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Tante Deli stand wieder im Türrahmen wie damals in der alten Wohnung, nur diesmal in der Tür zwischen der Anrichte und der Gaststube. Außerordentliche Anlässe hatten sie zu ihrer alten Gewohnheit zurückgeführt, zum Wechseln des Spiel- und Standbeins, zum Monologisieren.

»Wir können uns das nicht leisten«, sagte sie zu meinem Vater. »Die Papiermark ist nichts wert, fast alle Menschen leiden Not außer den Schiebern und Haifischen wie Stinnes, und du willst in die Ferien fahren. Machst du dir klar, daß die Molle fast zweihunderttausend Mark kostet? Wenn wir eine Woche zu deinen Eltern fahren, kostet sie danach vielleicht eine Million. Oder wenigstens eine halbe, ich will nicht übertreiben. In dieser Zeit kannst du kein neues Bier einlagern, ganz abgesehen von der Frage, ob dir die Brauerei dann noch Kredit einräumt. Was von den Häusern an Mieten kommt, mußt du mit dem Waschkorb abholen.«

Sie wechselte wie erwartet Stand- und Spielbein, wir sahen ihr zu, eine Familien-Vollversammlung fand statt an jenem Sonntagmorgen. Einem Sonntag wie jeder andere, so schien es, aber wir befanden uns mitten in der Inflation. Das Thema Geld beherrschte die Gespräche, nicht nur bei uns. Ausgerechnet in dieser »schweren Zeit«, wie alle Erwachsenen sagten, hatte mein Vater uns mit dem Vorschlag überrascht, daß wir zu Oma und Opa an den Gudelacksee fahren sollten.

So charmant wie früher sah Tante Deli nicht mehr aus, wie sie da im Türrahmen stand und ihre entblößten, kräftig gewordenen Arme unter dem gleichfalls kräftig gewordenen Busen verschränkte. Ich dachte an den rückwärtigen Anblick in jener Nacht, machte mir also ein vollständiges Bild von ihr.

Tante Deli setzte ihre Tirade fort: »Ich leiste mir nicht mal einen Büstenhalter, und du willst verreisen. Wer soll die Wirtschaft führen? Und dann die Kosten. Du, ich, drei Kinder. Wer weiß. Vielleicht sind wir nicht einmal willkommen. Deine Eltern werden knapsen, seit die Papiermark nichts mehr wert ist. Jeden Tag wird sie weniger Wert. Du weißt genau, daß die Molle … ach, das sagte ich bereits. Ich spare überall, und du willst wie Graf Koks durch die Welt zockeln. Ich weiß, dein Bruder Rudolph ist aus der Fremdenlegion zurück. Na. Andere kommen auch aus der Fremdenlegion. Oder von weiß ich, woher. Guck dir Ede Kaiser an. Sein Bruder ist aus dem Korridor gekommen. Was, sein Bruder. Die ganze Blase. Sie sitzen bei ihm im Garten, und er kann das Geld verdienen. Dein Regimentskamerad. Drei Taxen und einen Privatmietwagen, und trotzdem reicht’s nicht. Nur sein Schwager, der Hubert, der ist Bierkutscher geworden. Verdient auf anständige Weise sein Geld. Und dein Bruder Rudi? Kommt aus der Fremdenlegion, quartiert sich bei den Eltern ein und läßt den lieben Gott einen guten Mann sein. Dann pfeift er, und du schnallst dir die Gamaschen um und peest los.«

»Er ist krank«, sagte mein Vater, der sich geduldig Tante Delis Rede angehört hatte. »Er hat nur noch einen Lungenflügel. Sie haben ihn entlassen.«

»Fahren wir?« schrie Anneli, obwohl es doch gar nicht ihre Großeltern und ihr Onkel waren, die wir besuchen wollten.

»Ich nehme meine Puppen mit.«

»Halt die Klappe«, sagte Tante Deli und fixierte ihre Tochter. Dann beschäftigte sie sich wieder mit unserem Vater: »Also, wie stellst du dir das nun vor?«

»Sternchen schmeißt den Laden. Außerdem spreche ich mit Ede.«

»Mit Ede Kaiser?«

»Wir mieten ihn. Mitsamt seinem Privatwagen.«

»Ach, du grüne Neune! Jetzt wird er größenwahnsinnig.« Tante Deli warf Blicke zur Decke, an der aber nichts zu sehen war außer aber Hunderten von Fliegendreckpunkten.

Mein Vater strich den Schaum von einem Bierglas, das unter dem Zapfhahn stand und sich langsam füllte. »Laß mich das deichseln«, sagte er. Tante Deli brummte irgend etwas, drehte sich um, ging in die Küche und warf die Tür hinter sich zu. Unser Vater blickte zu uns herüber. »Wir machen Ferien«, sagte er. »Das steht fest.«

Wir rannten die Verandatreppe hinunter. Unter den alten Bäumen blieb Joachim stehen. »Halt«, sagte er. »Manchmal tut es mir leid, daß wir kein Baumhaus gebaut haben. So, wie wir es damals besprochen haben. Beim ersten Besuch.«

Anneli fragte: »Wozu braucht ihr ein Baumhaus? Ihr sitzt oben drin und spuckt mir auf die Birne.«

»Auf den Kopf, heißt das«, rügte Joachim. »Bei uns wird hochdeutsch gesprochen.«

»Ach, nee, und Sternchen Siegel? Wie spricht der?« Sie machte Sternchen nach: »Werdden werr gleich sehn, Gnädigste. Wird alles jerichtet werden nach Ihre Intentionen.«

»Sternchen, der jüdelt«, sagte Joachim.

Damit konnte ich wieder nichts anfangen, und Anneli, das sah ich an ihrem Blick, genausowenig. Gut. Es gab Judenwitze, also gab es Juden, wie es Franzosen gab, die Erbfeinde, die unseren im Felde unbesiegten Truppen eingeheizt haben – oder Chinesen oder Österreicher. Wir hatten einen Österreicher in der Klasse, auch der sprach anders als wir. Gelegentlich kam sogar ein Neger ins Schützenhaus, ein stiller Herr mit grauen Schläfen, Mister Wilson. Der aber war, wenn wir unseren Vater richtig verstanden hatten, ein Preuße, denn er hatte bei den Husaren als Kesselpauker gedient. Auf einem Panoramafoto, das die Leibschwadron zeigte, war Mister Wilson auf einem Apfelschimmel abgebildet, die Kesselpauken links und rechts neben dem Sattel. Mister Wilson hob die Paukenschlegel und blickte in die Kamera. Wie sollte man sich da auskennen? In der Schule nahmen wir die Spartaner durch, ihr Verhalten wurde uns als beispielhaft dargestellt, längst, bevor sie »der Jugend der Nation als Vorbild« dienen mußten.

Sternchen kam auf seiner blitzenden Maschine angepeest, den Mützenschirm nach hinten gerückt. Er hatte eine neue Mütze mit einer Bommel oben.

Das war also ein Jude. So interessant wie Mister Wilson war er nicht. Jedoch – unser Freund.

In den folgenden Tagen, wenn wenig Betrieb war, sahen wir die Erwachsenen um den runden Stammtisch sitzen und, wie Joachim es nannte, »was besprechen«. Wie wir gelegentlich Bruchstücken ihrer Unterhaltung entnahmen, ging es um unsere Reise nach Lindow. Ede Kaiser saß da, Bier und Schnaps vor sich. Sein Schwager Hubert, der Bierfahrer, hatte den Pferden ihre Haferbeutel umgehängt und saß daneben. Auch Sternchen sahen wir in der Runde. Seiner Gewohnheit entsprechend glitt er seitwärts auf einen Stuhl und stand bald wieder auf, zapfte Getränke, stellte sie auf den Tisch. Setzte sich wieder. Er trank Apfelbrause. Tante Deli stützte die nackten Arme auf den Tisch. Anscheinend war sie jetzt einverstanden, daß wir fuhren. Es waren Ferien, niemand achtete auf uns. Trotz des strahlenden Sonnenscheins draußen hockten wir im Kinderkino. Stundenlang sahen wir uns die alten Filme an. Und ein paar neue, die Sternchen für uns aufgetrieben hatte. Es waren ebenfalls Chaplin-Filme wie der eine, den wir gefunden hatten. Wir blickten auf die Leinwand und sahen Charlies Späßen zu.

Manchmal kam Werner Spiehr zu uns in den dunklen Saal, ein Freund von Sternchen. Im Gegensatz zu Sternchen trank Werner Spiehr Bier, und zwar in Mengen. Fünf oder sechs Mollen brauche er, sagte Werner. Dazu ein paar Klare. Er setzte sich zu uns ins Dunkel, eine Molle, frischgezapft, in der Hand, den Schaum oben drauf. Dann erklärte er uns die Filme wie einer im richtigen Kino.

»Was macht Charlie?« fragte Werner. »Er fährt nun mittenmang den Güterwagen unten durch, denn er kann nicht bremsen, der Zug dampft über den Bahnübergang. Da seht ihr: Charlie verliert das Verdeck. Die Windschutzscheibe. Beinahe auch die Melone, aber die hält er fest. Sonst würde man ihn ja nicht erkennen, stimmt’s?«

Wir lachten. Draußen glühte der Sommer. Er ging uns nichts an.

Eines Morgens stand Ede Kaiser mit seinem Mietwagen vor der Tür, einem blauen Sechszylinder-Chevrolet. »Jute Idee, Kamerad«, sagte er zu meinem Vater, »ick besuche bei der Jelegenheit meine Verwandten.« Die wohnten ebenfalls in Lindow, ganz in der Nähe unserer Großeltern. So hatte Ede Kaiser seinem Regimentskameraden Pommrehnke einen billigen Preis machen können. Wie ich später erfuhr, wurde er in Goldmark entlohnt, mein Vater hütete noch einen Schatz wertvoller Münzen aus Kaisers Zeiten. Aus Wilhelm zweis Zeiten, Ede Kaiser nahm solche Währung natürlich lieber als Papiermark. In gängiger Währung hätte unsere Reise Billionen gekostet.

Anneli durfte vorn neben dem Fahrer sitzen. Sie hatte ihre Puppe mit den Schlafaugen mitgenommen und den mit Holzwolle gefüllten Hund. Auf ihre Füße legte sich Zeppelin. Keinem von uns wäre die Idee gekommen, Zeppelin zurückzulassen.

Auf den Verandastufen stand Sternchen und winkte. »Er schmeißt solange den Laden«, wiederholte mein Vater. Tante Deli, in einem Kostüm, das vor dem Krieg modern gewesen war, ließ sich ins Polster sinken. Beim Rock sah man, daß sie ihn an den Seitennähten ausgelassen hatte. Die Jacke ließ sie offen.

Wir brausten durch den Grunewald und durch Halensee. Als wir an einer Baustelle vorbeikamen, sagte mein Vater: »Das wird das letzte Stück der Avus, die modernste Autorennbahn Europas.« Tante Deli murrte: »Dazu ist Geld da.«

Wo hatten wir unsere erste Reifenpanne; In Marwitz? In Vehlefanz? Ich erinnere mich, daß Tante Deli gerade unsere Stullen ausgepackt hatte. Mein Vater biß in eine Boulette. »Pfui Deibel«, sagte er. »Die schmeckt ja wie neunzehnhundertachtzehn. Nüscht als Zaddern.«

Bevor Tante Deli auf diese Anschuldigung antworten konnte, gab es einen Knall. Es war eine Art gemütlicher Knall, die Luft entwich mit Verzögerung. Das Auto hüpfte auf dem Stuckerpflaster, schwankte von einer Seite auf die andere. Ede Kaiser kurbelte am Lenkrad und rief »Scheibenkleister«. Die Felge des beschädigten Rades klapperte über das Pflaster. Wir hielten. Mein Vater warf die angebissene Boulette aus dem Fenster und stieg aus. Ede Kaiser hockte sich neben den Wagen und besah sich den Schaden. »Ein Hufnagel«, konstatierte er.

Während die Männer einen neuen Reifen montierten, gingen wir durch das Dorf. Zeppelin rannte in ein Hoftor, Anneli ihm nach. »Zellepiiin …«, hörten wir sie rufen. Joachim sagte: »Vorwärts, wir trinken ’ne Limo.« Ein paar Häuser weiter lag ein Gasthof, der sich »Zur Linde« nannte. Wir gingen hinein. Anneli mit Zeppelin folgte. Im Halbdunkel sahen wir den Wirt hinter dem Tresen stehen. »Hunde kommen mir hier nich rin«, sagte er, »und an Jugendliche ist der Ausschank verboten.«

Wenn ich mir heute die Entfernung von Berlin nach Lindow auf der Landkarte ansehe, verstehe ich nicht, wieso ich hier die ganze Zeit von einer Reise spreche. Nicht mehr als siebzig Kilometer trennten uns von unserem Ziel. Dennoch waren wir einen vollen Tag unterwegs. Neben dem Asphaltband der Chaussee zogen sich Sommerwege, wenn uns ein Fuhrwerk entgegenkam oder, in seltenen Fällen, ein Auto, mußten wir auf den Sommerweg ausweichen. Ede Kaiser bremste ab, der Wagen neigte sich, glitt erst mit den Rädern der rechten, dann der linken Seite die hohe Kante vom Asphalt runter. Sofort gab Ede Gas, denn die Räder mahlten im Sand. Hatten wir das Fuhrwerk passiert, kletterte der Chevrolet mühsam auf den Asphalt zurück. Ede beschleunigte, Tante Deli rief: »Nicht so schnell, Herr Kaiser!«

Ede Kaiser fuhr siebzig oder achtzig, ein paar hundert Meter, bis wir wieder vom Asphaltband runter mußten.

Kornfelder erstreckten sich blaßgelb bis an den Horizont, wo das dunkle Grün von Alleebäumen sie gegen den hellblauen, wolkenlosen Himmel abgrenzten. Stundenlang fuhren wir unter solchen Alleebäumen. Linden, so alt wie die Bäume beim Schützenhaus, begrenzten links und rechts die Chaussee und spendeten Schatten. Damals gab es noch keine Staus, hier hätte man sie ausgehalten.

Anneli langweilte sich. Fragte, ob wir noch eine Panne haben würden, das sei nett gewesen, obwohl der Wirt, »der Kaffer«, uns keine Limonade geben wollte. »Außerdem wollte er nicht, daß Zellepi ins Lokal mitkommt.«

»Was müßt ihr da reinrennen«, rügte Tante Deli. »Wir haben Limonade mit.«

Wir unterhielten Anneli, indem wir sie prüften. Inwieweit erinnerte sie sich noch an unsere erste Wohnung? »Wo war das Telefon?« fragte Joachim. Anneli: »Im Korridor an der Wand.«

»Richtig.« Ich zählte die Punkte. »Die Dunkelkammer?« – »Eine Treppe tiefer.« Anneli erinnerte sich genau. Als sie fünfzig Punkte beisammenhatte, fiel uns nichts mehr ein. Ede Kaiser und unser Vater tauschten Kriegserinnerungen aus. Joachim nannte das »Weißte-noch-Geschichten«: »Weißtenoch, wie wir Kohldampf schoben, und wir kamen in das Dorf, und alle Fensterläden waren zu? Wie wir an eine Tür gewummert haben, da kam die Madame. Ede, du hast zwei Francs hochgehalten und gerufen: ›Madame, poulet!‹«

Ede Kaiser lachte und erzählte weiter, wie sie nach der Luke vom Hühnerstall gesucht hätten. Es gab aber keine Luke, und die Madame amüsierte sich. Da krähte er, Ede, wie ein Hahn, und aus der Scheune antworteten die Hühner. Abends gab’s Hühnersuppe, und die Madame rang die Hände.

Hundertmal gehört. Dennoch lauschten wir diesen Erzählungen, über unsere Spiele mit Anneli hinweg. Was faszinierte uns daran?

Heute erzähle ich selber Geschichten aus dem Krieg, dem nächsten allerdings, Weltkrieg zwei. Und ich ertappe mich dabei, daß ich überlege, wie das auf junge Menschen wirken muß. Sind sie fasziniert wie wir damals? Oder ist es für sie kalter Kaffee? Das Gelalle von Grufties, die sich an eine Art Kostümfest mit Zerstörung erinnern?

Hinter Herzberg hatten wir die zweite Reifenpanne. Zeppelin kam zu einem Waldspaziergang und stöberte eine Wildsau mit Frischlingen auf. Wir konnten ihn kaum am Halsband halten. Die Sau machte Anstalten, auf uns loszugehen.

Bei der Ortseinfahrt Lindow verließen wir die Chaussee. Der Wagen holperte einen Kiesweg entlang, rechts erstreckten sich Gärten mit Lauben und Wohnhäusern bis zum See, der von keiner Welle gekräuselt schimmerte. Links stieg eine Böschung an, ihre obere Kante begrenzte Fichten mit rötlichen Stämmen. In Abständen führten Treppen hinauf, deren Stufen mit Brettern befestigt waren. Wir fuhren langsam. Die Gärten lagen tiefer als der Weg, von oben blickten wir auf Reihen von Gemüse. Ein Gartenweg war mit weißen Steinen eingefaßt, im Hintergrund erweiterte sich der Pfad zu einem Rondell. Dort blühten Rosen, und zwischen den Blüten schimmerten bunte Glaskugeln, groß wie Kinderköpfe.

Meine Phantasie ging mit mir durch, ich dachte mir Annelis Abstehohren an diese Kugeln und kicherte.

Tante Deli stupste mich mit ihrem Daumen. Ich sah, daß der Fingernagel eingerissen war.

In diesem Augenblick hielt der Wagen. »Das Ganze – halt! Alles aussteigen«, rief Ede Kaiser.

An einem Gartentor, über das sich ein Bogen aus Gasrohren wölbte, hingen Blütentrauben einer mir unbekannten Pflanze, das Blau dieser Blüten glich der Augenfarbe meines Vaters, jedoch war das Blau gedämpft, als habe ein Maler Deckweiß hineingerührt. Wie durch einen Rahmen sah ich das flache, mächtige Haus liegen mit seinem roten Dach und einer Glasveranda, die sich an den Seiten herumzog. Es war das einzige Haus mit einem Stockwerk an diesem Seeweg.

Dann füllten die Gestalten Omas und Opas den Blütenrahmen, das Tor öffnete sich. Sie riefen: »Juten Tach, juten Tach!« Oma drückte uns an ihre Brust, mächtig unter ihrem Kattunkleid, Zeppelin raste zwischen unseren Beinen hindurch, am Haus bellte ein Hund. Opa rückte an seiner Mütze und sah ein bißchen wie Joachim in alt aus, der Großvater hatte den gleichen Sehfehler und trug eine ähnliche Brille.

»Zellepiiien …«, rief Anneli. Wir flitzten ein paar Stufen hinunter und in den Garten, am Hofhund vorbei, der auf Zeppelin lossprang, aber von seiner Kette gebremst wurde und einen Salto in der Luft schlug.

Übermannshoch wuchs hinter dem Haus das Schilf, ein schmaler Streifen zum Wasser war freigeblieben als Pfad zum Bootssteg. Auf dem Steg saß ein Mann mit braungebranntem Gesicht, eine Zigarette im Mundwinkel, und angelte. »Onkel Rudolph?« riefen wir.

Der braungebrannte Mann grinste und nickte. Er nickte auf gründliche Art, wie ich niemals jemanden hatte nicken sehen, so, als verursache ein Motor in ihm das Auf und Ab der Kopfbewegung. Die Zigarette behielt der Onkel im Mund, senkte das Kinn abwärts, so daß die Zigarette fast seine Brust berührte. Onkel Rudolph deutete mit der Hand auf den See: »Rin ins Vergnügen!«

Wir zogen uns aus und sprangen ins Wasser.

Onkel Rudolph kannten wir nur von Bildern her, mit dem weißen képi der Fremdenlegion auf dem Kopf. Sein Gesicht war so dunkel wie auf den Fotos. Einwandfrei war dies unser Onkel, der aus Afrika gekommen war. Wir drehten uns um, während wir hinausschwammen, und betrachteten ihn. »Ohne Brille seh’ ich nicht viel«, prustete Joachim. »Aber mir sieht er ganz gesund aus.«

Zeppelin meinte, er müsse Anneli retten, schwamm ihr hinterher und kratzte ihr den Rücken auf. Annelis Schreie hallten über das Wasser. Onkel Rudolph auf dem Steg lachte. Er steckte sich eine neue Zigarette an. Der blaue Rauch stieg senkrecht hoch.

Wiederum vollführte der Hofhund einen Salto an seiner Kette und bellte und jaulte. Vom Haus kam ein Mädchen gerannt, in Annelis Alter, wir wußten: eine weitere Cousine von uns, Laura. Soeben war sie mit ihrer Mutter angekommen. Das Haus der Großeltern füllte sich, so hatte sie es gern. »Platz da!« schrie Laura. Im Laufen zog sie sich das Kleid über den Kopf und sprang mit einem Hechtsprung vom Steg ins Wasser. Onkel Rudolph bekam ein paar Spritzer ab, er hielt die Zigarette in die Höhe.

Eine Szene aus einem Reklamefilm für Freikörperkultur? Oder der Nachmittag eines Fauns, Onkel Rudolph als Faun? Heute möchte ich es gern so sehen. Die Wahrheit war, daß wir alle Badeanzüge trugen. Badeanzüge, nicht Badehosen. Meiner war blau mit einem auf genähten Delphin auf dem einen Hosenbein, ein verschossenes Blau, das Oberteil weiß und blau gestreift. Anneli trug einen verwaschenen roten Badeanzug, der ihr ein bißchen groß war, sie hatte ihn von einer Freundin geerbt. Lauras Badeanzug war blau wie meiner, etwas dunkler in der Farbe vielleicht.

Und Onkel Rudolph? Er trug einen schwarzen Badeanzug mit Trägern und Beinlingen. »Ihr habt mir die Fische verscheucht«, rief er. Dann zog er unter dem Steg einen aufgeblasenen Schlauch für einen Autoreifen hervor, aus leuchtend rotem Gummi. Er ließ sich hineinfallen und paddelte auf den See, mit einer Hand, in der anderen hielt er die Zigarette, so lange, bis sie zu Ende geraucht war. Onkel Rudolphs Hintern hing im kühlen Wasser. Zeppelin schwamm drei- oder viermal um dieses improvisierte Schlauchboot herum, vielleicht überlegte er, ob er hineinbeißen solle. Dann ließ er von Onkel Rudolph ab. Das Schlauchboot trieb weiter auf den See hinaus.

Wir blieben viel zu lange im Wasser. Am Ende saßen wir mit blauen Lippen auf dem Steg, blickten weit über den See, wo Onkel Rudolph in seinem Schlauchboot kleiner und kleiner wurde. Die Packung mit seinen Zigaretten und ein Sturmfeuerzeug lagen auf den Bohlen. »Wir können ’ne Lulle zischen«, schlug Laura vor. Joachim mimte Gleichmut, klaubte eine Zigarette aus der Packung. Er zündete sie an, tat einen Zug und reichte sie an Laura weiter. Wir pafften reihum und fühlten uns gut. Weil es was Heimliches und zugleich Luxuriöses war, sahen wir darüber hinweg, daß uns die jämmerlichen Badekostüme an den Körpern klitschten und hintenherum klemmten. Wasser lief an den Beinlingen heraus, unter uns bildeten sich Pfützen, und in der Stille des Nachmittags hörte ich, wie Tropfen durch die Ritzen auf das Wasser fielen.

Das kann ich heute erzählen, als sei es vor wenigen Minuten geschehen. Damals, auf dem Lindower Steg, gehörten wir zusammen, Kinder, die eine Clique bildeten, notfalls gegen die Erwachsenen. Wir fühlten uns nicht verloren wie unter dem Menschengewühl im Strandbad Wannsee, das damals noch fast urwüchsig war, die Terrassen, wie wir sie heute kennen, wurden erst später gebaut. Ungeniert gaben sich die Berliner dort dem Badeleben hin. Im letzten Sommer hatten wir zwischen zwei Familien gesessen, deren weibliche Mitglieder Unterröcke, sogar Korsetts und Büstenhalter trugen. Sie mampften Schlackwurstbrote, das fettige Stullenpapier trieb vor dem Wind über den Sand. Ein Kind in einem ähnlich uneleganten Badeanzug, wie wir ihn trugen, stieß einen blauen Ball vor sich her, auf dem in großen Buchstaben weiß NIVEA leuchtete. Der Ball flog einem Mann an den Kopf, der in seiner Sandburg lag, die Hosenbeine hochgezogen, man sah Socken und Sockenhalter. Der Mann sprang auf, fing sich den Jungen und schwalbte ihm eine. »Hören Sie mal«, rief die Mutter des Jungen, »ist das Ihr Kind?«

»Nee, aber mein Kopf«, brüllte der Mann.

Vorne am Wasser standen zwei oder drei Kerle in Hosenträgern. Sie wühlten ihre käsigen Füße in den Schlamm, hielten die Arme über der Brust gekreuzt und blickten über die Bucht, wo in der Ferne die Spreekähne zogen. Dazwischen ein paar mutige Schwimmer, in Kostümen, die dem Badeanzug von Onkel Rudolph glichen. Sie warfen sich in die Fluten, bald sah man weit draußen ihre Köpfe. Die Mädels hockten im seichten Wasser und sahen den Schwimmern nach.

Kinder wollen möglichst so sein wie andere Kinder. Ich gestehe, daß ich spät schwimmen lernte. Eine Weile tat ich so, als könnte ich es und wurde ausgelacht. Unser Vater erzählte, wie er als Husar in der Schwimmanstalt der Potsdamer Kaserne vom Zehnmeterbrett gesprungen sei. Wir glaubten es ihm, er war einer jener erwähnten mutigen Havelschwimmer. Jedoch: Was nützte das mir? Ich fürchtete mich, wenn mein Kopf unter die Wasseroberfläche geriet. Heimlich übte ich zu Hause, mit dem Bauch auf einem Hocker liegend, Schwimmbewegungen, die Joachim mir vormachte. Trotzdem hatte ich immer wieder Angst, sobald feststand, daß die Familie nach Wannsee fuhr, zumal ich auch gesehen hatte, wie der Schwimmlehrer seine Schüler mißhandelte, sie an einem langen Stecken durchs seichte Wasser schleppte und hin und wieder ohne ersichtlichen Grund einfach untertauchte.

Eines Sommertages verlor mein Vater die Geduld. »Gibt’s nicht«, sagte er in seiner kurz angebundenen Art, »ein Lümmel, der nicht schwimmen lernt. Ich halte dich fest, und wir schwimmen los.« Ich klammerte mich an ihn, schluckte Havelwasser und Tränen hinunter. Wie weit schwamm er mit mir? Fünfzig Meter? Hundert? Mir schien, als müßten wir gleich das andere Wannseeufer erreichen. Wassertretend hielt er mich hoch und rief: »Fünf Mark, wenn du zurückschwimmst.«

Einen Heiermann! Damals, vor der Inflation, war das viel Geld. Ich sehe Vaters Gesicht vor mir. Er blickte mich mit seinen blauen Augen an, aber in den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung. Kein Blinzeln, irgendwas kurz davor. Ich sah, daß er die Angelegenheit mit Humor betrachtete, mich weder auf der Stelle ersäufen noch über mich spotten würde, wenn ich es nicht schaffte. Ich stieß mich von ihm ab, machte Schwimmbewegungen, schluckte Wasser und wirklich, ich bewegte mich auf den Strand zu. Fünf Mark! Ich schwamm und schwamm. Wie lange? Eine Stunde? Einen Nachmittag? Endlich spürte ich Boden unter den Füßen, richtete mich auf und rannte hinter Vater her, um mir den Heiermann abzuholen, den blanken. Tante Deli, in schwarzem Badekostüm mit Rüschen, unter einem Sonnenschirm hingelagert, sagte: »Na, also.«

Natürlich konnte Anneli schwimmen, seit sie auf der Welt war, wenigstens so ungefähr. Und Joachim, davon war ich überzeugt, hatte es nie lernen müssen. Er hatte lediglich darauf zu achten, daß er seine Brille abnahm.

Auch jetzt, in Lindow, lag sie auf dem Steg, neben Onkel Rudolphs Zigarettenetui. Ich war glücklich. Ich hatte mitmachen können bei diesem spontanen Badefest, mußte nicht verloren auf dem Steg rumstehen und den anderen zusehen, wie bei unserem letzten Besuch vor zwei oder drei Sommern.

Joachim ähnelte dem Großvater äußerlich, wegen der Brille. Laura aber ähnelte unserer Großmutter in ihrem Wesen. Beide waren fürs Leben auf dem Land geboren, in der Stadt konnte man sie sich nicht vorstellen. Nicht einmal in der relativen Ländlichkeit unseres Vorortes. Felder und Wälder schlossen sich an den verwilderten Park und die Festwiese des Schützenhauses an, aber es war nicht dasselbe. Die Nähe der Riesenstadt, inzwischen Groß-Berlin, wie jeder immer wieder stolz betonte, als sei es sein höchstpersönliches Verdienst, daß die Gemeinden zusammengeschlossen worden waren – die Nähe dieses Molochs blieb spürbar. Vom Bahnhof marschierten Rudel von Ausflüglern zum Schützenhaus, wenn es das Wetter erlaubte. Sie sahen alles andere als ländlich aus mit ihren Strohhüten und den ein bißchen zu eleganten Anzügen, die Mädchen in Kleider gehüllt, die man als »Sonntagskleider« bezeichnen konnte. Jeder wollte etwas darstellen.

Obwohl wir uns das nicht klarmachten, wollten auch wir etwas darstellen, jeder auf seine Art. Vater einen Wirt, der Freundschaft hielt mit seinen Regimentskameraden. Tante Deli spielte ernsthaft die Wirtin, die »den Laden schmiß«, und Sternchen spielte den Radrennfahrer und Tausendsassa, der alles organisieren kann. Joachim spielte den Kintopp-Besitzer. Nur Anneli stellte sich selbst dar, heute scheint mir, sie war die einzige Ehrliche von uns.

Und ich? Wenn ich es recht überlege, ich spielte den Weisen, den »über meine Jahre hinaus Gereiften«. Mir hätte eine Laufbahn als Guru offengestanden, aber davon wußte ich damals noch nichts. Warum müssen Gurus immer aus Indien kommen? Warum nicht aus Berlin?

Statt dessen wurde ich Joachims Schlappenschammes, wie Sternchen es ausdrückte, der vieles sah und manchmal kluge Sätze vom Stapel ließ. Aber auch das fiel mir erst später auf – und wieder ein. Wenn Sternchen sagte: »Du bist Joachims Schlappenschammes«, verstand ich es nicht. Schon weil ich nicht wußte, was ein Schlappenschammes ist.

Laura war anders. Mit ihren weit auseinanderstehenden hellblauen Augen blickte sie energisch um sich, sie entschied, was gespielt wurde. Auf einer Wiese hielt Opa Schafe, vier insgesamt. Eins davon war zahm, Laura nannte es Klöterlämmchen. Seine Mutter, Klöterliese, mochte uns nicht, aber Klöterlämmchen lief hinter uns her, ließ sich geduldig von Zeppelin in die Fersen zwicken und verzehrte mit augenscheinlichem Vergnügen Salate, die Laura und Anneli ihm aus grünen Birnen, heimlich ausgegrabenen Frühkartoffeln und Löwenzahn bereiteten.

Laura bestimmte auch, daß die Puppen zweimal täglich gewickelt wurden. »Sièhste nich? Die sind naß. Und Kacke is ooch in den Windeln«, behauptete sie. Anneli machte ein durchaus ernstes Gesicht und rümpfte das Näschen, wenn sie die Windel ihrer Schlafaugenpuppe öffnete. In der Küche kochten die beiden Brei aus Haferflocken. Großmutter kam dazu, sah die Schweinerei, die sie angerichtet hatten, und lachte, daß ihr Riesenbusen wackelte. »Ach, ihr«, sagte sie. Das kannten wir schon von unserem Vater.

Wir hatten den Eindruck, daß Großmutter selten nach dem Rechten sah, sondern meistens auf der Terrasse vor der Glasveranda im Korbsessel thronte. Von da aus konnte sie in den Gemüsegarten hinüberspähen, wo Großvater sich gemächlich hackend zwischen Kohlpflanzen und noch winzigen Teltower Rübchen bewegte. Seine Hacke besaß einen enorm langen Stiel, denn er bückte sich nicht gern.

Tatsächlich aber brachte Großmutter, mit Hilfe von Tante Deli, drei Mahlzeiten täglich auf den Tisch. Reichliche Mahlzeiten, trotz der schlechten Zeiten, die in der Runde der Erwachsenen dauernd erwähnt wurden, manchmal waren es sogar lausige Zeiten. Diese Mahlzeiten reicherten die Frauen durch Verwendung der Fische und Krebse an, die Onkel Rudolph aus dem See zog, und mit Gemüse aus Opas Garten.

Lauras Mutter half selten. Lauras Mutter war vor allen Dingen schon. Wir Kinder wurden derart oft darauf aufmerksam gemacht, daß wir es schließlich einsahen. Joachim meinte, sie sei ebenso schön wie Hannelore aus der Eis-Anneliese, aber anders.

Lauras Mutter schritt im Strandanzug, Illustrierte unter dem Arm, eine Zigarette aus langer Spitze rauchend, zu einer Hängematte, die Opa ihr zwischen zwei Apfelbäumen gespannt hatte. Sie bettete sich in diese Hängematte, baumelte mit einem Bein. Das wie bei einer Matrosenhose ausgestellte Hosenbein flatterte. Sie las »Uhu« oder »Die Dame«, manchmal die »Berliner Hausfrau« – die hatte Oma abonniert. Auf dem gelackten Bubikopf von Lauras Mutter spiegelte die Sonne.

»Tante Frieda liest wieder«, brummte Onkel Rudolph. Mit seiner Krebsreuse zog er ab, hinunter zum See, blaue Wölkchen paffend, obwohl, wie ihm jeder mitteilte, Zigaretten seiner Lunge schadeten. Onkel Rudolph rauchte Kette.

Schon glaubte ich, daß in Lindow das Thema Kintopp ausgeklammert sei. Selbst Joachim schien vergessen zu haben, was er im Schützenhaus, nach seiner Art ein bißchen hochtrabend, »seine einzige Leidenschaft« nannte. Da sagte eines Abends Onkel Rudolph: »Wollt ihr Filme sehen?«

Alle redeten durcheinander, sagten »Vielleicht« und »Warum nicht?« und »Besser morgen, oder?«. Nur Joachim war Feuer und Flamme, jedenfalls bemerkte die Großmutter: »Der Bengel ist ja Feuer und Flamme.«

Wenig später saßen wir im verdunkelten Zimmer vor einem Bettlaken als Leinwand. Onkel Rudolph kurbelte an einem bemitleidenswert primitiven Projektor und zeigte uns, was er an Filmen aus Afrika mitgebracht hatte. Wir sahen unseren Onkel in voller Fremdenlegionsuniform, auf einem Kamel trabend. Wir sahen Araber, die ebenfalls auf Kamelen trabten und Flinten in die Luft warfen. Dann ein Wüstenfort mit Zinnen, vor dem Männer angetreten waren, die genauso aussahen wie Onkel Rudolph. Vor den Legionären ritt ein Mann auf einem Pferd auf und ab, wahrscheinlich ein Offizier, ich erinnere mich kaum an Onkel Rudolphs Erklärungen, was diese Streifen anbetrifft. Endlich kam eine ziemlich unterbelichtete Rolle, da war eine Frau zu sehen, die mit dem Bauch wackelte. »Rudi, das ist nichts für Kinder«, rügte Großmutter. Opa lachte.

Onkel Rudolph machte Licht an und nahm die Rolle heraus. Elektrisch hatten sie in diesem alten Haus erst seit einigen Wochen, die Petroleumfunzeln, mit denen das Haus vorher beleuchtet worden war, standen noch überall herum. Ich hatte Oma gefragt, wozu sie so viele Petroleumlampen brauche. Da hatte sie mir das mit der Elektrizität erklärt. In Berlin hatte ich in manchen Wohnungen zwar noch Gasbeleuchtung gesehen. Doch hatte ich nie gedacht, daß Elektrizität eine neue Errungenschaft sei.

Die Rolle, die dann lief, interessierte uns. Auf der Leinwand führte Onkel Rudolph einen Bären an einer Kette hinter sich her. Onkel Rudolph berichtete im Stil eines Rundfunkreporters: »Dies, meine Herrschaften, ist ein Tanzbär. Der Bär trat öffentlich auf. Sein Besitzer blies auf der Flöte, und der Bär tanzte. Danach sammelte der Mann Geld ein. Leider habe ich das nicht gefilmt.«

»Warum nicht?« fragte Anneli.

»Weil eine Kamera schwer ist, man hat sie nicht immer dabei.«

Auf der Leinwand erhob sich der Bär, blieb auf den Hinterpfoten stehen, aber er tanzte nicht. »Das ist gar kein Tanzbär«, flüsterte Laura. Tante Frieda zischte: »Ruhe. Sonst kriegste eine geschwalbt.«

Onkel Rudolph fuhr fort: »Der Bär tat mir leid. Er hatte eine Wunde am Hals von der Kette. Auf der Wunde saßen die Fliegen. Ich fragte den Mann, ob er den Bär verkaufe. Der Mann überlegte. Dann nannte er einen Preis. Einen ziemlich hohen Preis. Ich habe nicht mit ihm gehandelt, habe bezahlt«, sagte Onkel Rudolph stolz.

Der Bär schaute jetzt in die Kamera. Die Kamera war nähergerückt oder der Bär. Man sah nur den Kopf. Der Bär zwinkerte mit einem Auge. Wir lachten.

»Der Mann mit der Flöte«, sagte Onkel Rudolph, »drückte mir die Kette in die Hand. Der Bär ging hinter mir her. Es tat mir leid, daß er diese Wunde hatte, aber ich konnte ihn ja nicht ohne Kette laufen lassen.«

»Wieso nicht?« fragte Laura. »Klöterlämmchen läuft auch ohne Leine. Und Zeppelin.«

»Aber nicht der Hofhund«, sagte Onkel Rudolph. »Hofhunde und Bären sind gefährlich, klar? Als ich aus der Stadt raus war, zog ich mir die Unterhose aus und schob sie dem Bären über die Wunde. Da guckte er genauso wie eben im Film. Er zwinkerte mir zu, und ich wußte, wir werden Freunde.«

Opa fragte: »Warum hast du dir nicht das Hemd ausgezogen?«

»Wegen Sonnenbrand«, sagte Onkel Rudolph.

Die Spule war zu Ende, eben lief das unbelichtete Ende durch. Wir gingen wieder hinaus auf die Veranda, es sollte Blaubeeren geben.

»Dick und Doof wären mir lieber gewesen«, flüsterte Joachim. Ich antwortete nicht. In diesen Ferien mochte ich überhaupt keinen Kintopp.

Nachts schlichen wir Kinder aus dem Haus und schwammen im Gudelacksee. Der Mond, eine kraftige Sichel, die viel Licht verströmte, lag auf dem Rücken über dem Horizont und stieg schnell höher. Wenn wir das Wasser mit den Armen zerteilten, blinkten die Wellen silbern. Vor uns lag fast schwarz die Insel mit ihrem Ziegelschornstein, der in den Himmel ragte. Es sah aus, als habe die Insel einen Griff, einen für Riesen. Der Riese würde kommen und die Insel an diesem Griff aus dem Wasser heben. Es würde eine Flutwelle geben, die uns verschlang.

Einmal, als wir zurück in unsere Zimmer tappten, hörte ich aus einem der Schlafzimmer die Stimme von Tante Deli: »Ich wünschte, du wärest wieder Oppusoff.«

»Oblomow«, brummte mein Vater.

Es roch nach Zigarre.

Viel zu früh fuhr Ede Kaiser mit seinem Chevrolet vor. Die Ferientage bei Oma und Opa waren zu Ende. Sie standen alle am Zaun, Großvater, Großmutter, Laura, Tante Frieda, Onkel Rudolph und Klöterlämmchen. Sie winkten, und Laura rief: »Gute Reise!«

»Ach, ihr«, sagte Großmutter und verschränkte die Arme unter ihren Brüsten.

Das Schützenhaus

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