Читать книгу Toter Dekan - guter Dekan - Georg Langenhorst - Страница 12

Оглавление

Dienstag, 11. Mai, abends

Pizza, Pasta und ProfessorInnen

Ganz dezent untermalte italienische Musik die gedämpften Gespräche und Geräusche bei ‚Da Luigi‘. Eine geschmackvolle Einrichtung betonte zwar den italienischen Charakter des Ambientes, versagte sich aber jeglichen Eindruck von billigem Kitsch. Die Tische standen so weit voneinander entfernt, dass man sich an jedem von ihnen ungestört unterhalten konnte. Bernd Kellert hatte die Idee gehabt, sich abends hier mit seiner Frau zu verabreden. Das würde ihm lange Wege ersparen und sie würde sich auf den Abend bei gepflegten Speisen in angenehmer Atmosphäre freuen.

Gerade hatten sie sich über ihre Kinder ausgetauscht. Tobias studierte Wirtschaftsingenieurswesen im zweiten Semester in München. Er hatte die Metropole ihrer überschaubaren Universitätsstadt vorgezogen. „Friedensberg, da kennt jeder jeden“, hatte er zum Abschied gesagt. „Das ist mir zu klein und zu eng, große Tradition hin oder her.“ Und Jenny, die inzwischen sechzehnjährige Tochter, war gerade für ein Jahr an einer Austauschschule in Leeds in Nordengland.

Beate Kellert fiel es auch nach mehr als acht Monaten nicht leicht, nach so langer gemeinsamer Zeit ohne ihre beiden Kinder zu leben. Selbst Barry, der Kater, war die meiste Zeit unterwegs. Sie hätte sich gern noch einen Hund angeschafft. „Zu Hunden kann man eine ganz andere Beziehung aufbauen als zu Katzen“, sagte sie immer. „Außerdem sind sie treu. Treuer als Männer …“

Aber erstens war ihr Mann, der diesen letzten Halbsatz nur kopfschüttelnd und schweigend zur Kenntnis nahm, alles andere als begeistert von dieser Idee und zweitens: Solange der Kater in ihrem Haushalt lebte, war das Ganze sowieso nicht mehr als nur ein Hirngespinst „Hund und Katze, ich glaube du träumst!“, hatte Bernd Kellert geknurrt, als sie diesen Gedanken einmal probehalber ausgesprochen hatte. Der Kater gehörte ja eigentlich Jenny, aber nun kümmerte sich eben hauptsächlich ihre Mutter darum. Sie war halbtags in einer Steuerkanzlei tätig, aber diese Tätigkeit füllte sie nicht wirklich aus.

„Ehrlich, Bernd, ich freue mich, wenn Jenny im Juli wieder nach Hause kommt“, sagte sie gerade. Ihr Mann, der soeben dabei war, die letzten Reste seiner ausgezeichneten Spinatlasagne zu vertilgen, brummte zustimmend mit vollem Mund. Mutter und Tochter hatten in den letzten Jahren einige heftige Auseinandersetzungen miteinander ausgetragen. Er war gespannt, wie sich ihr Verhältnis nach diesem Jahr weiterentwickeln würde.

„Na ja, Tobias kommt ja am nächsten Wochenende auch mal wieder vorbei“, sagte er, nachdem er den Bissen heruntergeschluckt und einen Schluck Rotwein getrunken hatte. Die beiden blickten sich eine Zeit lang schweigend an. Nach einundzwanzig Ehejahren waren sie es durchaus gewohnt, dass man nicht unbedingt immer reden musste. Sie wussten, wann man dem anderen die Zeit für eigene, nicht mitgeteilte Gedanken lassen musste. Dann brach Beate das Schweigen.

„Und wie geht’s deinem toten Professor? Also ich meine: Was macht dein Fall mit diesem Theologen?“ Bernd Kellert atmete tief durch und blies die Wangen auf. „Puhh, nicht so leicht. Eine richtige Spur haben wir noch nicht. Aber hoi, also bei denen arbeiten möchte ich nicht!“ „Wieso das denn?“ „Na, da herrscht eine Spannung, dagegen ist das bei der Polizei richtig angenehm. So etwas von … Verschrobenheit, von Neid und Eifersucht! Da gönnt keiner dem anderen auch nur den Dreck unter dem kleinen Fingernagel!“

Dann besann er sich. „Das gilt bestimmt nicht für alle, okay. Manche duzen sich sogar, aber das ist die Ausnahme. Kannst du dir das vorstellen: Arbeiten dreißig Jahre zusammen und siezen sich! Das sagt doch alles!“ Beate seufzte zustimmend und fragte dann nach: „Ja, und der Fall?“

„Schwierig, schwierig! Diese Uni ist ja ein offenes Haus, da kann jeder raus und rein. Es gibt eine Bibliothek, die hat wochentags bis dreiundzwanzig Uhr geöffnet. … Eh, Moment …“ Er winkte einen vorbeigehenden Kellner herbei: „Für mich noch einmal einen Rotwein, den Chianti. Für dich auch?“ Er blickte zu seiner Frau. Als diese kaum merklich nickte, verbesserte er sich: „Also zwei, noch zwei Chianti bitte!“

Er lehnte sich wieder bequem zurück und fuhr fort: „Und der Dekan, also dieser Professor Gerstmaier, hat alle möglichen Feinde gehabt. War total unbeliebt. Aber ein Motiv, ihn umzubringen, sehe ich beim besten Willen nicht.“ „Unbeliebt, wieso?“ „Na ja, das war wohl so ein sturer Paragraphenheini. Kannte alle Vorschriften und jeden Gesetzestext und hat alle anderen damit genau kontrolliert und gegängelt. Und das mögen Professoren offenbar gar nicht. Der war noch gar nicht so lange hier in Friedensberg. Ist erst mit über fünfzig Professor geworden und wollte es deswegen denen zeigen, die das schon mit Ende dreißig oder Anfang vierzig geworden sind. So habe ich das jedenfalls verstanden. Ehrlich, ich habe mit nicht einem geredet, der wirklich positiv über den Dekan gesprochen hat.“

„Furchtbar!“, gab Beate Kellert zurück. „Das wird für den ja auch nicht gerade angenehm gewesen sein, oder?“ „Ich weiß nicht“, gab ihr Mann zurück. „Es gibt eben Typen, die sich am wohlsten fühlen, wenn die anderen Angst vor ihnen haben. Denen wird bei Freundschaft und Nähe richtig unwohl. Da könnte ich dir bei uns auch einige nennen. Außerdem haben fast alle übereinstimmend bestätigt, dass die Atmosphäre an der Fakultät vor ein paar Jahren viel besser war. Richtig familiär. Gerstmaier wird von den meisten als Urheber dieser unguten Entwicklung genannt. Richtig traurig hat deshalb keiner auf mich gewirkt. Geschockt schon, fassungslos – ja, aber traurig – nein.“

Der Kellner brachte zwei frisch gefüllte Rotweinpokale und räumte das fast komplett geleerte Geschirr fort. „Hat es geschmeckt?“, fragte er in routinierter Höflichkeit. „Ja, danke, war sehr gut“, antwortete Beate Kellert automatisch. „Ein Nachtisch oder vielleicht ein Espresso?“ „Später vielleicht“, brummte ihr Mann, der offensichtlich in Ruhe seinen Rotwein genießen wollte. Er führte das Glas zum Mund, blickte seiner Frau in die Augen, lächelte und sagte in gespielter Förmlichkeit „Zum Wohlsein“, doch statt zu trinken, setzte er das Glas abrupt ab.

„Moment, das ist doch …“ Schon war er aufgesprungen und eilte zwei Personen entgegen, die soeben das Lokal betreten hatten, und sich – vergebens – nach einem leeren Tisch umschauten. Wenig später kam er mit den beiden auf den von ihm und seiner Frau besetzten Tisch zu, an dem noch zwei freie Plätze waren. Beate Kellert wunderte sich. Normalerweise hasste ihr Mann es, wenn er beim Essen gedrängt saß.

Doch schon traten die drei an den Tisch. Der Unbekannte war ein fülliger, bulliger, auffällig großer Mann Ende fünfzig, gekleidet mit einer nicht mehr ganz neuen Jeans, einem offenen karierten Hemd und einem lässigen braunen Cordsakko; die Frau eine eher zierliche Dame undefinierbaren Alters mit einem zeitlosen lindgrünen Kostüm und streng gescheiteltem kurzem braunem Haar, wirkte an der Seite ihres Begleiters zerbrechlich und fühlte sich sichtlich unwohl. Ihre Finger spielten nervös mit einer kleinen ledernen Handtasche.

„Darf ich vorstellen?“ Bernd Kellert ließ erst gar keine Peinlichkeit aufkommen. „Das ist meine Frau Beate, und dies sind Frau Mechtersheim und Herr, äh“ – „Brandtstätter, Elmar Maria Brandtstätter.“ „Freut mich“, sagte Beate Kellert, erhob sich, gab beiden die Hand und wies auf die beiden freien Plätze: „Setzen Sie sich doch zu uns.“ Mit fragend hochgezogener Augenbraue blickte sie zu ihrem Mann, weil ihr immer noch nicht klar war, warum er so völlig gegen seine Gewohnheiten ihm ja offensichtlich kaum bekannte Menschen an seinen, an ihren Tisch bat.

„Frau Mechtersheim und Herr Brandtstätter sind Professoren an der Theologischen Fakultät“, klärte er sie auf. „Und ich dachte, wir könnten hier vielleicht einiges ganz ungezwungen bereden, oder?“, wandte er sich an die beiden. „Von mir aus gern“, meinte der massige Mann. „Hauptsache, ich bekomme bald etwas zu essen. Ich habe heute wirklich nicht eine Minute Zeit gehabt, etwas zu mir zu nehmen. Du auch, Klara?“ ‚Aha, also doch eine Duz-Beziehung!‘, dachte Beate Kellert.

„Ja, ich nehme die Dorade auf Rucola und wie immer einen gemischten Salat“, entgegnete die Frau, die sich nach wie vor nicht sonderlich wohl zu fühlen schien. Brandtstätter bestellte für sie beide – für sich eine Pizza Hawaii, extragroß.

‚Nicht unbedingt das, was man abends bei einem Edelitaliener bestellt‘, dachte Beate Kellert, die das leichte Stirnrunzeln des Kellners sehr wohl bemerkt hatte. Ihr Blick streifte kurz die Augen von Frau Mechtersheim, die ihr Verständnis heischend zublinzelte, als wollte sie sagen: ‚So ist er nun einmal!‘

Brandtstätter schien das alles wenig zu stören. Er hatte die Speisekarte beiseitegelegt und wandte sich nun wieder dem Kommissar zu: „Was wollen Sie denn noch wissen, Herr Kommissar? Wir haben doch schon alles Wichtige zu Protokoll gegeben, oder?“ Bevor Kellert antworten konnte, mischte sich seine Frau ins Gespräch. „Entschuldigung, darf ich mal was ganz Einfaches fragen? Also, ähm, wie sag ich das denn jetzt? Sind Sie beide wirklich Theologieprofessoren? Ich habe mir die irgendwie anders vorgestellt, also in Schwarz und mit Brille oder so. Und Sie als Frau?“

Hier wandte sie sich an Klara Mechtersheim. „Ich wusste gar nicht, dass es weibliche Theologieprofessoren gibt. Geht das denn? Ich dachte, das sind alles Priester!“ Brandtstätter lachte, sein mächtiger Körper bebte und sein Bass dröhnte durchs Lokal. „Soso, das verbinden Sie also mit einem Theologieprofessor“, sagte er dann, als er sich wieder beruhigt hatte und sich auch die verwunderten Gäste von den Nachbartischen wieder ihren eigenen Angelegenheiten zuwandten. „Ja, solche Typen haben wir auch im Kollegium, stimmt schon. Aber nicht nur. Und …“, nun fixierte er Beate Kellert, „… denken Sie, ich wäre ein Priester?“

„Oh.“ So unerwartet direkt befragt, geriet Beate Kellert ins Stottern. Hilfesuchend blickte sie zu ihrem Mann, aber der schaute ausdruckslos an ihr vorbei. ‚Wenn du dich schon einmischst, dann musst du auch die Konsequenzen tragen‘, schien dies auszusagen. „Nein“, sagte sie dann, „sind Sie nicht. Oder doch?“, fragte sie nach.

Wieder fuhr ein Lachreiz durch den mächtigen Körper, aber dieses Mal unterdrückte Brandtstätter ihn. „Falsch getippt, Gnädigste“, sagte er in bewusst übertrieben breiter österreichischer Höflichkeit. „Wissen Sie, ich bin Ordenspriester. Aber wir leben nicht im Kloster, sondern haben uns auf soziale Arbeit spezialisiert. Wir leben bei denen, die uns brauchen. Und glauben Sie, das geht: Bei den Arbeitslosen herumlaufen mit Anzug und Krawatte? In die Asylunterkünfte gehen in edlem und teurem Zwirn? Vierzehn Jahre habe ich bei denen gelebt, bei den Ärmsten der Armen, die man nicht sieht und nicht sehen will. Und als ich dann hier Professor für Pastoraltheologie wurde, habe ich mir geschworen, diesen Menschen treu zu bleiben. Ich muss denen noch in die Augen sehen können, verstehen Sie? Und das ist schwer genug, wenn Sie ein gesichertes und regelmäßiges Professorengehalt beziehen. Wenn Sie ständig mit den feinen Damen und Herren des Bildungsbürgertums und der Kulturschickeria zu tun haben.“

„Elmar versucht sein Leben ganz konsequent an Jesus auszurichten“, fiel unvermittelt seine Kollegin ein. „Aber das ist gar nicht so leicht. Wie lebt man das heute in unserer Gesellschaft, eine Nachfolge Jesu? Jedenfalls habe ich davor großen Respekt. Ich selbst könnte das so nie.“

„Ja und Sie, was machen Sie denn als Frau in der Theologie?“, fragte Beate Kellert nach, bevor Elmar Maria Brandtstätter zu einer weiteren Rede anheben konnte, was er offenbar sehr gern zu tun pflegte. Klara Mechtersheim überlegte, was sie antworten sollte. Bernd Kellert, nun doch interessiert an dem von seiner Frau eingeschlagenen Gesprächspfad, setzte nach: „Ja, und dann noch als einzige Frau im Kollegium. Das ist doch bestimmt nicht einfach, oder?“

„Nun zunächst mal gibt es ja bei uns im Mittelbau durchaus noch einige weitere Frauen“, begann die Religionspädagogin, „aber im Professorium bin ich die einzige, das stimmt. Deswegen bin ich ja auch so froh, dass Elmar, also Professor Brandtstätter, mich immer wieder unterstützt. Aber Sie haben schon ganz Recht“, hier wandte sie sich an Beate Kellert. „Bei uns in der Katholischen Theologie gibt es noch nicht lange Professorinnen. Qualifizierte Bewerberinnen gibt es natürlich genug, aber …“

„Aber was?“, fragte ihre Gesprächspartnerin nach. „Nun“, mischte sich Brandtstätter ein: „Das ist so: Manche Bischöfe wollen nicht, dass ihre zukünftigen Priester von Frauen ausgebildet werden. Deren Theologie passt ihnen nicht und überhaupt: Dass man sich von Frauen etwas sagen lassen soll, dass Frauen diese Kompetenzen mitbringen, das passt bei manchen einfach nicht in das Weltbild. Und diese Auffassung teilen leider auch einige meiner Herren Kollegen. Die wollen auch lieber unter sich bleiben. Da haben Frauen in Berufungsausschüssen von vornherein keine Chance.“ „Hatte auch Dekan Gerstmaier diese Einstellung?“, wollte Kommissar Kellert wissen. „Na, der an erster Stelle“, knurrte Professor Brandtstätter zurück.

„Aber Sie sind ja doch Professorin geworden. Wie kam denn das?“, fragte Beate Kellert verwundert nach.

„Ach, der Elmar malt das ein bisschen zu schwarz-weiß. Es gibt durchaus Bischöfe, die uns Frauen in der Theologie fördern. Und das gilt auch für die meisten meiner Kollegen. Doch, Elmar!“, beharrte sie, als sie sah, dass ihr Gegenüber protestieren wollte. „Inzwischen gibt es in Deutschland schon einige Theologieprofessorinnen. Klar, es könnten mehr sein, aber lass uns mal ein paar Jahre abwarten. Das wird schon noch ganz normal werden. Also es ist so. Sie wandte sich wieder an die Kellerts. „Die weit überwiegende Mehrheit der Theologiestudenten will gar nicht Priester werden. Nein, fast alle studieren Theologie, weil sie Religionslehrerin oder Religionslehrer werden wollen, wenige andere Journalisten, Pastoralreferenten oder was weiß ich. Und von denen sind drei Viertel weiblich. Mindestens! Und es wäre doch absurd, wenn eine überwiegend weibliche Studierendenschaft von ausschließlich männlichen Lehrenden ausgebildet wird, oder?“

„Na ja“, fuhr sie fort, nachdem sie einen Schluck Mineralwasser getrunken hatte, „und deshalb gibt es inzwischen fast überall mindestens eine Professorin.“ – „Alibiprofessorin“, rief Brandtstätter dazwischen – „Das muss man nicht so sehen, Elmar! Gut, ich bin jedenfalls Religionspädagogin, das ist ein Fach, das die ‚hohen Herren‘ eh nicht so ernst nehmen. In den theologischen Kernwissenschaften, also Dogmatik und Moraltheologie, da ist es für uns Frauen noch viel schwerer. Aber mir gefällt dieser Freiraum. Ich kann forschen und sagen, was ich will, das ist ein echter Vorteil. Außerdem habe ich die bei weitem größten Studierendenzahlen in meinen Veranstaltungen. An mir kommt keiner vorbei, der irgendetwas mit Theologie zu tun hat. Das sehe ich als große Chance.“

„Und wie wird man Professorin?“, hakte Beate Kellert nach, die nun wirklich neugierig geworden war. „Ach so, ja! Bei mir war das so: Ich habe Theologie und Mathematik studiert.“ „Tatsächlich?!“, entfuhr es dem Kommissar, bei dem das Wort Mathematik wohl unangenehme Erinnerungen an quälende Schulstunden hervorrief. „Ja, das hört sich zunächst komisch an, nicht wahr?“, gestand die Professorin, um dann jedoch unbeirrt weiterzusprechen. „Aber Sie glauben gar nicht, was die beiden Fächer alles gemeinsam haben.

Die innere Logik, die klare Struktur, die … oh“ – sie sah, dass ihre Gesprächspartner ihre spontane Begeisterung nicht teilten – „Entschuldigung, ich schweife ab. Nun, dann habe ich mein Referendariat gemacht und drei Jahre an einem Gymnasium gearbeitet, das hat mir auch richtig Freude bereitet, meistens zumindest.

Und dann kam die Anfrage von meinem Professor aus Freiburg, wo ich ja studiert hatte, ob ich nicht bei ihm eine wissenschaftliche Assistentinnen-Stelle annehmen wollte, verbunden mit einer Promotion. Nach kurzem Überlegen habe ich zugestimmt. Ja, und dann ging alles seinen Gang. Erst die Doktorarbeit, dann die Habilitation, dann der Ruf hierher nach Friedensberg. Das war vor sechs Jahren und seitdem bin ich hier. So war das“, schloss sie ihre Ausführungen ab.

Inzwischen hatte der Kellner das Essen gebracht und die beiden später Hinzugekommenen ließen es sich schmecken, während die beiden anderen in Ruhe ihren Rotwein genossen. „Und Gerstmaier?“, fragte Kommissar Kellert nach einigem Nachdenken. „Hat der nicht etwas gegen Ihre Berufung unternommen, wenn er doch so ein Frauenhasser war, wie Sie gesagt haben“, hiermit wandte er sich an Brandtstätter.

„Moment“, murmelte dieser zwischen zwei großen Pizzabrocken, trank einen großen Schluck Bier und ergänzte dann: „Frauenhasser, das habe ich nicht gesagt. Er wollte bloß keine Frau als Kollegin in der Theologie. Das ist etwas anderes. Aber ja doch, klar, er hat einiges auf die Beine gestellt damals, um die Berufung von Kollegin Mechtersheim zu verhindern!“ „Elmar“, warnte ihn seine Kollegin und legte ihm die Hand auf den Arm, „das gehört jetzt aber nicht hierher!“

„Doch, doch, lass mich nur, was wahr ist, ist wahr“, meinte dieser nur, schüttelte ihre Hand ab und schnitt sich den Pizzarest in mundgerechte Happen. „Also, ich dürfte Ihnen das jetzt offiziell nicht erzählen, weil es unter das Dienstgeheimnis fällt, aber erstens soll man Jesus zufolge sowieso eigentlich niemals irgendwelche Eide schwören, also auch keinen Diensteid, zweitens ist das ja schon lange vorbei und drittens ist Gerstmaier ja nun tot. Er hat ein Sondergutachten geschrieben, in dem er die Qualifikation von Klara anzweifelte. Und der Bischof wollte dem auch schon nachgeben.“

Er überlegte kurz, redete dann aber weiter: „Da hat die Frauenbeauftragte der Gesamtuni, Kollegin Bartels-Fritsche von der Germanistik, sich eingeklinkt und mächtig Druck gemacht. Wir haben zwei Zusatzgutachten von auswärtigen Fachkollegen eingeholt, die die Qualifikation eindeutig bestätigt haben, und Frau Bartels-Fritsche hat angedroht, im Falle einer Änderung der Berufungsliste zuungunsten von Kollegin Mechtersheim nicht nur im Ministerium zu protestieren, sondern sich auch an die Presse zu wenden. Ob eine solche Fakultät überhaupt noch staatlich tragbar sei und so. Da haben die Herren schnell den Schwanz eingezogen!“ – „Elmar!“ – „Ist doch wahr! Und es übrigens auch nicht bereut. Klara Mechtersheim macht hervorragende Arbeit!“

Sichtlich geschmeichelt trank die so Gelobte einen weiteren Schluck, während ihr Kollege sich über die restlichen Pizzastücke hermachte. Kommissar Kellerts Neugier war aber noch nicht befriedigt: „Und Ihr Verhältnis zu Dekan Gerstmaier, hat das nicht unter dieser Vorgeschichte gelitten?“, wandte er sich an die Professorin.

„Das war kein Verhältnis, Herr Kommissar“, gab diese ruhig, aber bestimmt zurück. „Wir haben in den sechs Jahren, seitdem ich hier bin, keine zehn vernünftigen Sätze miteinander gesprochen. Der hat mich einfach ignoriert. Das war mir aber irgendwie auch am liebsten so.“ „Ja, aber dass er dir die Böhm nehmen wollte, das war schon eine Frechheit!“, polterte Brandtstätter dazwischen.

„Wie, was?“, wollte Kellert wissen. „Ach, das war so“, erklärte die Professorin, der das Thema sichtlich unangenehm war. „Seit drei Jahren habe ich eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, Caroline Böhm. Deren Promotion ist fast fertig und ich möchte sie gern weiter an meinem Lehrstuhl beschäftigen. Vor ein paar Monaten schickte mir Gerstmaier dann aber ein Schreiben mit der Mitteilung, dass meine Assistentinnen-Stelle gestrichen werden sollte. Einfach so. Ohne Erklärung. Ohne Abstimmung im Fakultätsrat. Das habe ich mir natürlich nicht gefallen lassen und protestiert.“

„Ja, darf der das denn einfach so?“, schaltete sich Beate Kellert mit ehrlicher Empörung ein. „Eigentlich nicht“, übernahm wieder Brandtstätter das Wort. „Aber er hat mit notwendigen Sparmaßnahmen argumentiert und sich auf einen Eilbescheid berufen. Das stünde ihm als Dekan zu, meinte er. Na, da hätten wir ihm jedenfalls im Fakultätsrat schon noch einen Strich durch die Rechnung gemacht, das können Sie mir aber glauben! Soll er doch auf seinen eigenen Assistenten verzichten! Das war jedenfalls klasse, dass du dem mal so richtig die Meinung gesagt hast.“

„Wieso?“, fragte Kellert dazwischen. Klara Mechtersheim wand sich auf ihrem Stuhl, es war ihr offensichtlich nicht wohl bei diesem Gesprächsthema. „Nun, ich bin ins Dekanat gegangen und habe ihm sehr deutlich gesagt, dass ich sein Vorgehen nicht akzeptiere!“, antwortete sie.

„Gesagt? Komm, Klara, das war schon mehr! Richtig gebrüllt hat sie, das habe ich noch nie von ihr gehört“, – wandte sich Brandtstätter an seinen Sitznachbarn. „Traut man ihr gar nicht zu, oder? Unterschätzen Sie die Klara mal nicht, Herr Kommissar! Die lässt sich ja nicht leicht aus der Ruhe bringen, aber wenn, dann Vorsicht, die Herren vom Gesangsverein! Haha! Na ja, und der Gerstmaier! Klein wie ein Zwerg, stumm wie ein Fisch, eisig wie ein Cornetto Nuss – haha! Dass die Studenten dann auch noch Beifall geklatscht und gejohlt haben, als du die Dekanatstür ins Schloss geworfen hast, das hat ihm dann den Rest gegeben, glaube ich.“

„Jaja, ist ja schon gut“, versuchte ihn die Kollegin zu bremsen, der der Gesprächsverlauf sichtlich unangenehm war. „Wie, die Studierenden haben das mitgekriegt und geklatscht?“, fragte Kellert nach, den diese Geschichte natürlich gewaltig interessierte.

„Ja“, gestand Klara Mechtersheim, „ein paar von der Fachschaft. Die mögen, äh, mochten den Dekan ja auch nicht, weil der sie reihenweise durch die Prüfungen rasseln ließ und überhaupt. Der hatte es nicht so mit den Studierenden. Ich glaube, die waren ihm eher lästig. Das Ganze war trotzdem sehr unangenehm und mir überhaupt nicht recht. Und hat ja Folgen gehabt …“

„Nämlich?“ „Nun, zwei der Studierenden waren auch als Hiwis im Dekanat beschäftigt. Deren Verträge wurden natürlich nicht verlängert. Und zwei anderen hat er angedroht, sie durchs Examen fliegen zu lassen.“ „Kann er das denn?“, wunderte sich Beate Kellert. „Offiziell natürlich nicht“, erwiderte der Österreicher, „aber wenn Sie einen Studenten unbedingt durchfallen lassen wollen, können Sie die mündliche Prüfung schon so gestalten, dass der kaum eine Chance hat.“

„Hmm.“ Kellert schwieg, trank wieder einen Schluck und dachte über das Gehörte nach. „Ach, Herr Kommissar“, unterbrach Professor Brandtstätter seine Gedanken. „Ich muss Ihnen jetzt einfach einmal ein kleines Geständnis machen. Früher, als Bub, da wollte ich auch immer Polizist werden. So wie die Kommissare im Fernsehen. Ihnen kann ich es ja anvertrauen: Der ‚Tatort‘, das war meine Lieblingssendung, nein: ehrlich gesagt ist er das heute noch.“

„Sie wissen aber schon, dass die Wirklichkeit unseres Polizistenlebens ganz anders aussieht, oder?“, fiel ihm Kellert ins Wort. „Aber sicher. Das ist genauso wie bei der Darstellung von Pfarrern im Fernsehen. Weit weg vom wahren Leben. Aber gut, darauf kommt es ja auch nicht an, oder? Ein Film soll unterhalten, aber nicht die Wirklichkeit abbilden, finde ich jedenfalls. Äh, wo war ich gerade?“ Klara Mechtersheim blickte ihren Kollegen mahnend an. Sie mochte alles an ihm, nur nicht seinen Hang zur Geschwätzigkeit. Er ignorierte ihren Blick jedoch, oder hatte er ihn gar nicht bemerkt?

„Richtig, Polizist wollte ich werden. Und nun bin ich Priester, haha. Aber das Erstaunliche ist, dass beide Berufe erstaunlich eng miteinander verwandt sind.“ „So“, knurrte Kellert, „also den Zölibat muss ich nicht leben. Gott sei Dank, hm, Beate?“ Seine Frau lächelte müde. Doch die polternd-bärbeißige Art des Professors, dem sie sich nun wieder zuwandte, gefiel ihr offensichtlich.

„Nein, das nicht“, fuhr der fort. „Aber schauen Sie: Sie und ich haben zu tun mit Schuld. Sie und ich kümmern uns um Opfer und Täter. Sie und ich versuchen mit der Aufklärung und Überwindung von Schuld umzugehen. Sie und ich wollen ein gelingendes Leben für alle sicherstellen.“ Beate Kellert warf ein: „Ach wie interessant! So habe ich das noch nie betrachtet. Bernd, da bist du also fast so etwas wie einPriester!“ Sie grinste ihren Mann an. „Fast, fast!“, fiel der ein. „Vergessen wir bitte die Unterschiede nicht. Die sind letztlich doch weitaus größer! Sie“ – hier wandte er sich an die beiden Theologen – „sprechen doch vor allem von Sünde, oder? Das Wort gibt es bei uns gar nicht.“

„Mag sein, aber sie gehören doch zusammen, Sünde und Schuld!“, warf Frau Mechtersheim vorsichtig ein.

„Wie denn? Sünde – ich weiß wirklich nicht, was das sein soll!“, gab Kellert zurück, während er sich ein wenig wunderte, was für ein Gespräch er hier gerade führte.

„Schauen Sie, das ist einfach!“, dozierte Brandtstätter, sichtlich in seinem Element. „Schuld entsteht dann, wenn man als Mensch absichtlich und selbst verantwortet unter seinen eigenen Möglichkeiten bleibt!“

„So definierst du das, Elmar!“, warf seine Kollegin ein, „das kann man auch ganz anders bestimmen.“ „Ja geh, das interessiert mich nicht!“, erwiderte der Professor.

„Ich meine, wann immer Sie etwas tun oder unterlassen, was Sie eigentlich könnten und sollten, dann werden Sie schuldig. Egal, ob in den kleinen Dingen des Alltags oder in der Tötung eines anderen Menschen. Das gilt übrigens für Einzelne genauso wie für Gesellschaften, also für Staaten – oder auch Kirchen.“

„Und Sünde?“, fragte Beate Kellert nach. Brandtstätters Antwort ließ nicht lange auf sich warten. In solchen Gesprächen, war er offensichtlich ganz in seinem Element. „Sünde, das ist das Bleiben unter den Möglichkeiten, die Gott einem gegeben hat. Also eigentlich dasselbe, nur denkt man dann von Gott aus. Dass Sie und ich, dass jede und jeder von Gott bestimmte Fähigkeiten und Stärken geschenkt bekommen hat. Und wenn man die nicht nutzt oder schlecht nutzt, verstößt man nicht nur gegen sich selbst, gegen die Mitmenschen, sondern eben auch gegen den, der sie uns gegeben hat – Gott.“

‚Jetzt hat er endgültig angefangen zu predigen‘, dachte Kellert. ‚Holen wir ihn mal ein bisschen zurück auf den Boden der Realität.‘ „Das macht aber natürlich nur für solche Menschen Sinn, die an diesen Gott glauben, oder?“, gab er zu bedenken.

„Gewiss, gewiss, auf den ersten Blick schon“, pflichtete ihm Brandtstätter zunächst bei. „Da ich allerdings fest daran glaube, gehe ich davon aus, dass das grundsätzlich für alle Menschen gilt, egal, ob ihnen das bewusst ist oder nicht!“

Kellert strich sich nachdenklich über das Kinn. ‚Sünde, Schuld, Gerstmaiers Umgang mit den Kollegen …?‘ Auch die anderen hatten sich stumm geredet. „Wie wäre es mit einem Cappuccino oder Latte macchiato?“, fragte seine Frau in die plötzliche Stille hinein, was dazu führte, dass der Abend mal ein vergnügliches Ende fand.

Toter Dekan - guter Dekan

Подняться наверх