Читать книгу Das Schützenhaus - Georg Lentz - Страница 7
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ОглавлениеJoachim, in seiner hochgestochenen Art, bilanzierte: »Alles rundet sich, nur unser Schicksal nicht.«
»Sag doch ›nich‹, denn reimt et sich«, spottete ich. »Kannst du mir erklären, was sich hier rundet?«
Joachim warf mir einen abwesenden Blick durch seine Brillengläser zu. »Siehste doch«, sagte er. »Anneli kriegt einen Hintern anstelle der vergrößerten Kaffeebohne, die sie hatte, als die klein war. Tante Deli schwelgt im Wirtinnendasein. Sie schmeißt den Laden, das hat jeder erwartet. Aber sie wird dick dabei. Wie die Wirtinnen in Geschichten. Guck dir mal ihre Arme an, wenn sie Bier zapft. Und warum? Weil sie zufrieden ist. Rundum zufrieden.«
»Und wir, warum meinst du, sind wir nicht rundum zufrieden? Du und ich?«
»Der Kintopp stagniert«, sagte Joachim. »Seit Jahr und Tag machen wir dasselbe, leiern die Rollen durch, mal sind mehr Kinder da, mal weniger. Mal Mütter, die gut riechen, mal Mütter, die weniger gut riechen. Wir haben kein Klavier und keinen Erklärer. Das Angebot an Kinderfilmen ist dünn. Plumpsklo und wen wir sonst angeleiert haben, können nichts mehr ranschaffen. Wir nudeln schon die ollen Spulen mit den Pinguinen durch. Macht dir das Spaß? Nein. Ich merke doch genau, daß dir dein Lilienthal lieber ist als diese Filmkurbelei.«
Joachim spielte auf mein neues Hobby an, das vielleicht so neu nicht war: Ich sammelte alles, was ich über Lilienthal und dessen Flugversuche finden konnte, hatte auch schon den Fliegerberg im Süden Berlins besucht und den Park mit dem Denkmal in Lichterfelde. Der rote Kampfflieger hatte mich interessiert, damals, in der alten Wohnung, als ich meine Aquarelle malte, jetzt war ich den Ursprüngen auf der Spur. Ich bastelte sogar an einem verkleinerten Modell von Lilienthals Flugmaschine. Eine seiner Flugmaschinen, muß ich ergänzen, Lilienthal hat ja eine Menge Modelle konstruiert. Sein sogenannter Normalsegelapparat ging in Serie, wurde bis nach Amerika verkauft. Und den versuchte ich in klein nachzubauen, Spannweite sechzig Zentimeter. Ich hatte mich im Anbau des großen Saals eingerichtet, wo die leeren Pferdeboxen eine ideale Werkstatt abgaben. In einer Box entstand mein Hangleitermodell, in der Box daneben bastelte Joachim an seinen Filmapparaten und Optiken.
»Und all die Filme«, sagte Joachim, »die wir nicht sehen können, weil sie nicht jugendfrei sind. Wie ein Idiot stehe ich vor dem Schaukasten im Heli und sehe mir die Szenenfotos an. Conrad Veidt in ›Dr. Caligari‹. Pola Negri und Emil Jannings in ›Madame Dubarry‹ im Ufa-Filmpalast, da dürfen wir höchstens mal bei einer Sonntags-Matinee reinschnüffeln. Alle guten Filme kriegen wir nie zu sehen. ›Carmen‹ von Ernst Lubitsch. Alles am Ku’damm. Seit General Ludendorff die Ufa gegründet hat, entstehen Filme über Filme. Die haben Geld. Wir werden kaum einen davon sehen, bis wir achtzehn sind. Ist das gerecht?«
Joachim erwartete keine Antwort. Den Blick in die Ferne gerichtet, fuhr er fort: »Bald wird es Tonfilme geben, die Leute werden zu Tausenden in die Kinos rennen, noch mehr als jetzt schon. Sie rennen aber nicht alle in den Ufa-Palast, sie wollen ihr Kino um die Ecke. Wie das Heli. Sie sind mit hölzernen Klappsitzen zufrieden statt der Fauteuils im Filmpalast. Dafür ist der Eintritt in ihrem Vorstadt-Kintopp billiger. Wir müssen richtigen Kintopp machen. Im großen Saal.«
»Wie stellst du dir das vor?« fragte ich. »Zwei Minderjährige führen Filme vor, die nicht jugendfrei sind, da seh’ ich doch schon den Schutzmann auf dem Fahrrad um die Ecke peesen. Dann die Lage vom Schützenhaus. Hier bellen die Füchse, wenn du mal richtig hinhörst. Meinst du, die Leute sind scharf drauf, hier ins Kino zu latschen? Ausgerechnet bei uns und bei Mutter Natur? Hier könn’ Familien Kaffee kochen, das kannste bei uns veranstalten. Und ’n Ziegengespann für die Laubenkinder, damit sie sich für ’n Sechser amüsieren. Und meinetwegen Kinder-Kintopp. Aber doch kein richtiges Kino, Menschenskind.«
Joachim schob die Brille hoch und rieb sich die Augen, »’ne lange Ansprache«, sagte er. »Hansis Weltanschauungen, wie? Projiziert auf die kleine, übersichtliche Welt des Schützenhauses. Spaß beiseite. Klingt logisch, was du sagst. Aber laß mich mal machen. Wetten, daß ich hier in sagen wir drei Jahren ein richtiges Kino auf die Beine stelle?«
»Ich wette nicht«, sagte ich.
Außer Lilienthal beschäftigten mich noch andere Dinge. Tief in meine Erinnerung eingegraben war die Szene mit Portiers Lieschen im Holzschuppen bei der alten Wohnung. Durch täglichen Umgang mit unserer kleinen Cousine war mir klar, daß Mädchen unten einen Schlitz hatten. Anneli war nicht zimperlich und gewährte großzügige Einblicke. Lieschen hatte uns geleimt mit dem »Ding«, von dem sie behauptete, sie habe die Unterhose gemeint, übrigens war sie der einzige Mensch, der Unterhose sagte, alle anderen sagten Schlüpfer. Worum ging es in dem Holzschuppen unserer Meinung nach? Daß sie sich auszog.
Ich gestehe, Lieschens »Ding«, das wirkliche, interessierte mich immer mehr. Manchmal kam sie am Sonntag mit ihren Eltern. Ihr Vater, der alte Radke, wie er genannt wurde, und ihre Mutter setzten sich an den Tisch und bestellten Bier. Zwei mächtige Leute, mit Bäuchen, die nicht hinter den Tisch gingen, sie rückten die Stühle ein bißchen ab. Sie aßen Schmorbraten oder Eisbein mit Sauerkraut oder Kartoffelpuffer, für Lieschen immer eine Portion mit. Lieschen aß ein paar Gabeln voll, ließ den Rest stehen und haute ab, ins Kinderkino oder spielen. Die Eltern mampften dann ihre Portion mit auf. Sie aßen in aller Ruhe, teilten sich die Reste, schleckten die Teller sauber. Dazu brauchten Radkes noch zwei Mollen und noch zwei und am Ende jeder einen Schnaps. Sie glühten dann von innen, Lieschens Eltern, wie Öfen, in die man heftig eingekachelt hat.
Radke politisierte gern, wenn er kein anderes Opfer fand, mit meinem Vater. Radke sagte den endgültigen Wahlsieg der Kommunisten voraus, »Die klatschen euch alle an die Wand. Die ziehen sogar den Sozis die Stiebel aus.«
Mein Vater, in seiner wortkargen Art, sagte: »Abwarten.«
Tante Deli, ihre nun rundlichen Arme in die Hüften gestützt, blieb vorsichtshalber im Durchgang zur Anrichte stehen, sie mochte es nicht, wenn Radke loslegte. »Das soll er in seiner Portierswohnung machen, mit seinesgleichen«, sagte sie böse, als Radkes gegangen waren.
»Er hat ein Recht auf freie Meinungsäußerung«, sagte mein Vater.
»Ja«, zeterte Tante Deli, »mir Gläser zerkloppen. Und das Sauerkraut hängt am Kronleuchter.«
Solange die Radkes fraßen, schlich ich hinter Lieschen her, nun doch von der Hoffnung getrieben, daß sie eines Tages mehr zeigen würde als ihre Unterhose. »Wat sitzte mir denn uff de Pelle«, sagte sie und schob mich weg, wenn ich ihr den Arm um die Schulter legte. Sie flitzte davon, und es gab eine Verfolgungsjagd.
Einmal drängte ich sie in der Pferdebox, wo ich mein Modell baute, in die Ecke und hielt sie fest. Sie ließ ihre Augen von rechts nach links und von links nach rechts wandern, zeigte viel Weiß. Dann stülpte sie ihre Zungenspitze vor. »Weeßte nu, wat poussieren is?« fragte sie. Ich zuckte mit den Schultern. Das hatte ich bei Benjamin nachschlagen wollen, Benjamins Eltern besaßen ein Lexikon. Ich hatte es vergessen.
»Wenn de nich weeßt, wat poussieren is, laß mir loofen«, sagte Lieschen. Sie befreite sich aus meinen Armen und ging zur Tür. Nach ein paar Schritten drehte sie sich um und blickte mir auf die Hose. »Da rührt sich nischt«, sagte sie. »Fang mit Handbetrieb an, denn sehn wa weiter.«
Ich errötete, aber hier in dem dämmerigen Stall war das egal.
Was meinte sie mit Handbetrieb? In der Klasse redeten sie allerlei, was ich nicht verstand. Willi Köpke behauptete, er könne elfmal. Was konnte er elfmal? Hatte es mit Mädchen zu tun? Wie stand Joachim zu den Mädchen? Manchmal, nach der Schule, forderte er mich zu einem Umweg auf, »die Mieken vom Lyzeum beschleichen«. Die Mädchen hatten eine Viertelstunde später Schluß, wir kamen rechtzeitig, beobachteten, wie sie aus dem Tor strömten, sich in Gruppen zusammenfanden, verteilten, absonderten, verschiedene Richtungen für den Nachhauseweg wählten. Außer uns gammelten ein paar andere Oberschüler vor dem Lyzeum. Die Mieken sahen uns an, wurden ein bißchen rot und lachten. Sie kicherten, als sei es witzig, daß wir da standen.
Wenn Joachim einen mutigen Tag hatte, gingen wir in die Eis-Anneliese. Ein paar von den Mieken oder »Lyzen« waren da immer zu finden, und wenn wir Glück hatten, das heißt, wenn Joachim Glück hatte, ließ sich eine zum Eis einladen. Er hatte eine Favoritin, Hannelore, mit einem dicken blonden Zopf und Kulleraugen. Blauen Kulleraugen. Was Joachim an der fand, war mir nicht klar. Ich kaufte mir mein Eis selber und stand überflüssig daneben. Kleckerte mit dem Eis. Hörte mir ihre Konversation an, die aus dem Irrenhaus entlehnt schien:
»Magst du Mathe?«
»Ich kann damit nichts anfangen.«
»Ich auch nicht. Wir haben so ’nen doofen Lehrer. Er trägt immer Knickerbocker. Und Schlipse mit Blümchen drauf.«
»Unserer schmeißt mit Kreide. Außerdem niest er dauernd.«
»Ach, ja? Ist er erkältet?«
Und so weiter, bis zum Weltende. Wenn Hannelore ihr Eis aufgeschleckt hatte, steckte sie sich das Ende vom Zopf in den Mund. So einer stieg mein Bruder nach.
Andererseits, was fand sie an ihm? Eine Schönheit war er nicht, mit dem Nasenfahrrad. Er stellte seine Schulmappe zwischen die Füße, so daß er sich nicht bewegen konnte. Wenn Hannelore von ihm abrückte, mußte er sich bücken und nach der Tasche angeln.
»Stell die Tasche aufs Fensterbrett«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf: »Nachher isse weg.«
Von der Eiko, wie wir die Eis-Anneliese abgekürzt nannten, trabten wir nach Hause, wir waren wie üblich spät dran. Die Überwachung durch Tante Deli war gelockert. Die warme Küche lief auf vollen Touren, für die Gäste, es gab kein Familienessen um den runden Tisch mehr. Jeder aß, wie er Zeit hatte, an einem der Tische in der Gaststube.
Tante Deli rief aus der Küche, als sei ich ein Gast: »Was willste essen?«
Anneli, obwohl alle ein kleines Mädchen in ihr sahen, das einen Stoffhund – oder neuerdings eine Puppe mit Schlafaugen – in ihrem Kinderwagen vor sich herschob, bildete für uns einen Mittelpunkt. So, als ob sie jene Rolle übernähme, in der ich sie in einem lichten Augenblick gesehen hatte.
Unauffällig arrangierte Anneli: »Ich hab’ heute sechs Stunden. Ihr wartet doch auf mich mit dem Essen, du und Achim?« Sie sagte gern Achim zu meinem Bruder.
Wir warteten. Anneli kam, warf ihren Ranzen auf einen Stuhl, strahlte: »Fein. Was gibt’s heute?«
Tante Deli stand in der Küchentür und brabbelte die Speisekarte herunter. Manchmal war die Liste üppig, wenn unsere Verbindungen zum Land, zu den Dörfern und den Bauern, funktionierten.
Wir nannten sie »die Männer mit den Mützen«. Auf ihren Kastenwagen stapelten sich Heu und Stroh, darunter verborgen lagen die Ergebnisse geheimer Geschäftsverbindungen, die Vater mit den Mützenmännern pflegte. Kohlrabi, Kartoffeln, Gurken, Kohlrüben, Lauch, Teltower Rübchen, Grünkohl, Rotkohl, ein halbes Schwein, vier Meter Mettwurst. Der jeweilige Mann mit der Mütze saß dann bei uns am Stammtisch, eingehüllt vom Rauch jener Fehlfarbenzigarren, die Benjamins Vater produzierte, und bedeckte Zettelchen mit Zahlenreihen. Oben am Rand dieser Zettel stand aufgedruckt »Schultheiß Patzenhofer«. Sie schrieben mit Kopierstift, den sie anleckten, die Zahlen erschienen tiefblau. Wenn Bier darüberschwappte, verlief das Blau zu Wolkengebilden und Gebirgskämmen.
Sie trugen flache Tellermützen mit langem oder kurzem Schirm, in grauer oder bräunlicher Farbe, je nach Alter in verschiedenen Stadien der Verblichenheit, mit mehr oder weniger deutlichen Schweißrändern. Manche setzten für ihre Fahrten »nach Berlin« blaue Mützen mit blanken Zelluloidschirmen auf, legten auch einen Kragen aus demselben Material an. Wortkarg rechneten die Mützenmänner, tranken ihr Bier in kleinen Schlucken, als dächten sie jeden Augenblick daran, daß es üblicherweise Geld kostete. Bei Walter Pommrehnke gab es Bier gratis für jeden Lieferanten, zum Abschluß einen Schnaps.
Vater schluckte Schnäpse mit Kunden und Lieferanten, das gehörte zu seinem neuen Beruf als Gastronom. Niemals wurde er betrunken. Allenfalls schimmerte das Blau seiner Augen in tieferem, vollerem Ton. Zum Kopierstift paßte das. Tante Deli sah, wenn Abrechnung stattfand, über die Schultern der Männer. Dann stellte sie Kompensationsware bereit: Doppelkornflaschen in unauffälligen Kartons. Die Mützenmänner verstauten die Flaschen unter den Heu- und Strohballen, schwangen sich aufs Sitzbrett, auf dem als Polsterung ein Hafersack lag, und riefen: »Hüh!« Während die Pferde anzogen, grüßten sie, indem sie mit dem Peitschenstiel an den Schirm tippten.
Mir mag entgangen sein, daß unsere Versorgung mit Waren aller Art auf gewöhnlich bekannten Wegen stattfand, so, wie wir unser Bier von der Brauerei bezogen. Ich glaube jedoch, daß in Notzeiten eingegangene Geschäftsverbindungen, die dem Bereich des Schwarzmarkts zugeordnet waren, bis in bessere Zeiten hielten. Das war vernünftig, denn immer wieder wurden diese sogenannten besseren Zeiten durch schlechtere abgelöst. Der Vorteil war, daß wir aus einer Bauernfamilie stammten und folglich unsere Verbindungen zum Land niemals abrissen.
In kritischen Zeiten servierte Tante Deli immer noch Hühnchen mit Gemüse aus dem Garten. Zu ihrem Erscheinungsbild gehörte die Rolle: Frau, gerafften Rockes Hühner jagend, die durch Zaunlöcher auf die Wiese oder in den Park entkommen waren.
Zwar rief Tante Deli: »Hansi, die Hühner sind draußen!« Bevor ich allerdings die Tür erreichte, befand sie sich auf dem Weg in die Region, die ihre Hühner außerhalb des Käfigs erwählt hatten. Das Federvieh stob auf, Daunen flogen, Tante Delis Rodeländer und Leghorn rasten im Kreis, schwankten und gackerten, bis sie ihr Heil darin sahen, wieder in den Käfig zurückzukehren.
Tante Deli verriegelte das Gatter, ihr Atem ging hoch. Meistens kam bereits in diesem Augenblick mein Vater vom Stall her, eine Drahtrolle unter dem Arm. Er schloß, in geduldiger Arbeit und auf den Knien rutschend, Fluchtloch um Fluchtloch. Einem Robespierre des Hühnerhofs gleich, schleppte er sodann jenes Huhn, das er für die Rädelsführerin beim Ausbruch hielt, zum Hauklotz und schlug ihm den Kopf ab.
Komplizen waren sie, Tante Deli und unser Vater. Lächelnd nahm sie aus seiner Hand die kopflose Henne entgegen, noch tropfte Blut aus dem schlaff baumelnden Hühnerhals.
Tief in die Gemüter der Großstädter hatten sich die Zeiten des Trockengemüses, genannt Stacheldraht, und des wäßrigen, mit Sägespänen abgezogenen Kleiebrotes eingeprägt. Bald errang unser Schützenhaus den Ruf einer Freßoase. Mit Kindern und Hunden zogen die Berliner an schönen Wochenenden heran, geblümte Kleider flatterten, Männer mit Hosenträgern legten sich die Jacketts über den Arm, Futter nach außen. Stammgäste wie Radkes forderten ihr Eisbein, Radke prophezeite den Sieg der Kommunisten, solange es opportun schien: »Die klatschen euch an die Wand«, rief er. Später behauptete Radke, er habe nie derartiges geäußert – »schon gar nicht in einer Schwarzmarktbude wie dem dreckigen Schützenhaus«.
Die Regimentskameraden, meinem Vater treu ergeben, pflegten hingegen die Illusion, der Kaiser sei mal eben nach Doorn in den Urlaub gefahren, zum Holzhacken. »Deutschland braucht eine Monarchie!« Der Husaren-Gegenschlachtruf hallte bis zu Radke rüber, der Blicke zur Zimmerdecke warf und den Kopf schüttelte über so viel Unverstand.
Damals, in den früheren zwanziger Jahren, spielte unser Vater unverdrossen Leibgarde-Husar in Reserve. Eskadron – marsch! Es konnte ja ein Husarengeneral vorbeikommen, der olle Mackensen trat in seiner Uniform als Totenkopf-Husar öffentlich auf. Wenn so einer käme, würde Walter Pommrehnke die Hände an die Hosennaht legen, wie einst, als er die mit Schnüren geschmückte Attila trug.
Phantasien? Später, auf einem Husarentag, als die Reichswehr die Tradition der alten Regimenter fortsetzte, habe ich es erlebt:
Vater stand stramm!
Anneli war die einzige, meine ich heute, für die jene öffentliche Katastrophe, der Weltkrieg eins, oder mindestens das Kriegsende, real stattgefunden hatte. Und die private Katastrophe, der Tod unserer Mutter.
Anneli fragte: »Wie sah sie aus, eure Mutter?« Ich schlich mich in Vaters Zimmer, wenn ich ihn unten in der Gaststube hinter dem Tresen wußte, möglichst in Gegenwart von Regimentskameraden, Ede Kaiser und wie sie alle hießen. Es existierte eine Kommodenschublade, in der Bündel bananenförmiger, gestärkter Kragen lagen wie jene, die wir beider ersten Besichtigung des Hauses gefunden hatten. Nur handelte es sich jetzt um Vaters Kragen.
In dieser Schublade lagen Fotografien. Unser Vater mit seiner Frau, er aktiver Husar, in Uniform, ohne Mütze. Unsere Mutter mit weißer Schürze, aufgenommen während ihrer Zeit in einer Haushaltsschule, ich glaube Lette-Haus. Unsere Mutter mit ihrer Mutter, Großmutter, die jetzt am Gudelacksee wohnte. Ein Porträt: Mutter sitzt auf einer Bank vor einer romantischen Parklandschaft, eine zersplitterte Säule, eine Marmorurne, üppig Zweige ausstreckende Bäume. Unter dem Bild, auf dem Rand des starken Pappdeckels, dem die Fotografie aufkaschiert ist, der Namenszug des Fotografen: Othmar Anschütz. Hoffotograf, steht dabei, er durfte diesen Titel führen. Wahrscheinlich hat er den Kaiser fotografiert, in aller Pracht, bevor der zum Holzhacken fuhr. Und die Kaiserin und den Kronprinzen mit seiner schönen Frau.
Hier: unsere Mutter. Ich nahm die Fotos mit und zeigte sie Anneli.
»Sie war schön, eure Mutter«, sagte Anneli.
Wirklich? Ich wußte es nicht. Eine Mutter war nicht schön oder häßlich, solche Maßstäbe, meinte ich als Kind und noch als Heranwachsender, legte man nicht an. Entzauberung trat ein, wenn man die Mutter in Kategorien einordnete, die für Teilnehmerinnen von Tanzveranstaltungen angemessen waren.
So war für mich auch unser Vater DER VATER. Er hätte ein Denkmal sein können. Daß er gelegentlich sprach – und meistens, weiß ich heute, Banales –, tat dem Nimbus keinen Abbruch.
Dadurch, daß er Vater war, zählte er auch nicht zu den Männern im üblichen Sinn. Wie könnte er, dieser Riese in jeder Hinsicht, verwickelt sein in Machenschaften und Umstände, die mit jenen Dingen zusammenhingen, von denen sie in der Schule flüsterten? Hätte er je, wie Joachim und ich, sich erniedrigt und wäre vors Lyzeum geschlichen, um die Mieken zu sehen? Die »Lyzen«, wie wir zuweilen sagten?
Wie war das zwischen unserer Mutter und unserem Vater? Wir waren auf der Welt, seine zwei Jungs. Ich verdrängte, daß dies – mindestens zweimal! – Gemeinsamkeiten erforderte. Den Verdacht, unsere Existenz könne mit dem Wort Beischlaf zu tun haben, das ich in Bejamins Lexikon nachgeschlagen hatte, wies ich von mir.
Wer half mir? Lieschen Radke ließ sich zwar, versicherten Klassenkameraden, gegen Geld an das fassen, was sie Unterhose nannte. Aber sie war nicht bereit, mich mit Worten aufzuklären. Immer noch wußte ich nicht, was poussieren war. Dieses Angrapschen in der Stallecke und Lieschens verdrehte Augen – das konnte doch nicht gemeint sein? Und was ihren Hinweis auf Handbetrieb betraf, hegte ich neuerdings einen Verdacht, der mir die Lippen verschloß. Keine Frage, keine Antwort.
Oder doch eine Antwort?
Der Flur, der die oberen Räume des Schützenhauses – unsere Wohnung – mit dem sogenannten Eßzimmer verband, lag nachts im Dunkeln. Doch wurden wir bald nach dem Einzug mit seiner Landschaft vertraut, denn oft, wenn der Betrieb unten in der Gaststube uns nicht einschlafen ließ, schlichen Joachim und ich, manchmal auch Anneli, die Treppe runter in die Anrichte. Dort standen Kisten mit Getränken. Wir schleppten Brauseflaschen nach oben und tranken sie im Dunkeln, das Prickeln der Kohlensäure in der Mundhöhle. Wir wußten, daß es etwa in der Mitte des Korridors ein Brett gab, das knarrte, und mieden es. Indianergleich schlängelten wir uns an offenen oder geschlossenen Türen vorbei. Manchmal ging entweder unser Vater oder Tante Deli früher nach oben und legte sich nieder – »einer muß auf dem Posten sein morgen früh«. Anneli gehörte zum selten anzutreffenden Typus der Hackengänger. Entsprechend hatte sie Schwierigkeiten, wenn sie über den Korridor pirschte: »Ich muß immerzu daran denken, daß ich die ganze Fußsohle aufsetze«, beschwerte sie sich. »Wieso habe ich diese Hacken?«
»Als Indianer bist zu schwach«, sagte Joachim. Ich tröstete Anneli: »Wenn du nicht gehen willst, weck mich. Ich bringe dir deine Brause.« Ein bißchen war ich, denke ich heute, in unsere kleine Cousine verliebt. Ihre Augen blitzten mindestens so wie die Augen von Radkes Lieschen. Der Vorteil war, daß Anneli mit uns umging als sei sie ein Junge wie Joachim und ich. Joachim beachtete unsere Cousine weniger, er lebte versponnen in seinen Gedanken, die um das Kino kreisten. Sein Blick durch die Brille war oft abwesend, wenn er auch Annelis Planungen schätzte, die uns zu gemeinsamen Mahlzeiten am Tisch unten in der Gaststube zusammenführten. Es war ihm anzusehen, er lächelte Anneli zu, bevor er sorgfältig und umständlich mit dem Messer an seinem Schnitzel säbelte.
Für mich bedeutete Anneli mehr, obwohl ich es damals nicht hätte formulieren können. Sie brachte Licht in unser Leben, heute würde ich sagen: ein Funkeln, wie wenn die Sonne auf die Kristalle eines Lüsters trifft.
Nun, wir besaßen keinen Lüster, nur dieses Hirschgeweihmonstrum oben in der Stube. Aber dieses Licht, dieses Funkeln, das von Anneli ausging, das nahm ich wahr. Anneli muß damals zehn Jahre alt gewesen sein, vielleicht fast elf, die Zeit verging, mein Bruder schrieb Zettel mit Geburtstagswünschen, immer handelte es sich um Filme oder um Teile für seine Apparate.
Ich stand in der Mitte zwischen beiden, meinem Bruder und Anneli gleichermaßen zugewendet, wenn auch auf unterschiedliche Art. Ich stahl mich in Annelis Zimmer, sie schlief, wobei sie die Glieder auf groteske Art verrenkte. Manchmal stand ein Bein vom Knie ab senkrecht hoch, manchmal hing ein Arm aus dem Bett, aber nicht schlaff wie bei anderen Menschen, sondern in einem Winkel nach oben. Als gebe es die Schwerkraft nicht für Annelis Glieder. Ihre Oberlippe schob sich im Schlaf hoch und entblößte Zähne, die im Dunkeln schimmerten. Fast immer wachte sie auf, wenn ich neben ihrem Bett stand. »Soll ich dir Brause mitbringen?« Sie nickte. Ich begab mich auf den Kriegspfad, vulgo Korridor, vermied das knarrende Brett und holte Brause. Anneli war wieder eingeschlafen, die Haare hatte sie hinter die Ohren zurückgestrichen, die abstanden wie auf der Karikatur eines Lausejungen.
»Wir müssen das operieren«, sagte Tante Deli manchmal. »Man schneidet irgendwas durch, und klapp!, liegen die Ohren an.«
Anneli errötete jedesmal, die Sache wurde sofort wieder vergessen, bis zur nächsten Erwähnung, die ebenfalls ohne Folgen blieb. Zu Anneli gehörten diese Ohren, die nichts von jenen Kräften hielten, die gewöhnliche Menschen zwang, ihre Glieder der Schwerkraft unterzuordnen oder ihre Ohren anzulegen.
Ich stellte eine Brauseflasche neben ihr Bett, meistens stand die Flasche am nächsten Morgen unberührt da. Die zweite Flasche brachte ich meinem Bruder. Irgendwann in der Nacht wachte er auf, manchmal wurde ich von seinem Schmatzen wach, er beherrschte mangelhaft die Kunst des Aus-der-Flasche-Trinkens. Ich nahm einen herzhaften Schluck, bevor ich mich zurücklegte, das Bild der schlafenden Anneli vor Augen, eine Mischung aus Vorstellung und Erinnerung von mondhellen Nächten.
Einmal bemühte ich mich um besondere Lautlosigkeit auf dem Limonadengang, denn aus dem Zimmer meines Vaters fiel, obwohl es sehr spät war, ein Lichtschein. Ich mußte den weißen hellen Streifen, den das Licht auf den Flur warf, kreuzen, eine gefährliche Situation, falls mein Vater wach war. Ich schnüffelte, ob ich Zigarrenrauch roch. Nichts dergleichen. Wahrscheinlich schlief er. Hatte nur vergessen, die Lampe auszuknipsen. Ich spähte ins Zimmer, als ich mich über die beleuchtete Stelle schlängelte. Fast wäre mir ein Laut des Erstaunens entfahren. Ich sah, beim Schein der Nachttischlampe, der durch ein Tuch gedämpft war, zwei Köpfe in Vaters Bett. Der eine, wie erwartet, gehörte ihm. Der zweite jedoch war Tante Delis Kopf. Was machte Tante Deli in Vaters Bett? Er hatte den Arm unter ihren Nacken geschoben, der Unterarm hing über die Bettkante, ein wenig nach oben, wie bei der schlafenden Anneli.
Ich stellte mich ins Dunkel und blickte noch einmal ins Zimmer. In diesem Augenblick bewegte sich Tante Deli. Die Bettdecke rutschte hoch und enthüllte ihren Hintern.
Einen marmorweißen Hintern.
Auf einmal wußte ich, was mein Vater meinte, wenn er Tante Deli auf den Hintern klopfte und fragte: »Was macht das Marmorpalais?«
Nur ich, Hansi Pommrehnke, hatte dabei an Potsdam gedacht.
Ich schlich ins Bett zurück, in dieser Nacht gab es keine Brause. Lange lag ich wach, bildete mir ein, daß der Lichtschein den Korridor erhellte, bis hin zu unseren Zimmern am entgegengesetzten Flurende.
Zu meinem Erstaunen stellte sich am anderen Morgen die Welt dar wie immer. Tante Deli werkte in der Küche, bereitete unsere Pausenbrote vor und das Frühstück. Sternchen Siegel raste auf einer blitzenden Maschine heran und nahm Aufträge entgegen. Ich sah Joachim an. Ich sah Anneli an. Gleichmütig stopften sie sich Haferflocken in die Münder. Ich sah Tante Deli an. Ihr straffer Rock spannte über dem Körperteil, der mir jetzt als Marmorpalais vertraut war.
Mittags, als ich von der Schule zurückkam, stand mein Vater hinter dem Tresen wie immer. Auch ihm war nichts anzusehen. Irgendwann fragte mich Joachim: »Hast du gestern keine Brause geholt?«
»Ich konnte nicht«, sagte ich. Und da wir allein bei den Pferdeboxen waren, fügte ich hinzu: »Tante Deli lag bei Vati im Bett.«
Joachim schob die Brille hoch. »So, so«, murmelte er.
»Was macht die da?« fragte ich. »Ist das …« Ich fand das Wort nicht, poussieren schien mir auf einmal nicht ausreichend. »Hat Vati es …ich denke, er hat nur mit unserer Mutter …«
Joachim tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. »Ganz schön naiv«, sagte er. »Das mußt du schon selber rausfinden, Kleiner.«