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Dienstag, 11. Mai, vormittags

Ein Mord, viele Fragen

„Liebe Kolleginnen und Kollegen!“ Prodekan Hermann-Josef Kösters versuchte sich Gehör zu verschaffen. Nur langsam starb das aufgeregte Gemurmel und Getuschel um ihn herum ab. Mehr als fünfzehn Personen hatten sich im Beratungszimmer der Fakultät eingefunden. Unter den zumeist gestrengen Blicken der Porträts von ungezählten Dekanen der Fakultät, gemalt oder fotografiert jeweils zur Beendigung ihrer Amtszeit, hatten sie sich an die zu einem Rechteck zusammengestellten Tische gezwängt, verwickelt in hektische Gespräche.

Alle waren der Einladung zur außerplanmäßigen Sitzung gefolgt, die ihnen per Mail oder Anruf zugegangen war. Neben Kösters waren die verbliebenen zehn amtierenden Professoren erschienen, außerdem die Religionspädagogin Klara Mechtersheim als einzige Frau im Professorium, ferner drei Damen und zwei Herren aus dem Mittelbau, daneben – ungewohnt blass und mit noch immer verweinten Augen – Dekanatssekretärin Silvia Hoberg und, zur allgemeinen Überraschung, die Studentin Verena Obmöller.

„Nun kommen Sie doch bitte zur Ruhe!“, ermahnte Kösters die Anwesenden. „Bitte sehr: Kolleginnen und Kollegen!“ Er musste jetzt doch die Rolle spielen, die er sich so gern noch erspart hätte. Aber es half alles nichts, als Prodekan oblag ihm die Übernahme der Dienstgeschäfte und der Verantwortung.

Kösters hatte am Vorabend noch den seit drei Jahren emeritierten Altdekan Füstner – immer noch als graue Eminenz im Hintergrund des Fakultätslebens aktiv – angerufen und um Unterstützung gebeten. Aber der Ruheständler hatte nur gesagt: „Nein, das werden Sie selbst übernehmen müssen, Kösters. Tut mir leid – und: Kopf hoch!“ Nun lag es also an ihm, die Situation so gut wie möglich zu meistern. Es galt vor allem, die Form zu wahren.

„Liebe Kollegin“ – hierbei verbeugte er sich leicht zu Frau Mechtersheim – „liebe Kollegen. Sie wissen, warum ich Sie hierhergebeten habe. So unfassbar das für uns alle ist: Unser Dekan, Professor Anton Gerstmaier, ist ermordet worden. Ich habe Sie zusammengerufen, um Sie über den Stand der Dinge zu informieren und um über das weitere Vorgehen zu beraten.“

„Wann ist der Mord denn passiert?“, rief Professor Schulze-Vorrath dazwischen, ein absichtsvoll ungepflegt wirkender Mittfünfziger mit wirren grauen Haaren und Drei-, eher Fünftagebart. Schulze-Vorrath war Fundamentaltheologe, bildete sich auf seinen offen zur Schau getragenen Nonkonformismus etwas ein, war aber der deutschlandweit und auch international bekannteste Theologe seiner Fakultät. Er hatte mehrere erfolgreiche Bücher über den interreligiösen Dialog verfasst und war als Experte in diesem Bereich in Radio und Fernsehen ein viel gefragter Mann.

„Bitte lassen Sie mich in Ruhe berichten. Ich werde versuchen, alle Fragen zu beantworten, aber der Reihe nach!“ Kösters blickte – um Unterstützung bittend – in die Runde und hoffte, sein geplantes Vorgehen durchsetzen zu können. Zustimmendes Kopfnicken! „Genau“, stimmte ihm einer zu. „Ja, das ist besser“, ein anderer.

Schulze-Vorrath hatte nur wenige Freunde im Kollegium. Den einen gefiel seine selbstdarstellerische Art nicht, andere waren insgeheim neidisch auf seinen Erfolg, obwohl sie seine Bücher als populistisch abtaten und dagegen den wissenschaftlichen Ernst und Wert der wenigen eigenen Veröffentlichungen hervorhoben. Nun lehnte sich Schulze-Vorrath brummelnd zurück, kreuzte die Arme und wartete ab, was passieren würde.

„Danke!“ Kösters nickte in die Runde. „Ich schildere Ihnen nun, was wir bislang über den Verlauf des Geschehens wissen. Ein gewisser Hauptkommissar Kellert von der Kripo wird in – Moment“, er blickte auf seine Armbanduhr, „in einer Viertelstunde bei uns sein und uns befragen.“ „Wieso das denn?“, platzte Dr. Schachner, einer der anwesenden wissenschaftlichen Mitarbeiter, dazwischen, fing sich dafür aber nur einen tadelnden Blick von Kösters ein.

„Also, was ich von Kommissar Kellert weiß, ist Folgendes“, fuhr dieser unbeirrt fort: „Gerstmaier war wie jeden Freitag noch lange in seinem Büro. Es ist ja bekannt, dass er freitags oft noch lange hier im Haus ist. Frau Hoberg ging – wie immer – um ein Uhr nach Hause.“ „Stimmt nicht, ich war noch bis halb zwei da“, unterbrach diese ihn mit leiser, aber bestimmter Stimme. „Ich musste noch das Protokoll vom Fakultätsrat fertig tippen.“

„Gut, also bis halb zwei. Frau Obmöller hatte noch bis ungefähr um vier Uhr im Dekanatsbüro zu tun, stimmt’s?“ Er nickte der Studentin aufmunternd zu, die das Wort ergriff. Sie war eine gerade im Fachbereich Theologie auffallende Erscheinung. Lange schwarze Haare, dezent geschminkt, selbstbewusst gekleidet und – wie Kösters aus einem Seminar wusste – wissbegierig, fleißig, intelligent und redegewandt.

„Ja, ich war bis kurz nach vier hier“, bestätigte sie. „Ich musste die Einladungen für den Gastvortrag übernächste Woche fertig machen. Kurz bevor ich ging, schaute Gerstmaier, ich meine: der Herr Dekan, noch einmal herein. Er suchte etwas in den Ordnern, fand es aber wohl nicht. Mit mir hat er kein Wort geredet, aber das“ – sie blickte sich im Kreis Verständnis heischend um und ihr Blick blieb bei der Sekretärin haften – „das hat er eigentlich nie getan. War also nichts Besonderes.“

„Haben Sie sich noch von ihm verabschiedet?“, fragte unvermutet Professor Günter Brossl, ein junger Kirchengeschichtler, der erst vor einem halben Jahr an die Universität Friedensberg berufen worden war. Verena Obmöller schaute ihn kurz an und meinte dann: „Nee, das haben wir nie gemacht, das hätte ihn doch auch nur gestört!“

„In jedem Fall“, so ergriff Kösters nun wieder das Wort, „sind Sie damit die Letzte, die den Dekan noch lebend gesehen hat.“ „Bis auf den Mörder“, flüsterte die Religionspädagogin Klara Mechtersheim dazwischen, gerade laut genug, dass jeder es hören konnte. Erschrocken legte sie sich die Hand auf den Mund, zog den Kopf zwischen die Schultern und wurde rot.

Der Prodekan sprach ungerührt weiter: „Der Tod von Kollege Gerstmaier muss zwischen zehn und elf Uhr am gleichen Abend, also mindestens sechs Stunden später eingetreten sein. So lautet zumindest die Auskunft von der Gerichtsmedizin drüben in der Gmeinerstraße. Was Gerstmaier in dieser Zeit gemacht hat, ob er noch Termine hatte, ist noch nicht bekannt. Von hier aus telefoniert hat er nicht, zumindest nicht von den offiziellen Telefonen. Oder hat irgendjemand von Ihnen noch Kontakt zu ihm gehabt?“, fragte Kösters in die Runde.

Das hätte er besser nicht getan. Sofort erhob sich ein Getuschel und Gemaule, in dem man kaum das eigene Wort verstehen konnte: „Wieso Kontakt?“ „Ich war doch in Tübingen auf dem Ethikerkongress!“ „Freitags, dass ich nicht lache!“ „Mit dem spreche ich schon seit sieben Monaten nicht mehr!“ „Unverschämtheit!“ …

Kösters wollte gerade wieder um Aufmerksamkeit bitten, als ein lautes Klopfen an der Tür zu hören war. „Entschuldigung.“ Mit diesen Worten trat Sebastian Tränkner, seines Zeichens ausgebildeter Schreiner und nun fünfundzwanzigjähriger Student der Diplomtheologie, Mitglied der Fachschaft und studentischer Vertreter im Fakultätsrat, ein und wies einem energisch eintretenden Mann Anfang vierzig den Weg. „Hier ist der Herr Kommissar Kellert.“

‚Erstaunlich, wie folgsam der eben noch so wild durcheinanderredende Haufen plötzlich den Worten des Kommissars lauscht‘, dachte Kösters, froh, die Gesprächsführung an den Polizisten abgeben zu können. „Wir tappen noch völlig im Dunkeln“, sagte der, nachdem er sich am Kopfende des Tisches aufgebaut hatte. Die Anwesenden konnten es kaum spüren, aber Kellert war sich unsicherer als sonst. Wie geht man mit Professoren um? Wie redet man zu Priestern? Das war ein Gebiet, in dem er überhaupt keine Erfahrung hatte.

„Einfach so sein wie immer“, hatte ihn seine Frau Beate ermuntert. Er versuchte, ihren Ratschlag zu befolgen. „Bitte verstehen Sie, dass ich deshalb mit jedem von Ihnen sprechen muss.“ „Geh, sie verdächtigen doch nicht etwa uns?“, rief mit tief bellender Stimme und unverkennbar österreichischer Dialektfärbung Elmar Maria Brandtstätter, ein mindestens eins neunzig großer, rundgesichtiger Mann mit mächtigem Körper, der Pastoraltheologe der Fakultät.

„Nein, nein“, beschwichtigte Kellert und strich sich durch sein millimeterkurz geschnittenes blauschwarz schimmerndes Haar, „aber wir müssen alle relevanten Informationen zusammentragen. Ich bitte Sie um Verständnis und um Ihre Kooperation.“ „Selbstverständlich werden wir Ihnen in allem nach bestem Vermögen helfen“, versicherte Kösters, der sich nun aufgefordert sah einzugreifen, eilfertig.

„Wir alle haben das größte Interesse, dieses furchtbare Verbrechen so schnell wie möglich aufzuklären. Eine Bitte habe ich jedoch, Herr Kommissar: Wenn es geht, bitte ich Sie darum, den Studienbetrieb so wenig wie möglich mit den Ermittlungen zu belasten. Die Studierenden sind schon so total ausgelastet und ziemlich verstört.“ „Jep“, ließ sich Verena Obmöller vernehmen und Schulze-Vorrath ereiferte sich: „Mein Seminar gestern, das konnte ich völlig vergessen!“.

Kommissar Kellert blickte in die Runde und sagte dann: „Also versprechen kann ich nichts. Aber ich werde tun, was in meiner Macht steht, damit Ihr Betrieb hier so normal wie möglich weitergehen kann.“ Dabei schlug er mit der rechten Hand einen großen Bogen. „Darf ich Sie nun bitten, mir einzeln einige Fragen zu beantworten? Können wir dazu vielleicht in Ihr Büro gehen?“, fragte er Kösters. „Das Dekanat wird ja noch vom Spurendienst untersucht.“

Bevor Kösters antworten konnte, wurde er von Frau Hoberg unterbrochen. „Entschuldigen Sie, Herr Kommissar!“, stammelte sie. „Kellert, bitte nennen Sie mich einfach Kellert“, sagte er in die Runde. „Was gibt es denn?“ „Mir ist noch etwas aufgefallen. Ich glaube, dass einige Akten fehlen. Bei mir im Büro, aber auch im Zimmer vom Chef, äh, vom Herrn Dekan. Ich weiß aber nicht genau, was. Er hat sich seine Unterlagen meistens selbst geholt und zusammengestellt, wissen Sie. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass da einiges fehlt.“

Aufmerksam hatte Kellert zugehört und pfiff sich kaum hörbar durch die Zähne. Eine erste Spur! Niemand lässt grundlos Akten verschwinden! Das vergrößerte die Wahrscheinlichkeit, dass der Tod des Dekans etwas mit seiner Arbeit hier an der Universität zu tun hatte. Womöglich war einer der Anwesenden in den Mord verstrickt. ‚Sei vorsichtig! Hör genau hin, auch auf die Zwischentöne! Stelle die richtigen Fragen! ‘, gab er sich mit auf den Weg.

„Danke, Frau, äh“ – „Hoberg“ – „Ja, danke für die Information, das ist sehr wichtig. Bitte versuchen Sie herauszufinden, was genau alles fehlt. Ich werde Mansfeld, meinen Kollegen von der Spurensicherung, gleich anweisen, dass er Sie in das Dekanszimmer hineinlässt und dort mit Ihnen auf die Suche geht. Wir aber“ – hier wandte er sich an die Übrigen – „sollten uns im Zimmer des Herrn Prodekan unterhalten. Kommen Sie bitte mit!“

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