Читать книгу Das Schützenhaus - Georg Lentz - Страница 4
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ОглавлениеNiemals werde ich den Tag vergessen, an dem wir das Schützenhaus besuchten. Der frühere Besitzer war gestorben, das Anwesen verwaist. Mein Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, das Schützenhaus zu neuem Leben zu erwecken. »Ich will das«, hatte er gesagt, zu unser aller Erstaunen, denn er war nicht der Energischste. »Du?« hatte denn auch Deli gefragt, meine Tante, die die Mutterstelle bei uns einnahm, »ausgerechnet du? Walter Pommrehnke, der nie in seinem Leben einen Finger krumm gemacht hat?«
Sie lehnte in der Tür zum Schlafzimmer, damals wohnten wir Königstraße, zwei Treppen, eine weitläufige Wohnung gegenüber dem Park, mit Zentralheizung. In das Schlafzimmer meines Vaters führte eine Doppeltür. Sie stand meistens offen, beide Flügel, mein Vater liebte es, im Bett zu liegen. Er verbrachte ganze Tage im Bett. Die Nächte sowieso, aber morgens, wenn er sich rasiert hatte, legte er sich wieder hin, rauchte eine Zigarre und las die Zeitungen. »Lokal-Anzeiger«, »Morgenpost«. Manchmal, wenn jemand sie ihm mitbrachte, die »Berliner Zeitung«.
Deli hieß mit vollem Namen Adele. Sie hätte es gern gehabt, wenn wir sie so genannt hätten, das betonte sie zuweilen. Doch jeder nannte sie Deli. Sogar die Lieferanten nannten sie »Frau Deli«. Meine Tante war nach dem Tod meiner Mutter zu uns gekommen, mit Anneli, ihrer Tochter, einem verhärmten, blassen Mädchen. Einen Vater zu Anneli gab es nicht. In Tante Delis Schilderungen wechselte diese Bezugsperson, einmal war es ein Brasilianer, einmal Nikko der Teufelsgeiger, Primas einer ungarischen Salonkapelle, die durchgereist war, oder gar der Geheimrat – »Gott hab ihn selig« –, bei dem Tante Deli in Stellung gewesen war. In ihren Erzählungen hieß das: »Ich habe ihm das Haus geführt.« Meistens fügte sie an, daß dort allerdings solche Lümmel wie wir, mein Bruder Joachim und ich, der kleine Hansi, in die Schranken gewiesen worden wären. »Wie es hier zugeht – der Herr Geheimrat hätte das nie geduldet.«
Der Herr Geheimrat war verblichen, unsere Mutter lag auf dem Friedhof an der Waldfriedenstraße, Joachim bastelte in seiner Dunkelkammer im Keller. Ich malte mit Wasserfarben, Flugzeuge vornehmlich, denn ein berühmter Mitbewohner dieses Mietshauses – das übrigens uns gehörte –, Günther Plüschow, war mit seiner Silbercondor über Feuerland geflogen, oder ich hatte die Erlebnisse des Roten Barons, des Jagdfliegers Manfred von Richthof en, verschlungen, damals las ich drei oder vier Bücher pro Woche und malte rote Fokker-Dreidecker. So genau weiß ich das nicht mehr, in der Erinnerung verschiebt sich manches.
Genau weiß ich jedoch, wie Tante Deli in der Tür lehnte, im Schlafzimmer mein Vater im Bett, Zigarre in der Hand, der Rauch zog schräg zum Fenster hinüber, das einen Schlitz breit offenstand. »Du? Walter Pommrehnke, der nie in seinem Leben einen Finger krumm gemacht hat?«
Mein Vater wedelte mit seiner Zigarre, er saß aufrecht im Bett, viele Kissen im Rücken, und unter dem Bett sah die schokoladenfarbene Schnauze unseres Hundes hervor, eines Hühnerhundes namens Zeppelin, Anneli rief ihn Zellepin. Tante Deli, wenn sie ihre Monologe hielt, verharrte in der Tür, wechselte allenfalls Stand- und Spielbein. Sie dort in der Tür, mein Vater im Bett: Das war ihre Art, Dinge zu besprechen. Wobei es nicht nötig war, daß mein Vater ein einziges Wort sagte, es genügte, wenn er brummte. Das Brummen hielt Tante Deli in Gang. »Ich möchte wissen, was das für ein Wirt ist, der seinen Hintern nicht aus der Furzmulle hochkriegt. Meinst du, die verlegen dir den Zapfhahn ans Bett? Und wenn Schützenfest ist oder eine Hochzeit oder Veranstaltungen, Vereine zum Beispiel. Da kommen hundert Gäste oder noch mehr. Der Herr Wirt liegt dann im Bett und raucht seine Zigarre. Meinst du, damit ist es zu schaffen? Ich weiß, du spekulierst drauf, daß ich eingreife. Deli für alles, wie? Deli, die schon dem Herrn Geheimrat die Wirtschaft gemacht hat, sie ist ja darauf angewiesen, eine arme Verwandte mit unehelichem Kind. Ich will dir mal was sagen, an jedem Finger könnte ich zehn haben. Zehn Männer, jawohl. Mit Freuden würden sie mich nehmen, mit Anneli.«
Mein Vater grinste. Ich drückte mich hinten im schlecht beleuchteten Flur herum, ließ die Farben eintrocknen auf meiner Malerei, das Bild würde versaut sein, Aquarellfarben muß man schnell bearbeiten, das hatte mir unser Zeichenlehrer beigebracht.
Tante Deli wechselte Stand- und Spielbein, dann fuhr sie fort: »Wenn du denkst, du hast eine billige Arbeitskraft an mir, so hast du dich in den Finger geschnitten. Ich bin zu dir gekommen nach dem Tod von Lucie, deiner Frau, meiner Schwester immerhin. Weshalb ist Lucie krank geworden und gestorben? Nein, nein, ich will dich nicht beschuldigen. Lucie war immer schwach. Dabei fällt mir ein, ich muß Mohrrüben kaufen, die Jungs sind blasser als meine Anneli. Großstadtluft. Ich glaube, sie sind rachitisch. Englische Krankheit. Das ist möglich, oder? Die Großstadtluft. Wir sollen hier eine richtige Dunstglocke haben, die Sonne kommt nicht durch. In der ›Morgenpost‹ stand ein langer Artikel. Sag mal, du bist wirklich entschlossen, willst das Schützenhaus übernehmen?«
Mein Vater nickte. Die Zigarre wippte auf und nieder wie ein Schlagbaum. Im Licht, das durch die hohen Fenster fiel, leuchteten seine blauen Augen. »Wer rastet, der rostet«, sagte Vater. »Als Nachkomme von Millionenbauer Pommrehnke das Erbe verprassen, das liegt mir nicht.«
Eine Rede solcher Länge hatte ich selten aus Vaters Mund vernommen, außer, er berichtete über seine Erlebnisse als Leibgarde-Husar. Daß er sich hinter einem Sprichwort verschanzte, bewies mir, daß er ernst machen würde. Vergleichsmöglichkeiten standen mir offen. Bevor Vater mir oder Joachim eine runterhaute, sagte er jedesmal: »Unverhofft kommt oft.«
Nun das Schützenhaus. Bedeutete das Umzug? Wir lebten behaglich hier, das Haus in der Königstraße gehörte uns, ein paar andere die Straße hinauf ebenfalls und eine Mietskaserne in der Großgörschenstraße. Großvater Pommrehnke, der »Millionenbauer«, hatte sein Geld gut angelegt, als er den Hof an Bauspekulanten verkaufte. Die Stadt dehnte sich aus, die Bauern trennten sich von ihren Äckern. Meistens lebten sie danach flott, in wenigen Jahren schmolz das Geld dahin.
Anders mein Großvater, er legte an. Kaufte Mietshäuser aus Pleiten, manchen Bauherren war das Geld ausgegangen. Er hatte auch mit dem Verkauf seines Hofes gewartet, bis rings umher die Rohbauten der Häuser aufschossen, die Spekulanten die Lücken dazwischen ärgerten und sie schließlich eine, wie Großvater sagte, schwindelnde Summe boten.
Diese Einzelheiten waren mir vertraut, oft wurde darüber geredet, mindestens kamen sie wiederholt in Tante Delis Monologen vor. Und auch Großvater und Großmutter, die wir in den Sommerferien regelmäßig besuchten, sprachen gern über jene Tage des – heute würde man sagen – Baubooms.
Natürlich war mir, genau wie Joachim und Anneli, dies alles bekannt, aber es hatte keine Bedeutung für mich, blieb ohne Zusammenhang, entzog sich meiner Beurteilungsmöglichkeit. An jenem Tag jedoch spürte ich, daß unser Leben sich verändern würde, daß diese Veränderung etwas mit dem Willen meines Vaters zu tun hatte und nicht mit »den Umständen«. Mein Vater sagte zuweilen, den Umständen entsprechend gehe es uns gut.
Ich schlich zu meinem Bruder Joachim hinunter. Ausnahmsweise ließ er mich gleich ein, als ich an die Tür seiner Dunkelkammer klopfte. Rotes Licht beleuchtete seine Hände. Im Fixierbad schwamm die Vergrößerung eines Fotos: der Kopf einer Libelle. Joachim hatte sie im Sommer fotografiert, als wir bei den Großeltern in Lindow waren, mit einer selbstgebastelten Vorsatzlinse. »Schau dir die Augen an«, sagte Joachim. »Der Mist ist, daß man so eine Fotografie nur wenigen zeigen, sie allenfalls drucken kann. In der ›Berliner Illustrierten‹. Aber ob die auf meine Fotos warten? Man muß Filme drehen. Man muß das filmen, verstehst du? Und in einem Saal zeigen. Tausenden muß man das zeigen.« Er kniff mich in den Arm, die andere Hand bewegte mittels einer Wäscheklammer das Foto im Fixierbad. Joachim hatte die Klammer der Länge nach gespalten. Mit darübergezogenen Gummiringen bewegte er sie wie chinesische Eßstäbchen.
Mich interessierte sein Steckenpferd nicht. »Stell dir vor«, flüsterte ich überflüssigerweise, »Vater will das alte Schützenhaus kaufen und Gastwirt werden. Tante Deli hat Schiß, daß sie die Arbeit machen muß.«
Joachim sah mich durch seine Brille an, er trug eine Korrekturbrille wegen seiner Schielerei. Man wußte trotz der Brille nicht genau, wohin er blickte, aber da er mir das Gesicht zuwandte, rot beschienen und wie aus Wachs, nahm ich an, daß er mich im Fokus hatte. »Ist doch Klasse«, sagte mein Bruder. Er nahm das Bild der Libelle aus dem Fixierer und warf es ins Wasserbad. »Unheimlich Klasse.« Er knipste die normale Birne über dem Waschtisch an, das Licht blitzte auf seinem linken Brillenglas. »Verstehst du nicht?«
Ich verstand nicht. »Guck mal«, sagte Joachim mit einer Geduld, die ich vorher nicht an ihm beobachtet hatte, »das Schützenhaus hat doch einen Saal?«
»Zwei. Einen großen Saal, sagt Tante Deli, und einen kleinen, eine Art Hinterzimmer, wo sie die Hochzeit gefeiert haben, als die Schlanstedtsche heiratete.«
»Eben. Wozu dient ein Saal?« Joachim kniff mich in den Arm, es tat weh.
»Laß das«, sagte ich. »Ein Saal dient zum Tanzen, zum Feiern. Die Erwachsenen betrinken sich, und sie werden laut, dann singen sie ›Die blauen Dragoner, sie reiten‹, und manche fallen unter den Tisch. Manche Männer fassen auch den Frauen vorne ins Kleid.«
Joachim lachte. »Was du schon alles weißt.«
»Knallkopp«, murmelte ich. Er war zwölf, ich zehn. »Zwei Säle«, sagte ich. »Wieso interessieren dich die?«
»Hast du gehört, wann sie hinwollen? Besichtigen sie das Schützenhaus?«
»Heute nachmittag, glaube ich.«
Joachim öffnete die Tür. »Wir gehen mit. Ich will wissen, ob man in dem Saal Kino machen kann. Erst einmal im kleinen Saal, später im großen.«
Das Bild von der Libelle schwamm unbeachtet im Wasser. »Willst du es nicht aufhängen? Zum Trocknen?« fragte ich.
Joachim winkte ab. »Später. Ich muß jetzt das Ohr am Puls der Zeit haben.«
Er redete oft so geschraubt, ich wußte nicht, was er meinte und wo er diese Ausdrücke herhatte.
Meine Tante stand immer noch in der Tür, als ich aus Joachims Dunkelkammer zurückkam. »Wenn du das Schützenhaus im Hellen sehen willst, solltest du deinen Hintern aus den Federn wuchten«, ermahnte sie meinen Vater. Sie löste sich von ihrem Platz, ging auf das Bett zu. Mein Vater legte die Zigarre in den Aschbecher auf dem Nachttisch. Zeppelin rückte unter dem Bett vor, ein paar Zentimeter, sein Kopf wurde sichtbar, die krause Schokoladennase. Er knurrte.
Zeppelin knurrte Tante Deli an. Mein Vater nahm einen seiner Pantoffeln, die vor dem Bett standen, und schlug Zeppelin auf die Nase. Ein Klaps nur. Zeppelin kroch unter dem Bett hervor und beschnupperte meine Tante, als habe er nie jenes Zeichen des Abscheus gezeigt, als habe er nie geknurrt. So weit ging Zeppelin allerdings nicht, daß er mit dem Schwanz gewedelt hätte. Tante Deli schlug die Decke zurück, mein Vater wälzte sich aus dem Bett. Er trug ein Nachthemd mit blauweiß gebördelten Nähten. Ein langes Nachthemd. Unter dem Saum sahen die Füße hervor, käsig, die großen Zehen mit starken Fußnägeln. Er fuhr in die Pantoffeln. Joachim und ich standen jetzt in der Tür, dort, wo vorher Tante Deli Posten gefaßt hatte – einer ihrer Ausdrücke: »Ich fasse da Posten, bis du aufstehst.« Oder: »Ich fasse hier Posten, bis die Frage des Wirtschaftsgeldes geklärt ist.«
Mein Vater schlurfte an uns vorbei ins Badezimmer, wir mußten einen Schritt zurücktreten. Dann hörten wir, wie er das Rasiermesser auf dem Lederriemen wetzte. Tante Deli schüttelte die Kissen auf. Von der Zigarre im Aschbecher stieg ein Rauchfaden auf, immer dünner werdend.
Die wenigen Male, da wir die Wohnung verließen, geschah es in immer gleicher Gruppierung. Vorneweg Hef Zeppelin, die Nase am Boden, verfolgt von der hüpfenden Anneli, die wiederholt ihr »Zellepin« in die Natur hinausschrie. Dahinter mein Vater, einen erkalteten Zigarrenstummel im Mundwinkel. Ab und zu brummte er, niemand wußte, ob dieses Brummen Behagen oder Mißbehagen ausdrückte. Entfernte sich Zeppelin, so blieb mein Vater stehen, nahm die Zigarre aus dem Mund und pfiff. Befand sich Zeppelin in Wurfweite, nahm mein Vater einen Stein auf und warf ihn in Richtung des Hundes. Mein Vater konnte weit werfen. Manchmal verrechnete sich Zeppelin und wurde getroffen. Er jaulte, Anneli stürzte zu ihm hin, kniete sich neben ihn und umarmte ihn. Zeppelin blickte vorwurfsvoll nach rückwärts, wo mein Vater, die Zigarre wieder im Mund, zufrieden brummte.
Hinter meinem Vater ging Tante Deli, mit kurzen Schritten, die Hände in den Taschen ihres weitgeschnittenen Kleides oder eines entsprechenden Mantels. Alle Kleidungsstücke hingen an ihr. Den Kopf streckte sie vor.
Joachim und ich bildeten den Schluß. Wir gingen nebeneinander, ich hörte Joachim zu, der seine Ideen entwickelte, wie jene vom Baumhaus: Im Park gegenüber wollte er, im Wipfel einer Linde, ein Baumhaus bauen, jedoch nur aus »natürlichen« Ästen, wie er sagte. Er haßte es, wenn man nicht harmonierende Baustoffe verwendete. »Bretter, wie sieht das aus«, sagte er. »Bretter sind Fremdkörper. Außerdem fällt so ein Baumhaus aus Brettern unseren Feinden auf. Hingegen – wieder so ein geschraubtes Wort –, hingegen, wir sammeln Äste, dickere und dünnere. Die dickeren sind Unterlage und Stütze. Die dünneren verflechten wir. Das ist Statik, verstehst du?« Er blickte mich an, jedenfalls wendete er mir sein Gesicht zu. Ich nickte beflissen, obwohl ich nichts verstand. Vielleicht konstruierten wir dieses Statikhaus hoch oben in der Linde. Meistens blieb es beim Pläneschmieden.
Ich sehe uns den Kamm eines flachen Hügels entlanggehen, gegen das Sonnenlicht gleichen wir Schattenrissen. Es ist, als beobachtete ich uns von einem tiefer gelegenen Ort, und zugleich bin ich dabei, dort oben, eine winzige Gestalt gemessen an dem kolossal wirkenden Vater, der dürren, hoch aufgeschossenen Tante, sie befand sich im letzten Stadium einer Art Magersucht, ein Jahr später begann sie Fett anzusetzen. Nur Anneli war kleiner als alle, ihre Glieder, die sie hüpfend warf, sahen aus wie Stecken. Wir gingen vorbei an dem Gutshof, auf dem sich eine alte Reitbahn befand. Zeppelin verschwand, wir hörten ihn zwischen den Ställen kläffen. Anneli rief »Zellepin«, mein Vater brummte »Scheißtöle, verdammte« und blieb stehen. »Ich sag’ immer, der Hund muß an die Leine«, schimpfte meine Tante, »eines Tages wird er jemand beißen. Einen Menschen. Vielleicht ein Kind. Oder ein Pferd. Dann ist der Schaden groß. Wer soll das zahlen? Hab’ ich dir erzählt, wie mich unser Hund in den Bauch gebissen hat? Ich war noch ein Kind, wir hatten einen Schäferhund, Wotan, der hatte Angst vor Gewitter. Ich auch. Es donnerte, ich unters Sofa, Wotan ebenfalls. Wir prallten zusammen, unter dem Sofa. Vor Schreck biß er mich in … da kommt ja Zeppelin. Zeppelin! Komm her! Guter Hund.«
»Scheißtöle«, brummte mein Vater. Wir gingen weiter. Joachim sagte: »Wir könnten eine elektrische Leitung ins Baumhaus legen, von der Wohnung aus. Schwachstrom. Wir könnten Morseapparate bauen und Nachrichten senden. Kannst du morsen?«
»Nein«, sagte ich erstaunt. Joachim schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht«, sagte er.
Links entlang verlief der Sandweg, gelber märkischer Sand mit tiefen Wagenspuren. Akazien wuchsen auf beiden Seiten, ihre Kronen berührten einander, der Weg wirkte wie ein grüner Tunnel. Selten ging hier jemand entlang. Wir stolperten über Wurzeln, jetzt im Gänsemarsch, Joachim ging vor mir. Er machte kleine Schritte, den Oberkörper aufgerichtet. Seine langen Arme schlenkerten wie die Arme unseres Vaters, der allerdings von Zeit zu Zeit die Jacke aufknöpfte und die Daumen in die Armlöcher seiner Weste steckte. Er trug Anzüge aus festem Tuch, ein Anzug hielt viele Jahre.
Der Weg streifte eine Ecke der Laubenkolonie Tausendschön. Dann führte eine schmale Brücke über den Graben, einen tief zwischen Böschungen versenkten Wasserlauf, der in einem verschilften Teich endete. Schließlich überquerten wir eine Chaussee. Auf der anderen Seite, unter Ulmen und Kastanien, lag das Schützenhaus.
Das Anwesen wirkte verlassen. Mannshohes Gebüsch wucherte und verdeckte zum Teil die einst weißen, von Fachwerkbalken gegliederten Mauern. Faulende Stufen führten zu einer Holzveranda, die sich an der gesamten Vorderseite des Haupthauses hinzog. Die Fenster waren mit rohen, ungehobelten Brettern verschalt. Eine Reklame für Berliner Kindl-Bier hing an einem Nagel schräg herab. Ein Teil der Dachrinne hatte sich gelöst.
Zeppelin verschwand in den Büschen. Wir gingen ums Haus. Der saalartige Bau an der Rückseite machte einen stabilen Eindruck. Die Kegelbahn daneben sah sogar aus, als sei sie kürzlich benutzt worden. Die Kugeln lagen blank der Reihe nach in einer hölzernen Rinne, alle neun Kegel waren am anderen Ende aufgestellt. Doch konnten wir die Kegelbahn nicht betreten, weil davor ein breiter Streifen Brennesseln wucherte. »Entenfutter«, sagte mein Vater. »Wir sollten einen Teich anlegen und Enten züchten.«
Wir gingen weiter. Joachim meinte, wir könnten unser Baumhaus hier bauen, dies sei »die wahre Wildnis«. Tante Deli nahm die Hände aus den Taschen und fuchtelte vor Vaters Nase. »Du denkst doch nicht ernsthaft daran, diese Klitsche zu übernehmen?« fragte sie. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Dies ist ein Schuppen. Die Kosten, bis das alles repariert ist. Wie wird es erst innen aussehen. Verfault wird alles sein, die Wasserrohre zerbrochen. Und die Elektrizität? Bestimmt sind die Wände feucht, der Pilz nistet in den Mauern. Wer soll das bewirtschaften? Das Haus ist nicht zu retten. Ein Haus muß bewohnt werden. Wie lange steht das schon leer? Wenn die von der Brauerei das sehen, geben sie auf, das wette ich. Und der Schützenverein wird sich daran gewöhnt haben, seine Feste woanders zu feiern. Warum sollen die Schützen zurückkommen? Hier sagen sich Hund und Katze gute Nacht. Niemand kommt hier heraus. Das Bier wird schal. Wir leben doch nett. Warum also.«
Wir waren auf den Wall vom Schießstand geklettert. Disteln blühten blau. Mein Vater zündete sich den Zigarrenstummel neu an. »Schön ist es hier, findet ihr nicht?« fragte er. Joachim plinkerte mit den Augen. Tante Deli stand hoch aufgerichtet und sagte, entgegen ihrer Gewohnheit, kein Wort mehr.
Auf der Straße schoß ein Bursche auf einem Fahrrad heran, dessen Speichen in der Sonne blitzten. Mein Vater sagte: »Seht, Sternchen Siegel mit dem Schlüssel.«
Ich erinnere mich, daß mein Blick jedoch auf Anneli fiel, die uns hüpfend umkreiste. Ich erinnere mich genau, nach so vielen Jahren, genauer als an Tante Delis Monologe, die ich nur ungefähr wiedergeben kann, daß ich in diesem Augenblick Anneli nicht als das kleine, magere Mädchen sah, das sie war, sondern als – wie soll ich sagen – als Frau. So, wie man sich angesichts der Puppe den Schmetterling vorstellt, der aus dieser Hülle ausschlüpfen wird, sah ich in Anneli das herangereifte weibliche Wesen. Heute frage ich mich, wie so etwas geschehen konnte, da ich selbst, unerweckt und noch verschont von gewissen Gefühlen, keine Möglichkeit für Erkenntnisse und Vergleiche in dieser Richtung hatte – so meine ich wenigstens. Dennoch, ich sah diese Anneli, für den Bruchteil von Sekunden. Ich vergaß es nie, die ganze Zeit nicht, bis Anneli, Jahre später, dieses Bild erfüllte, und ich habe es bis heute nicht vergessen.
Wie mir denn überhaupt jene Szene noch eindringlich vor Augen steht, der Vater auf dem Wall der Schießstände, überlebensgroß, wie er mir stets erschien, eine Autorität, die nicht angezweifelt wurde, nicht von mir, nicht von Joachim, auch von der Tante nicht.
Dieser Mann, der nichts tat, wortkarg seine Tage im Bett dahinlebte: Was zeichnete ihn aus? Wieso erschien er uns so übermächtig? Vater. Für uns, für Joachim und mich der Vater. Aber für Tante Deli?
Anneli vielleicht, denke ich heute, unterlag nicht seinem Einfluß. Sie schwirrte um diesen Mächtigen wie ein Insekt, manchmal in der Gefahr, von ihm mit einer imaginären Fliegenklatsche erwischt zu werden, generell aber auf die Gutmütigkeit dieses Elefanten bauend, solange sie klein und unansehnlich war. Später, weiß ich, setzte sie eben jene Mittel ein, die meinem Phantasiebild von ihr entsprachen.
Sternchen Siegel legte sich in die Kurve und bremste sein Rennrad vor uns ab. Es war ein schönes Rad, um das ich ihn sofort beneidete, mit vernickeltem Rahmen, die Räder Holzfelgen. Das Rad mußte ein Vermögen gekostet haben. »Herr Pommrehnke«, rief Sternchen Siegel, ein wenig außer Atem, »ich bringe die Schlüssel.«
Wir kannten Sternchen, er führte gelegentlich Aufträge für uns aus. Das Fahrrad war neu, ebenso die Schiebermütze, die Sternchen verkehrt herum auf dem Kopf trug, den Schirm nach hinten. »Toller Bock«, flüsterte Joachim und meinte das Fahrrad.
Die Tür zum Schankraum ließ sich nur mit Mühe öffnen, feuchte, nach schalem Bier riechende Luft schlug uns entgegen. Es war dunkel, das Licht funktionierte nicht. Sternchen und mein Vater gingen vors Haus und rissen Bretter von der Fensterverschalung ab. Als unsere Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannten wir die Theke mit Zapfhähnen, ein Regal, auf dem Gläser und Flaschen blitzten, ein anderes mit Pokalen. Offenbar hatten die Schützen ihre Trophäen hiergelassen. An die negativen Worte meiner Tante denkend, berechtigte mich das zu der Hoffnung, daß wir hier einziehen würden. Ein ganzes Schützenhaus für uns! Und der verwilderte Park, die Festwiese, der Schießstand. Wenn kein Gast käme, um so besser. Ich stieß Joachim in die Seite. »Kolossal«, sagte mein Bruder.
An den Schankraum schloß sich der kleine Saal an und eine Art Anrichte. An der Decke waren Metzgerhaken angebracht. Wahrscheinlich hatten hier früher Würste und Schinken gehangen. Zeppelin war hereingekommen und schnüffelte die Ecken des Raumes ab. Hinten führte eine Treppe in die oberen Wohnräume. Sie lag fast vollkommen im Dunkeln, mein Vater mußte mehrere Streichhölzer anreißen, damit wir den Weg fanden. Im ersten Stock waren jedoch die Fenster unverschalt geblieben. Licht flutete herein, als wir die Zimmertüren öffneten. Die Zimmer gingen von einem langen Gang ab, ganz am Ende befanden sich Klosett und Badezimmer. »Komfortabel«, sagte mein Vater, »sogar Dampfheizung«.
»Wo ist die Küche?« fragte Tante Deli. Sternchen Siegel, der sich hier anscheinend auskannte, sagte, die Küche liege im Keller. Wir tasteten uns die dunkle Treppe wieder runter und weiter über eine noch dunklere und engere Treppe in den Keller. Sternchen hatte eine Stallaterne gefunden, die einen Rest Petroleum enthielt. Wir entzündeten den Docht und drangen in die unteren Regionen des Hauses ein. Auf einer Seite lagen Kohlenkeller und Heizung, auf der anderen befand sich die Küche mit gewölbter Decke und einem gewaltigen Herd in der Mitte. Eine Tür öffnete sich zum Bier- und Weinkeller.
»Sehr schön«, sagte Tante Deli, »aber unpraktisch. Wer will immerzu in den Keller? Und wer trägt die Speisen rauf?«
Sternchen demonstrierte, daß es einen Speiseaufzug gab, bis in den ersten Stock sogar, in die Wohnung. »Sehr schön«, wiederholte Tante Deli. »Doch man braucht Personal.«
Was die beiden weiter besprachen, hörten wir nicht, längst waren mein Bruder und ich wieder nach oben gelaufen und durchstöberten die Zimmer. Hier und da war ein Möbelstück stehengeblieben, eine Seemannskiste, ein Vertiko, das unserem daheim glich, ein Regal aus Bambusrohr mit Glastüren und Vorhängen hinter den Scheiben. Die Seemannskiste war zu unserer Enttäuschung leer. Im Vertiko fanden wir rund ein Dutzend angestaubte weiße Kragen, wie sie damals jeder Mann trug, Kragen, die mit Durchsteckknöpfen am Hemd befestigt wurden. Man wechselte die Kragen häufiger als das Hemd.
Die Tür zum Bambusschränkchen klemmte, sprang aber auf, als wir an dem Möbel rüttelten. Eine Schachtel befand sich darin, die Schachtel war mit Filmrollen gefüllt. Kleine Rollen für ein Heimkino, damals etwas Seltenes, aber wir hatten so eine Apparatur einmal bei unserem Schulkameraden Benjamin gesehen, der wohlhabende Eltern hatte. Doch hatten wir uns keine Filmvorführung ansehen dürfen, draußen schien die Sonne, und Benjamin schickte uns in den Garten zum Spielen.
Wir starrten auf die Filmrollen. »Die nehmen wir mit«, sagte Joachim, »nicht alle, aber ein paar. Jeder steckt sich zwei oder drei unter das Hemd.«
»Und was machen wir damit?«
»Wir gehen zu Benjamin. Vielleicht passen sie auf seinen Apparat.«
»Dann will er sie haben. Was meinst du, was drauf ist?«
»Was weiß ich? Sauereien vielleicht. Haremsdamen oder Bauchtanz. Ich hab’ so was mal auf einem Kinoplakat gesehen. Für Jugendliche verboten.«
»Die Filme gehören uns nicht.«
»Wem können die schon gehören? Wenn wir hier einziehen, wirft Tante Deli sie in den Müll.«
»Dann können wir doch den ganzen Karton mitnehmen.«
»Damit wir alle Filme wieder loswerden? Stell dir vor, es sind wirklich Haremsdamen drauf. Vater guckt sich das an, gegens Licht, und schwupp!, sind die Dinger beschlagnahmt. Nee, nee, wir schmuggeln ein paar davon raus und sehen erst mal in meiner Dunkelkammer nach, was drauf ist.«
»Und dann?«
»Dann müssen wir an so eine Maschine kommen. An ein Vorführgerät. Ich will längst so was haben. Hast ja gesehen, der kleine Saal. Wenn wir hierherziehen, mache ich Kintopp.«
»Du? Dafür muß man erwachsen sein.«
»Knallkopp. Wer sagt das?«
Darauf wußte ich keine Antwort. Wir ließen ein paar Spulen in unsere Hemdausschnitte gleiten und schoben sie unter den Gürtel. Die Erwachsenen blieben vor der Tür stehen, unterhielten sich. »Wo seid ihr?« rief Tante Deli. Wir liefen die düstere Treppe hinunter, an ihnen vorbei. Wahrscheinlich sollten wir alle gemeinsam zum großen Saal rübergehen, diesen Anbau besichtigen, die Remisen. Wenn mich nicht alles täuscht, schlug Sternchen Siegel sogar mit einem Knüppel, den er aufgelesen hatte, einen Pfad durch die Brennesseln zur Kegelbahn. Ich könnte meine Gedanken weiterspinnen und behaupten, mein Vater habe eine Kugel aufgenommen, sie geschoben und – »alle Neune«.
Möglich. Ich weiß es nicht mehr. Auch die Pferdeställe an der anderen Seite des Saalbaus entdeckte ich erst später, bei einem weiteren Besuch. Ich will nicht ausschließen, daß wir auch sie besichtigten, damals, am ersten Tag. Aber die Faszination meines Bruders hatte mich angesteckt, die Filmrollen brannten mir unter dem Hemdstoff. Nur daran erinnere ich mich noch, daß Sternchen sich wieder auf sein Rad schwang und mit einem »Ist jeritzt« in die Pedale trat. Mein Vater gab einen merkwürdigen Spruch von sich, er sagte: »Goldschnitt vergeht – Schweinsleder besteht.«
Wir rannten den Weg zurück, waren längst vor den anderen zu Hause. In Joachims Dunkelkammer wickelten wir die Spulen auf, hielten Film um Film gegen das Licht. Tieraufnahmen waren auf dem ersten, »enttäuschend«, flüsterte Joachim. Es schien sich um Filmaufnahmen aus dem Zoo zu handeln. Eine Schar Pinguine, meterweise Film nichts als Pinguine. Dann Seerobben. Ein Eisbär.
Auch die nächsten Spulen enthielten Tieraufnahmen, eine fing mit Giraffen an, die andere zeigte das Elefantenhaus von außen, es war tatsächlich unser Zoo in der Budapester Straße, den wir von einigen Besuchen kannten. Jedes Berliner Kind wurde sonntags in den Zoo geschleppt, ich dachte lange, daß es andere Tiere als eingesperrte gar nicht gäbe. Schilderungen von Tieren in freier Wildbahn, die ich irgendwo las, nahm ich nicht zur Kenntnis, oder jedenfalls drangen sie nicht in die Tiefe meines Bewußtseins, so, als ob sie sich auf einem anderen Stern befänden. Nur die Zootiere hielt ich für »die Wirklichkeit«.
Die Filme waren stark beschädigt. Feuchtigkeit hatte Teile der Emulsion abgelöst, andere Partien, die wir entrollten, waren zerkratzt, und manchmal war der Film an der Perforierung zerrissen. Erst zum Schluß wurden wir belohnt. Die letzte Spule, am besten von allen erhalten, zeigte Charlie Chaplin. In Charlies Begleitung befand sich ein kleiner weißer Hund. »Den Film kenne ich«, sagte Joachim. »Ich habe ihn gesehen. Der heißt ›Hundeleben‹. Charlie ist ein Arbeitsloser, er und der Hund verhungern beinahe.«
Joachim ging oft in die Kindervorstellungen im Heli-Kino, ich nur manchmal. Ich machte mir nicht viel aus Kintopp, Joachim war von den Filmen fasziniert. Es gelang ihm fast immer, sich das Eintrittsgeld zusammenzuschnorren.
Wir wickelten die Spulen wieder auf.
»Was machen wir?« fragte ich.
»Wir bauen so einen Apparat. Zum Vorführen«, sagte Joachim.
Nichts schien sich in unserer Familie nach der Besichtigung des Schützenhauses geändert zu haben. Nur aus Gesprächen, die wir hin und wieder belauschten, ging hervor, daß der Plan, das Schützenhaus zu übernehmen, Gestalt annahm. Einmal sagte mein Vater zu Tante Deli: »Das Geld wird nicht bleiben. Besser, wir stecken es …« Er vollendete den Satz nicht, aber mir war klar, daß er sagen wollte, »ins Schützenhaus«.
»Es geht uns doch gut«, sagte Tante Deli. »Warum willst du was riskièren? Sieh dich um, fast keiner hat mehr einen Pfennig nach dem Krieg. Und wenn die Versailler Verträge kommen …«
Ich wußte nicht, was die Versailler Verträge waren, in der Schule vermied man, uns über die Probleme der Gegenwart zu informieren. Wir nahmen gerade Sedan durch, ein Anlaß, der den Lehrer zu der Behauptung hinriß, 1918 seien unsere Truppen im Felde unbesiegt zurückgekehrt. »Im Felde unbesiegt«, schrie unser Geschichtslehrer, das Kyffhäuser-Abzeichen auf dem Revers seines Anzuges blitzte. Er trug immer denselben Anzug, damals war das üblich. Ich habe seinen Namen vergessen, nur der Spitzname ist mir in Erinnerung geblieben, Bullus, wir nannten ihn Bullus wegen seiner gedrungenen Gestalt.
Bullus verriet uns nicht, wie das Leben weitergehen würde in diesem Land, das mein Vater als besiegt bezeichnete trotz der unbesiegt heimgekehrten Armee. Wir lebten auf einer Insel, Millionenbauer-Erben, mit armen Verwandten gesegnet, die von Zeit zu Zeit aus der Stadt hierher in den Vorort kamen und sich über meinen Vater mokierten, der im Bett liegenblieb, während sie an unserem Eßtisch Schmorbraten in sich hineinstopften.