Читать книгу Toter Dekan - guter Dekan - Georg Langenhorst - Страница 9
ОглавлениеMontag, 10. Mai, vormittags
Lust und Last des Lebens einer Universitätssekretärin
Silvia Hoberg war gern Sekretärin. Als sie vor etwas mehr als dreißig Jahren – tatsächlich, so lange war das schon her! – ihre Arbeit an der Universität von Friedensberg begonnen hatte, war sie eher zufällig an der Katholisch-Theologischen Fakultät gelandet. Im Büro des damaligen Moraltheologen Professor Gerhard Füstner war eine Stelle als Sekretärin ausgeschrieben, und sie hatte sich – damals vierundzwanzig-jährig und fast noch Berufsanfängerin – beworben.
Sehr zu ihrer Überraschung hatte sie die Stelle bekommen, obwohl sie evangelisch war, und das auch eher aus Tradition denn aus Überzeugung. Vom ersten Tag, vom Bewerbungsgespräch an hatte sie sich mit ihrem Chef verstanden. Ohne große Anweisungen oder Absprachen hatte sie sich das Arbeitsfeld selbstständig erschlossen. Füstner war froh über die immer adrett gekleidete, eigenständige, selbstbewusste, stets loyale Mitarbeiterin, die ihm mehr und mehr den Rücken freihielt von unliebsamen Organisationsaufgaben. Und sie genoss die Möglichkeiten zur kreativen Gestaltung und eigenverantwortlichen Tätigkeit in einem angenehmen Arbeitsklima.
Insofern war es nur konsequent, dass er sie einige Jahre später fragte, ob sie die frei werdende Stelle als Dekanatssekretärin übernehmen wollte. Er war gerade zum Dekan ernannt worden und wusste, dass dieses Amt nur mit einer überaus zuverlässigen Mitarbeiterin bewältigt werden konnte. Silvia Hoberg war eigenständig und flexibel, zudem zeitlich verfügbar, weil unverheiratet und ungebunden.
„Der Richtige war eben nie dabei“, sagte sie stets, wenn sie auf dieses Thema in vertrautem Rahmen zu sprechen kam. Und manchmal fügte sie schmunzelnd hinzu: „Oder schon vergeben an Mutter Kirche …“ Insider wussten, dass ihr gerade Füstner nur zu gut gefallen hätte, aber die gesteckten Grenzen waren immer klar und von beiden weder thematisiert noch innerlich – geschweige denn äußerlich – eingerissen worden.
Inzwischen – nach mehr als zwanzig Jahren – hatte sie mehrere Dekane kommen und wieder gehen sehen. Hatte sich daran gewöhnt, mit ganz unterschiedlichen Charakteren und Arbeitsstilen zurechtzukommen. Und war mehr und mehr selbst zur eigentlichen Herrscherin der Fakultät geworden. Die gewählten Dekane brachten meistens wenige Kenntnisse mit, die man zur Leitung einer Fakultät benötigte. Sie verstanden sich als Wissenschaftler, die in ihrem jeweiligen Spezialfach Forschungen betrieben. Das war ihre Welt.
Manche gaben sich darüber hinaus Mühe, Dozenten im eigentlichen Sinne zu sein, Hochschulpädagogen, die ihr Wissen so gut wie möglich an ihre Studierenden weitergeben wollten. Was sie jedoch allesamt nicht waren: Verwaltungsexperten; Leiter von Großinstitutionen wie einer Fakultät. Das hatten sie nicht gelernt, das wollten sie auch gar nicht. Die Pflichten der universitären Selbstverwaltung nötigten ihnen das Amt freilich auf, ob von ihnen gewollt oder nicht, ob dazu befähigt oder nicht.
Fast alle waren heilfroh, wenn sie das Amt wieder los waren, im Normalfall nach zwei Jahren. Und dazwischen ließen sie die Dekanatssekretärin gewähren. Sie kannte die Strukturen, die wichtigen Mitarbeiter in Universitätsleitung, Verwaltung und Bistum, die Dienstabläufe, die Zeitvorgaben der immer wiederkehrenden Aufgaben eines Semesters.
„Hobi macht das schon“, so lautete ein geflügeltes Wort in der Fakultät. „Hobi“, ihr Spitzname, gefiel Silvia Hoberg eigentlich nicht. Aber inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Wie an so vieles. Doch trotz der Routine, die sich im Laufe der Jahre eingestellt hatte, trotz der Hektik im Dekanatsbüro, in dem sich Professoren, Mitarbeiter des akademischen Mittelbaus und Studierende buchstäblich die Klinke in die Hand gaben, alle mit einem wichtigen und eiligen Anliegen, trotz alldem ging sie fast jeden Morgen gern zur Arbeit. Irgendwie war sie auch mit allen Dekanen gut ausgekommen. Das lag wohl an ihrem einzigartigen Talent, sich auf ganz unterschiedliche Menschen gut einstellen zu können und trotzdem immer ganz und gar sie selbst zu sein. „Hobi“ eben.
Umso schwerer fiel es ihr zu akzeptieren, dass sie mit dem jetzigen Dekan, Professor Gerstmaier, beim besten Willen nicht klarkam. Es passte einfach nicht. Er hatte von vornherein ihre starke Stellung in der Fakultät zu untergraben versucht, hier kritisiert, dort eingeschränkt. Viele Prozesse liefen nun an ihr vorbei, andere musste sie Schritt für Schritt durch den Dekan absegnen lassen.
Sie hatte nun wirklich versucht, sich auf den neuen Chef einzustellen und trotzdem ihre Eigenständigkeiten zu bewahren. Umsonst. Menschliche Wärme wollte sich einfach nicht einstellen. Früher war das Dekanat ein Ort von Humor und Geselligkeit gewesen. Hier war Raum für private Sorgen und Freuden, hier wurde auch gelacht, gelästert, Neues ausgetauscht, Altes umgewälzt. Seit Gerstmaier die Fakultät leitete, gab es all das nicht mehr.
Silvia Hoberg hatte sich allmählich damit abgefunden und sich auf die routiniert beherrschten Arbeitsabläufe konzentriert. Ohne dass es je zu einem lauten Streit zwischen ihr und ihrem jetzigen Chef gekommen wäre, hatte sie sich in ihr eigenes inneres Reich zurückgezogen. „Sie kommen mir vor wie in einer Art inneren Emigration“, hatte Füstner, ihr alter Chef und bleibender Vertrauter, ihr einmal bei einer Tasse Kaffee in der Fakultätscafeteria sanft vorgeworfen.
„Stimmt schon, Chef“, hatte sie in alter Verbundenheit und Anrede zurückgegeben. „Aber auch dieses Dekanat geht vorbei, und mit Kösters“ – Hermann-Josef Kösters war der Professor für die Exegese des Neuen Testamentes, derzeit Prodekan und damit designierter Anwärter auf das nächste Dekansamt – „mit Kösters wird das schon wieder passen.“
Dann war aber alles anders gekommen. Gerstmaier hatte zur Überraschung aller für eine zweite Dekanatszeit kandidiert. Kösters, froh, sich weitere zwei Jahre nur der geliebten Forschung und der gewohnten Lehre widmen zu können, hatte den Vorschlag vehement unterstützt, wohl wissend, dass nicht alle in der Fakultät eine Fortsetzung des Dekanats Gerstmaier gutheißen würden.
Angesichts dieses einmütigen Vorschlags hatte der Fakultätsrat den einzigen Kandidaten Gerstmaier tatsächlich in geheimer Wahl wiedergewählt, auch wenn es anfangs beträchtliche Vorbehalte gegen eine zweite Amtszeit gegeben hatte. Letztlich wurde er jedoch mit erstaunlich deutlichem Ergebnis in seinem Amt bestätigt. Sichtlich verärgert hatte der Dekan die skeptischen bis kritischen Äußerungen im Vorfeld registriert.
Und seitdem regierte er die Fakultät mit eiserner Hand. Die ehemals kollegiale, konstruktiv-kooperative und leichte Stimmung im Kollegium war verschwunden. Jeder versuchte, sich nach bestem Vermögen auf seinen eigenen Bereich zu konzentrieren, dort gute Arbeit zu leisten und mit den Mitarbeitern am jeweiligen Lehrstuhl gut zurechtzukommen.
Dass Silvia Hoberg trotzdem weiterhin gern zur Arbeit ging, lag hauptsächlich an zwei Faktoren. Zum einen mochte sie den Trubel, die vielen unterschiedlichen Menschen, mit denen sie zu tun hatte. Auf ihrem Schreibtisch stand immer eine Schale mit Süßigkeiten zur Selbstbedienung. In der Kaffeemaschine des Dekanats fand sich immer ein rettender Trank für Stressgeplagte, und wenn nötig, brühte sie auch einen Tee auf.
Der andere Grund für ihre – nach wie vor ungebrochene – Freude an der täglichen Arbeit war ihr guter Kontakt zu ‚ihren Studis‘. Jahr für Jahr wählten die Studierenden eine fünfköpfige Fachschaft. Das waren eigentlich immer besonders engagierte und eifrige Studentinnen und Studenten, die sich nicht nur für ihre eigenen Belange einsetzten, sondern auch das Wohl der ganzen Fakultät vor Augen hatten.
Silvia Hoberg hatte es sich angewöhnt, die ihr am besten geeigneten Fachschaftsvertreter zugleich als studentische Mitarbeiter für das Dekanat zu gewinnen. So ließen sich einerseits die Kommunikationswege zwischen Fakultätsleitung und Studentenschaft ganz eng verknüpfen, andererseits konnte sie auf verlässliche und einsatzfreudige ‚Hiwis‘ zurückgreifen.
Dass diese Regelung ihre eigene Machtposition zusätzlich stützte, war ihr wohl eher instinktiv bewusst, als dass sie dies strategisch einsetzte. Enttäuscht worden war sie von diesen studentischen Mitarbeitern fast nie. Im Gegenteil: Meistens duzte man sich schon nach wenigen Wochen. Und ihr, der alleinstehenden Vierundfünfzigjährigen, tat der intensive Austausch mit ‚ihren jungen Leuten‘ gut.
Als sie am zehnten Mai die Tür zu ihrem Sekretariat aufschloss, war sie gut gelaunt. Ein erholsames Wochenende lag hinter ihr. Sie hatte eine alte Schulfreundin in Freiburg besucht, der Austausch der Erinnerungen hatte einen Wärmestrom pulsieren lassen, den sie immer noch als angenehme Tiefenstimmung spürte. Der sonnige, warme, blau strahlende Maimorgen tat sein Übriges.
Sie war die zwei Kilometer von ihrer Wohnung an die Arbeitsstätte zu Fuß gegangen. Zwar hätte sie dabei lieber den Vögeln gelauscht, die sich in den zartgrün sprießenden Ästen des Stadtparks einander überbietende Melodien zuflöteten, aber sie mochte auch das tobende Lärmen der Kinder auf dem Weg zu ihren Schulen oder an den überfüllten Bushaltestellen. ‚Leben‘, dachte sie, ‚so muss es sein!‘
Silvia Hoberg hängte ihre Kostümjacke über den Schreibtischstuhl und öffnete das große Fenster so weit wie möglich, um die milde Frühlingsluft einzulassen. Ein frischer Blütenduft vertrieb binnen kurzer Zeit den leicht muffigen Bürodunst, der über das Wochenende Besitz von ihrem Raum ergriffen hatte. „Verena!“, rief sie durch die offene Tür zur anderen Seite des Flures hinüber. „Verena, bist du schon da?“
Eine Frage, auf die es wenn, dann nur die Antwort „ja“ geben konnte, aber diese Antwort blieb aus. Verena Obmöller, Studentin der katholischen Theologie und Germanistik für das Lehramt am Gymnasium im achten Semester, war schon seit mehr als zwei Jahren als studentische Hilfskraft im Dekanat beschäftigt. Sie war zur rechten Hand der Dekanatssekretärin geworden und trotz des Altersunterschieds fast so etwas wie eine Freundin. Montags war sie meistens als Erste im Dekanat und hatte dann bis mittags dort Dienst. Heute allerdings war sie ganz gegen ihre sonstige zuverlässige Art noch nicht erschienen.
„Morgen“, tönte eine hohe männliche Stimme durch die offene Tür, als die Sekretärin gerade dabei war, ihren Computer hochzufahren. Erschrocken zuckte sie zusammen, erblickte dann aber das vertraute Gesicht von Dr. Winfried Schachner, Assistent im Fachbereich Dogmatik. „Ist der Chef da?“, fragte er und wies mit dem Daumen der rechten Hand auf die Zimmertür direkt neben dem Dekanatssekretariat, eben auf das Dienstzimmer des Dekans. „Nein, der kommt doch montags immer erst gegen zehn“, erwiderte die Sekretärin, „kann ich ihm vielleicht etwas ausrichten?“
Sie kannte Dr. Schachner nicht besonders gut, er war erst vor eineinhalb Jahren von der Universität in Regensburg hierhergekommen, um sich in seinem Fach zu habilitieren. Wie etwa die Hälfte des wissenschaftlichen Personals an der Fakultät war auch er Kleriker und betreute zusätzlich zu seiner wissenschaftlichen Tätigkeit eine kleine Gemeinde am Rand von Friedensberg. Er konzentrierte sich wohl auf seine doppelte Arbeit als Seelsorger und Wissenschaftler, so dass ihm kaum Zeit blieb, um aktiv am Leben der Fakultät teilzunehmen.
Als einziger unter den Priestern an der Fakultät hatte der asketisch wirkende, schlanke, kleinwüchsige Mittdreißiger ständig den gestärkten weißen Priesterkragen umgelegt, neben dem Dekan natürlich, der auf derartige Äußerlichkeiten außerordentlich großen Wert legte. War das ein Zeichen einer eher konservativen Gesinnung? Nun antwortete er: „Nein danke, das erledige ich lieber selbst. Komme später noch einmal vorbei.“ Und schon war er wieder grußlos verschwunden.
Silvia Hoberg schüttelte noch unmerklich den Kopf, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch läutete. „Ja, hier Dekanat Katholische Theologie, Hoberg am Apparat“, meldete sie sich. Sie lauschte in den Hörer hinein. „Ach, Herr Professor Badstüber!“ – das war der Dekan der Juristischen Fakultät vom Gebäude direkt auf der anderen Seite der breiten Allee, an der das Fakultätsgebäude lag. „Nein, der ist noch nicht da!“, sagte sie dann und lauschte erneut. „Was, Sie haben sich verabredet?! Schon vor einer Viertelstunde! Das sieht dem Herrn Dekan aber gar nicht ähnlich, weil er doch immer so viel Wert auf Pünktlichkeit legt. Moment, ich sehe zur Sicherheit doch lieber einmal nach. Bleiben Sie am Apparat, bin sofort zurück!“
Sie nahm den Schlüsselbund, ging zur Tür des Dekanzimmers, klopfte zur Vorsicht dreimal, lauschte, drückte den Türgriff nach unten, fand die Tür zu ihrer Überraschung unverschlossen und trat dann vorsichtig ein. Das Nächste, was Professor Badstüber durch das Telefon hörte, war ein Schrei, wie er ihn noch nie gehört hatte und den er nie wieder vergessen sollte …