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Mein Vater legte sich wieder ins Bett. Er raschelte mit den Zeitungen, sein Kopf mit den militärisch kurzgeschnittenen Haaren ragte aus den Kissen. Wer etwas von ihm wollte, blieb im Türrahmen stehen, bis der Blick aus blauen Augen ihn traf.

Sternchen Siegel fuhr fast jeden Tag auf seinem Rennrad vor. Damit begann eine Epoche, in der mein Vater sich überraschend oft von seiner Lagerstatt erhob. Am Eßtisch sitzend, blätterte er in Papieren und erteilte Sternchen Aufträge. Bei solchen Anlässen rückte Sternchen den Schirm seiner Mütze nach vorne, er nahm sie aber nicht ab, obwohl Tante Deli ihn des öfteren dazu aufforderte: »Nehmen Sie doch Ihren Deckel ab, wenn Sie bei uns im Zimmer sitzen.«

Sternchen grinste, behielt aber die Mütze auf. Wenn er davonfuhr, drehte er den Schirm wieder nach hinten.

Manchmal verließ mein Vater das Haus, es hieß dann, er sei zum Schützenhaus hinübergegangen. Er forderte uns jedoch nie auf, ihn zu begleiten, nur Zeppelin nahm er mit. Kam er von einem dieser geheimnisvollen Gänge zurück, saßen wir Kinder um den Eßzimmertisch, auf dem er seine Papiere ausbreitete. Dieser Tisch war der zentrale Versammlungspunkt, hier wälzte Tante Deli ihre Wirtschaftsbücher, gewichtige Kladden in schwarzen Kaliko-Einbänden. Auf der grünen Tischdecke lagen auch unsere Schulbücher.

Wir machten Schularbeiten. Oder jedenfalls gaben wir vor, sie zu machen. Joachim und mich langweilten Hausaufgaben, das Wichtigste erledigten wir während der Pausen in der Schule, genierten uns nicht, abzuschreiben in Fächern, in denen wir schwach waren. Anneli hingegen, mit der Ordentlichkeit einer Katze, die ihr Fell durch Lecken reinhält, malte ihre Buchstaben und Zahlen. Wir halfen ihr, weil wir unseres eigenen Pensums überdrüssig waren. Bereits zu Beginn eines jeden Schuljahrs, wenn wir die neuen Bücher vom Buchhändler Holzapfel erworben hatten, lasen wir sie durch, von vorne bis hinten, mit rasanter Geschwindigkeit. Der Unterricht konnte uns dann, meinten wir, nichts Neues mehr bieten, von ein paar Überraschungen abgesehen. Die passierten eigentlich nur, wenn ein Lehrer unversehens vom Lehrplan abwich. Dann hielt er sich aber meistens nicht mehr lange in der Schule und verschwand.

Wir saßen am Tisch in diesem zentralen Raum unserer Wohnung, weil wir hier alles erfuhren. Hier war der Mittelpunkt unseres häuslichen Lebens. Mein Vater, von seinen Gängen zurück, umrundete uns, wir sahen zu ihm auf. »Ach, ihr!« sagte er. – Er sagte es mit einer Zärtlichkeit, die bei diesem verschlossenen Mann erstaunte. Wir bedurften dieser Worte, und wir liebten ihn dafür. Manchmal fuhr er uns mit der Hand hinten in den Kragen und zwickte uns in den Nacken, als wolle er seine Kinder wie eine Katzenmutter davontragen, an ein sicheres Plätzchen. Heute bin ich überzeugt, daß dies nicht unbewußt geschah. Da wir mutterlos aufwuchsen, wollte er uns wohl fühlen lassen, daß er in unserer Nähe war, daß es ihn gab, auch körperlich. Dazu gehörten: zwei Holunder-Pistolen, die er uns bastelte, ein Drachen und ein paarmal Prügel mit seinem Leibriemen, den er umständlich abschnallte, bevor er ihn auf unsere Hintern niedersausen ließ.

Heute frage ich mich: Hat das ausgereicht? Aber wir liebten ihn. Väter waren so, damals, in der guten alten Zeit, die keine gute mehr war, wie sich bald herausstellte.

»Das Geld wird gleich nichts mehr wert sein«, prophezeite er, wenn er seine Pläne mit Tante Deli besprach. Wir hatten dann an dem grünen Tisch, wie wir das Möbel der Decke wegen nannten, nichts zu suchen. Joachim ging in seinen Laborkeller, Anneli spielte in ihrem Zimmer mit Puppen, ich jedoch, wißbegierig, drückte mich in der Nähe herum, schnappte auf.

»Wichtig ist die Flucht in die Münze«, sagte mein Vater. »Das können sie so schnell nicht umstellen.« Er hortete in einer Schublade der Schlafzimmerkommode Rollen mit Zweimarkstücken, »für den Notfall«.

Für welchen Notfall? Das Wort Inflation fiel noch nicht. Oder fiel es und bedeutete mir nichts?

Joachim nahm im Labor seine Apparate auseinander. Er wollte einen Projektor bauen, dazu brauchte er die Objektive seines Vergrößerungsapparates. »Das Schwierige ist dieses Malteserkreuz«, erklärte er mir. »Das Malteserkreuz dient der Zerlegung in Einzelbilder.«

In der Großgörschenstraße, in der Nähe unseres Mietshauses, existierte ein Laden mit technischem Krimskrams, eine mit Trümmern angefüllte Höhle, die von einem öligen Mann in grauem Kittel verwaltet wurde, der Herr Meier hieß. Herr Meier trug stets einen Hut, der, nicht weniger speckig als der Kittel, auf seinem Kopf glänzte. Wie unser Vater kaute er auf einem Zigarrenstummel.

Joachim hatte sich mit Herrn Meier angefreundet. Einige Male fuhren wir in die Stadt. Zwar wußte Herr Meier nichts von Projektoren und ihrer Konstruktion, aber er half Joachim bereitwillig beim Suchen und machte ihm Preise, die unseren bescheidenen Taschengeldverhältnissen angemessen waren. Für ein paar Mark schleppten wir Kisten von möglicherweise brauchbaren Teilen in unsere Vorortwohnung und dann in Joachims Labor. Joachim schob sich, wenn er die Schätze auspackte, die Brille auf die Stirn, er sah besser ohne diesen Korrekturapparat, der ihn überdies verunstaltete.

Manchmal spionierten wir auch bei Benjamin. Wir sagten ihm nichts von unseren Filmfunden, obwohl wir den Chaplin-Film gern gesehen hätten, anderer Filmstreifen wie »Fips, der Affe« und ähnlicher fürs frühe Heimkino produzierter Banalitäten waren wir überdrüssig. Joachim ging es darum, die Geheimnisse des Projektors zu ergründen, der mit einer Handkurbel betrieben wurde. Benjamin behielt sich die Vorführung selbst vor, er ließ weder Joachim noch mich an seine Maschine, die, grau und gußeisern, auf einem Gestell montiert war.

Ein neues Problem ergab sich mit der Lampe. Eine hohe Lichtstärke war nötig, damit die Bilder klar auf der Leinwand erschienen. Die Lampen strahlten jedoch dermaßen viel Wärme ab, daß sie die Filmoberfläche beschädigten. Wir experimentierten mit unterschiedlichen Lichtstärken, benutzten die erbeuteten Tierfilme.

»Es gibt keine Lösung«, sagte Joachim. »Benjamins Apparat besitzt ein Kühlgebläse. Ich sehe mich außerstande, so ein Gebläse zu bauen.«

Wieder so eine geschraubte Redewendung: »Ich sehe mich außerstande.« Diesmal wußte ich, wo er sie herhatte. Professor Rübelmann, der in seiner und meiner Klasse Latein gab, sagte gern: »Ich sehe mich außerstande, euch Primitivlingen diese schönste aller Sprachen zu vermitteln.«

»Was bastelt ihr eigentlich?« fragte einmal mein Vater. Wie üblich, legte er jedoch auf eine präzise Antwort keinen Wert. Ja, er verzichtete meistens überhaupt auf Antworten unsererseits. Er kümmerte sich nicht um unsere Schularbeiten, allenfalls fragte er, wenn er, des Bettdaseins überdrüssig, um den Tisch strich: »Kommt ihr gut voran?« Unsere Zeugnisse enthielten wenig Hinweise auf unsere Faulheit, wir reparierten die ärgsten Katastrophen durch unser ausgefeiltes Abschreibesystem. Anneli durchschaute uns. »Ihr seid von der Firma Klemm und Lange«, spottete sie, zaghaft, sie wollte das Hilfssystem nicht gefährden, von dem wiederum sie profitierte. In wenigen Minuten rechnete Joachim Annelis Divisionsaufgaben aus, sie selbst hätte den ganzen Tag dafür gebraucht.

»Wir könnten«, schlug Joachim vor, »die übrigen Filme aus dem Schützenhaus holen.«

»Es ist verschlossen«, gab ich zu bedenken. »Die Fenster sind vernagelt.«

»Hat uns so was je gestört?«

Wir pfiffen Zeppelin. Anneli war spielen bei einer Freundin, wir hätten sie nicht dabeihaben wollen. Alarmiert rief Tante Deli aus der Küche: »Wo wollt ihr hin? Ihr richtet doch nichts an?«

»Ein bißchen raus«, sagte Joachim. »Den Hund ausführen. Zeppelin liegt den ganzen Tag nur unter dem Bett.«

Tante Deli stellte sich in den Türrahmen, diesmal in der Küchentür, die ebenfalls auf unseren Dorfplatz, das Eßzimmer, mündete. Hier herrschte ein angenehmes Halbdunkel, es machte das Lügen oder, wie wir es nannten, das Verharmlosen leichter. Tante Deli wußte das und betätigte den Lichtschalter. Der Kronleuchter flammte auf, ein aus Geweihen bestehendes, mit elektrischen Kerzenimitationen bestücktes Monstrum, mein Vater behauptete, es stamme aus einem ehemaligen Jagdschloß des Prinzen Adalbert von Preußen. Ich bezweifle heute, daß Prinz Adalbert – gab es ihn? – ein Jagdschloß besaß, und wenn, daß er sich zugunsten des Millionenbauernsprosses Walter Pommrehnke von einem Kronleuchter getrennt hatte.

Gleichviel, der Kronleuchter übergoß uns mit Licht. Mit entlarvendem Licht. »Ich kenne meine Pappenheimer«, drohte Tante Deli. »Macht bloß keine Dummheiten.«

Wir verzogen uns in Richtung Ausgang, jagten mit Zeppelin die Treppe hinunter.

Gegenüber lag ein Park, uns als Spielplatz vertraut. Als wir klein waren, wurden wir in diesen Park zur Buddelkiste geführt. Joachim war bald dem Sandspiele-Alter entwachsen, mußte aber mitgehen. Er haßte seitdem diesen Park. Zeppelin hielt auch nichts von solchen miserablen Jagdgründen, es gab dort nur Eichhörnchen.

Ausgerechnet heute verschwand er pfeilschnell über die Straße ins Unterholz. Wir pfiffen und riefen, ohne Erfolg. »Scheißtöle«, sagte Joachim, indem er Papas Bezeichnung für Zeppelin im Stadium des Ungehorsams benutzte.

Bei der ersten Parkbank trafen wir ihn. Er hockte vor einem Mann, der auf der Bank seine Mahlzeit ausgebreitet hatte, Wurststullen, das Butterbrotpapier glänzte vor Fett. Gerade nahm der Mann eine Bierflasche auf und setzte sie an. Zeppelin beobachtete ihn mit treuestem Hundeblick. Der Mann trank und setzte die Flasche ab. »Eurer?« fragte er. »Scheint ’n richtijer Jachthund zu sein, wat? Ick sage euch, so wat verkümmert in de Stadt. Kiekt mal, wie der hinter meine Stullen her is. Jesetzt der Fall, ick jeb ihm ’ne Käsestulle, wa? Ick hab zufällich keene Käsestulle, aber wenn ick nu eene hätte? Der Hund frißt Käse, denn riecht er nüscht mehr. Für die Jacht unjeeignet. So ’n Hund verliert den Jeruchssinn. Na ja. Vielleicht nich von eene einzije Käsestulle. Aber auf die Dauer. In de Stadt verderben se die Hunde. Wie heeßt er denn?«

»Zeppelin.«

»Zeppelin? Det is mir vielleicht ’n Name for ’n Hund. Wem is det einjefall’n? Kann er fliejen?«

»Er heißt eben so. Natürlich kann er nicht fliegen«, sagte Joachim und nahm Zeppelin beim Halsband. »Er hieß so, als wir ihn bekamen.«

»Vielleicht kann er wirklich fliejen«, brummelte der Mann. »So jenau kann ick det nich sehen, ick hab mir jestern uff meene Brille jesetzt, und nu isse hin. Hier, een Happen von meene Wurststulle, is beste Mettwurst von Jebrüder Jroh. Und nu haut ab.«

Zeppelin schnappte sich den Bissen. Wir nahmen ihn an die Leine. Erst jenseits der Unterführung ließen wir ihn frei.

»Heute ist was fällig«, sagte Joachim. Er wußte nicht, wie recht er hatte. In der Laubenkolonie Tausendschön lebten unsere Feinde. Ein gewisser Wilfried hatte eine Bande gebildet. Wilfried Wumme nannten sie ihn, er spielte bei der Jugendmannschaft der »Wespen« Fußball, seine Elfmeter, als Wummen bezeichnet, galten für unhaltbar.

Eine Weile hatte Waffenstillstand geherrscht. Doch seit wir Sirene, den Kleinsten von Wummes Bande, geschnappt hatten, war Wumme wieder hinter uns her. Wir hatten Sirene den nackten Hintern mit Akazienruten versohlt. Er schrie mörderisch, machte seinem Namen Ehre, das Geschrei stand in keinem Verhältnis zu dem Schmerz, den wir ihm zugefügt hatten. Sirenes Abgang war filmreif, er ließ die Hosen baumeln, hielt sich mit beiden Händen die Hinterbacken und schrie, während er mit winzigen, von der baumelnden Hose gehemmten Schritten der Laubenkolonie entgegentaumelte. Wir hatten uns nicht allzulange an dem Anblick weiden können, Sirenes Geschrei hatte Wummes Bande alarmiert. Damals waren wir ihr entkommen, aber wir wußten: Kriegszustand herrschte.

Nun hätten wir einen Umweg machen können. Doch in unseren Köpfen ging nichts anderes rum als der Gedanke, an die Filme im Schützenhaus heranzukommen. Wir trabten den Sandweg entlang, zwischen den Akazien. Weit voraus hörten wir Zeppelin kläffen. Ich fürchtete mich vor der Brücke über den Graben.

In der Schule hatten wir ein Gedicht gelernt, in dem eine Brücke vorkam, die einstürzte, wenn Kinder gelogen hatten. Ich hatte das Gedicht ernst genommen. Aber die Brücke über den Graben würde nicht einstürzen, wenn ich sie nur mit einer Lüge im Herzen betrat, das glaubte ich fest. Doch sie hieß unter den Vorstadtkindern auch »Wilfried-Wumme-Brücke«. Der Name deutete auf Eigentumsrechte hin, das war Wilfrieds Brücke, er beherrschte sie, ihm oblag es, den Steg nach Belieben zu sperren oder freizugeben.

»Joachim«, rief ich. Doch mein Bruder zockelte durch den grünen Tunnel, in einer Art Hundetrab, den er Zeppelin abgeschaut hatte, Sand stob auf unter seinen Sohlen.

»Joachim!«

Seine Filme. Warum ließen wir sie nicht in dem Karton? Ohnehin würden wir nie einen Apparat besitzen, mit dem wir sie sehen könnten. Noch mehr Pinguine und Eisbären auf beschädigtem Zelluloid. Andere Jungen stellten Rauchbomben damit her, man wickelte die Filmstreifen fest in Papier, zündete ein Ende an, und die Rauchfahnen, die sich durch das langsame Glimmen entwickelten, erschreckten Lehrer und Nachbarmädchen.

Die Brücke. Wenn Wilfried und seine Komplizen uns schnappten, würden sie jene Mißhandlungen an Joachim und mir rächen, die wir Sirene hatten angedeihen lassen.

Der Weg öffnete sich. Ans Brückengeländer gelehnt, stand Wumme. Er paffte eine Zigarette, die er, zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, ruckartig zum Mund führte. Hinter ihm lehnten zwei andere Jungen aus der Kolonie in ähnlicher Haltung am Geländer, sie ahmten Wumme nach, doch die ungeheure Lässigkeit ihres Anführers blieb für sie unerreichbar. Zeppelin raste davon, die Böschung hinunter. Neben der Brücke setzte er über den Graben, sauste die gegenüberliegende Böschung hinauf und verschwand.

Joachim ging, das Traben hatte er eingestellt, langsam auf die Brücke und ihre Bewacher zu. Ich holte auf, marschierte hinter meinem Bruder im Gleichschritt. Wie würde er sich entscheiden? Würden wir Zeppelins Beispiel folgen und über den Bach springen? Würden wir umdrehen und weglaufen? Fast wünschte ich das. Wenn die Ehre nicht gewesen wäre. Ehrenvoll das Kommende durchstehen, eine andere Möglichkeit, ahnte ich, gab es nicht.

Der Abstand schmolz. Schon konnte ich, wie es in den Groschenheften hieß, die wir damals verschlangen, »das Weiß im Auge des Feindes« sehen. Wir gingen weiter.

Jetzt betrat Joachim die Brückenbohlen. Wilfried Wumme und seine Mannen blickten uns an, reglose Gesichter. Wilfried warf seinen Zigarettenstummel hinter sich in den Bach. Wir gingen so nahe an den Feinden vorbei, daß wir sie fast streiften. Der Steg war schmal. Ich wartete auf den Faustschlag.

Doch nichts geschah. Reglos verharrten unsere Feinde. Erst als Joachim den letzten Brückenwärter passierte, griff dieser blitzschnell in Joachims Gesicht und riß ihm die Brille von der Nase. Joachim blieb stehen, plötzlich, so daß ich gegen ihn rannte. Der Feind schwenkte Joachims Brille an einem Bügel, wie man einen Knochen vor einer Hundenase schwenkt. Ich rechnete damit, daß Joachim nach seiner Brille griff. Gleichzeitig hoffte ich, er würde es nicht tun, sich keine Blöße geben, die unsere Ehre beeinträchtigen könnte.

Half mein Wünschen? Joachim stand regungslos, ich hautnah hinter ihm. Er mußte meinen Atem im Nacken spüren. Der Junge hielt die Brille, sie tanzte vor Joachims Gesicht. In diesem Augenblick sagte Wilfried mit gefährlich ruhiger Stimme:

»Gib sie ihm wieder.«

Der Junge lachte, in schrillem Ton. Dann warf er die Brille in den Graben.

Wir drehten uns um. Wilfried kam auf uns zu. Er ging mit wiegendem Schritt, so, wie es später Gary Cooper in »Zwölf Uhr mittags« demonstrierte. Der Junge lachte wieder, aber nun leise, verlegen.

Einen Schritt vor uns blieb Wumme stehen. »Hol die Brille«, sagte er zu seinem Kumpel. Der zuckte mit den Achseln. Die Hände in seine Taschen gebohrt, ging er zum Ende des Stegs. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er die Böschung hinabkletterte.

Wumme sah uns nicht an. Sein Blick blieb auf die Brückenbohlen geheftet.

Sein Kumpel kam zurück. Reichte Joachim die Brille. Sie war mit Schlamm beschmiert, ein Glas war zerbrochen. Joachim nahm sie mit einer Handbewegung, in der größtmögliche Zurückhaltung lag, als traue er dem Frieden nicht.

Jedoch verlief die Übergabe reibungslos. Ich stubste Joachim in den Rücken. Wir setzten unseren Weg fort. Wir drehten uns nicht um, hörten, wie Wumme und seine Kumpane abzogen, sie trampelten über die Bohlen der Brücke nach der anderen Seite, dort führte ein Weg in die Kolonie. Einer von Wummes Begleitern sang: »Wie oft sind wir geschritten – auf schmalem Negerpfad…«

Nach einer Weile blieb Joachim stehen, ich ebenfalls. Mein Bruder zog sich einen Hemdzipfel aus der Hose und rieb an dem heilen Glas der Brille. »Verdammte Obermückenscheiße«, sagte er. »Das Nasenfahrrad ist im Eimer.« Wieder einmal griff er hoch bei der Wahl seiner Worte.

Ich überlegte: Warum hatten die Tausendschönchen, wie wir die Kinder aus der Laubenkolonie nannten, uns nicht verprügelt? Warum hatten sie uns nicht in den Graben geworfen? Warum uns nicht – für diese Spezialität waren sie bekannt – an die nächste Akazie gefesselt? Kaum jemand benutzte den Weg, es hätte Stunden gedauert, bis wir gefunden worden wären.

»Warum haben sie uns nicht verkloppt?« fragte ich Joachim.

»Weiß nicht«, brummte mein Bruder. Er hatte die kaputte Brille aufgesetzt, sah mich durch das immer noch verschmierte eine Glas an. »Vielleicht heben sie sich das auf. Für den Winter.«

Es wunderte mich nicht, als er sagte: »Dies ist kein Tag fürs Schützenhaus. Gehen wir nach Hause.«

Ich nickte. »Aber den Umweg. Wo ist Zeppelin?«

Wir pfiffen. Zeppelin brach aus einem Gebüsch, mit Gras und Kletten behängt. Sein Schwanzwedeln drückte höchste Unschuld aus, als erwarte er, daß wir ihn lobten, ihm ein »Brav, lieber Hund« entgegenschmetterten. Statt dessen rief Joachim: »Ratte!«

Zeppelin zog die Lefzen hoch. Ich glaube, er lachte uns aus.

Das Schützenhaus

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