin die Souveränität nicht nur des Landes, sondern auch der Kantone beeinträchtigt sah und darum am 6. Juni 1988 ein Postulat einreichte und sogar eine vorsorgliche Kündigung der EMRK anregte. In seiner Begründung ging der Urner Ständeherr davon aus, dass die eigene Ordnung nur schon deswegen Schutz verdiene, weil es die eigene ist. Auf Verbesserung bedachte Rechtsharmonisierung tat er ohne Überprüfung ihrer Berechtigung und Wünschbarkeit als «Nivellierung» ab: «Im ersten Bundesbrief haben die Eidgenossen geschworen, keine fremden Richter anzuerkennen. Es blieb uns fortschrittlichen Nachfahren des 20. Jahrhunderts vorbehalten, diesen weisen Grundsatz über Bord zu werfen. Wir sind drauf und dran, durch eine argwürdige Rechtsprechung seitens eines ausserhalb unseres Landes agierenden Gerichtes die traditionell gewachsene und im Rahmen von Verfassung und Gesetz weiterentwickelte innere Ordnung unseres Justizwesens zugunsten einer nivellierenden Einheitstheorie, welche auf unser Land keine Rücksicht nimmt, preisgeben zu müssen.»56

Ständeratskollege René Rhinow (FDP/BL), Ordinarius für Staatsrecht der Universität Basel, widersprach dem aus Uri erhobenen Anspruch auf kantonale Souveränität und verwies auf die garantierten Grundrechte in der für die ganze Schweiz geltenden Bundesverfassung. Zu den «fremden Richtern» bemerkte er: «Es wird mit Strassburg nicht Macht eines arroganten Herrschers über ein unterjochtes Volk ausgeübt. Wir Schweizer haben personell Anteil am Richteramt wie jeder andere Signatarstaat der Konvention.»57 Das wiederum wollte Parteikollege Ernst Rüesch (FDP/SG) nicht unkommentiert stehen lassen. Der Einfluss der Schweiz sei in Strassburg trotz der Vertretung «ausserordentlich» gering; eine grosse Mehrheit ausländischer Richter würde über die Schweiz richten.58

Bemerkenswert war und ist, dass Zeitungen, die eigentlich dafür disponiert waren, sich zur Vox populi zu machen, dieses Intermezzo nicht publizistisch auswerteten.59 Die «Weltwoche» stellte denn auch fest, dass der «Proteststurm von nationalistischer Seite» beinahe ausgeblieben und Danioth mit seiner Polemik gegen die EMRK ein «einsamer Rufer in der Wüste» geblieben sei.60

Der Topos der «fremden Richter» gehörte, auch ohne in akuten Kontroversen als schlagendes Argument benötigt zu werden, zu den Grundelementen des helvetischen Diskurses. Der Historiker und frühere Bundesrat Georges-André Chevallaz verkündete im Kontext des 700-Jahr-Jubiläums von 1991, bezogen auf die Formel von 1291, «l’hostilité au prince de dehors et au juge étranger» bilde neben Republikanismus und Föderalismus die dritte Konstante des schweizerischen Zusammenhalts.61 Doch erst im Kampf gegen den Beitritt zum EWR erhielt der Topos der «fremden Richter» die Bedeutung eines gängigen Schlagworts.

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