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Оглавление»Ratten«, brüllte mein Vater. Er warf den erkalteten, zerkauten Zigarrenstummel in den Aschenbecher. »Womit habe ich das verdient!«
Wir standen vor ihm, Joachim mit verschmierter Brille. Die Sonne schien schräg ins Schlafzimmerfenster. Mein Vater saß im Bett und betrachtete uns. Ach, wäre es doch ein trüber, dunkler Tag gewesen, ein Novembertag mit Regenwolken. Statt dessen diese strahlende Abendsonne, die uns wie ein Scheinwerfer beleuchtete.
Hinter uns, natürlich an den Türrahmen gelehnt, stand Tante Deli. »Ich hab’ gleich gesagt, sie taugen nichts«, sagte sie. »Seit ihre Mutter tot ist, tun sie, was sie wollen. Du kümmerst dich nicht genügend um deine Jungen, Walter. Sie verkommen.«
»Du?« rief mein Vater. »Du fällst mir in den Rücken?«
Hinter Tante Deli sah ich, im Halbdunkel des Eßzimmers, Anneli. Sie stand auf einem Bein und popelte in der Nase. »Stubenarrest«, sagte mein Vater. »Eine Woche Stubenarrest.«
»Wie sieht der Köter aus«, schimpfte Tante Deli. »Ich muß die ganze Schweinerei wieder in Ordnung bringen. Und Hansi! Ihr seid richtige Ferkel.«
»Der kleene Hansi ist ein Ferkel«, schrie Anneli. Ich warf das Rechenbuch nach ihr, das auf dem Tisch unter dem vermaledeiten Kronleuchter lag. »Wasch lieber die Töle«, schrie ich zurück.
»Ruhe im Beritt«, brüllte mein Vater. Manchmal unterliefen ihm, Gewohnheit aus seiner Kavalleristenzeit, militärische Ausdrücke. Ich hörte, wie Anneli in ihrem Zimmer, hinter geschlossener Tür, zwitscherte: »Hansi mit dem kleinen Schwansi…«
Konspirative Überlegungen hielten uns die nächsten Tage in Atem. An der Tür war mit Reißnägeln der Stundenplan befestigt, von Tante Deli einsehbar. Sie wußte, wann wir Schulschluß hatten und zu Hause eintreffen würden. Von diesem Augenblick an begann übergangslos unser Hausarrest. Wir wollten uns aber unbedingt die übrigen Filmrollen aus dem Schützenhaus beschaffen.
Hoffnung schöpften wir durch die Tatsache, daß die Erwachsenen immer öfter ihre Köpfe zusammensteckten und, wie Joachim es nannte, »die Zukunft besprachen«. Wenn ich mir das heute, in der Erinnerung, zusammenreime, beschäftigte sie die bevorstehende Inflation. Mein Vater meinte, man müsse alles verfügbare Geld anlegen, sogar Bankschulden machen. Das löste bei Tante Deli Monologe etwa folgender Art aus.
»Woher willst du Geld nehmen? Hättest du nur nicht Kriegsanleihe gezeichnet. Das Geld ist futsch. Ich frage dich nicht, wieviel du verloren hast, geht mich nichts an. Mir ist jedoch nicht entgangen, daß auf den Häusern Hypotheken liegen. Wir sparen, wo wir können. Die Mieteinnahmen, da will ich lieber nicht von reden. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Weiß ja auch, was du mir für den Haushalt gibst. Wenn du von den Einnahmen die Hypothekenzinsen bezahlen kannst, kannst du froh sein, oder? Und wovon willst du das Schützenhaus bezahlen? Die Brauerei gibt Kredit? Wofür gibt sie Kredit? Fürs Bier. Vielleicht stiftet sie dir ein Dutzend Gläser. Und ein Wirtshausschild. Hast du bereits bestellt? Wer zahlt das? Geht mich nichts an. Ich weiß, ich weiß, du kaufst das Schützenhaus nicht, du pachtest es. Und wenn keiner kommt? So weit draußen. Wer will da sein Bier trinken? Die Leute gehen in die Kneipe an der Ecke. ’ne Molle mit Korn. Boulette. Solei. Bis Schützenfest ist, wird das Bier mulsch. Mensch, Walter! Siehste denn das alles nicht?«
»Doch, doch …« Mein Vater saß aufrecht in seinen Kissen.
»Und dann der Umbau«, fuhr meine Tante fort, wobei sie Stand- und Spielbein wechselte. »Wer soll das bezahlen? Wenn wir in den Räumen oben wohnen sollen, müssen die Maler kommen. Gleich ist Winter. Wer bezahlt den Koks? Und glaub ja nicht, daß ich dir den Dreck wegmache. Du brauchst Personal, für die Schank, einen Kellner. Wenn nichts läuft, hauen die ab. Also mußt du dir was einfallen lassen. Meinste, du kannst weiter im Bett liegen wir dieser Oppusoff ?«
»Oblomow«, korrigierte mein Vater.
In der Tat saß er bald mehr am Tisch unter dem Kronleuchter, als daß er im Bett lag. Von der Brauerei kam manchmal ein Vertreter, und sie rechneten. Es war nicht mehr Berliner Kindl, wie man hätte meinen können, wenn man an das schief hängende Reklameschild am Schützenhaus dachte. Mein Vater hatte sich mit Schultheiß Patzenhofer verbündet.
Warum?
»Das Bier schmeckt mir besser«, sagte er. »Persönlicher Geschmack. Nischt gegen Berliner Kindl.«
»Ich will Faßbrause haben«, sagte Anneli. Mein Vater beruhigte sie: »Faßbrause wird auch ausjeschenkt.«
Tante Deli faßte sich an ihren Dutt. »Wenn das man gutgeht.«
Sternchen Siegel kam mehrmals täglich, nahm Aufträge entgegen. Worum es sich im einzelnen handelte, erfuhren wir nicht, eine Menge Wörter fielen, mit denen sich für uns keine Vorstellung verband. Wir wußten lediglich, daß Sternchen die Schlüssel zum Schützenhaus besaß.
Wie aber an die Schlüssel rankommen? Und wie den Stubenarrest umgehen? Sollten wir Sternchen zu unserem Komplizen machen? Diese Filmangelegenheit war für Joachim und wider Erwarten auch für mich in einen Bereich hoher Wichtigkeit gerückt. Vielleicht hätten wir einfach fragen sollen: »Da ist ein oller Karton mit Filmen. Können wir die haben?« Aber das fiel uns nicht ein. Tiefer und tiefer verstrickten wir uns in unsere Geheimnistuerei.
Joachims Dunkelkammer diente uns als Zentrale für unsere konspirativen Sitzungen. Ungestört blieben wir dort jedoch nicht. Tante Deli legte in berechtigtem Mißtrauen Kontrollgänge ein, sie schlich die Treppe hinunter, stand überraschend in der Tür. »Da seid ihr«, sagte sie, als habe sie uns überall sonst vermutet, nur nicht hier. »Und die Schularbeiten?«
Sie erwartete keine Antwort. Nach wie vor pfiffen wir auf die Schularbeiten, und sie wußte es. Ein stillschweigendes Abkommen: ihre Frage, keine Antwort.
Auf der Leine über dem Spülbecken hing an Klammern das Foto von der Libelle, irgendwann hatte Joachim es aus dem Wasser genommen und aufgehängt, seine letzte Vergrößerungsarbeit. Der Apparat war auseinandergenommen, die Optik in ein Gestell eingefügt, das einem verkleinerten Schiffshebewerk glich. Wir schraubten an diesem Apparat, bastelten eine Transmission, zweckentfremdeten die Kurbel vom Grammophon im Wohnzimmer, das fiel niemandem auf, keiner spielte Schallplatten. Doch der Projektor funktionierte nicht. Entweder haperte es mit dem Filmtransport, oder die Lampe war zu schwach, oder die stärkere Lampe setzte den Film in Brand.
Und die Filme im Schützenhaus? Die Erwachsenen, meinten wir, hätten genügend Gründe, die Wohnung zu verlassen. Der Hund mußte ausgeführt, das Schützenhaus besichtigt, die Brauerei besucht weren. Außerdem waren wir jetzt Groß-Berlin. Fast vier Millionen Einwohner. Das Leben tobte, auf dem Kurfürstendamm, Unter den Linden, Friedrichstraße, wir lasen es täglich in den Zeitungen, die sich in Stapeln häuften, neben dem Bett meines Vaters und auf der Anrichte.
Er liebte Zeitungen, glaubte wohl auch ein bißchen, was darin stand. Aus dem Felde hatte er damals Tante Deli angewiesen, Kriegsanleihen zu zeichnen, Walter Rathenau, zu der Zeit Präsident der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft, hatte in der Zeitung geschrieben: »Schmiedet die goldene Rüstung dem Arm, der das stählerne Schwert führt!«
Sie saßen um den Tisch unter dem Kronleuchter, statt auszugehen. Unser Vater kaufte Schnaps. »Ich lagere den ein«, sagte er. »Saufen tun sie immer.«
Aktivitäten, die unsere Zukunft im Schützenhaus betrafen. Eine Zukunft, die wir uns nicht vorstellen konnten. Wir dachten an die Filme. Tante Deli ging einkaufen, während wir in der Schule die Stunden absaßen. Den Stundenplan hatte sie besser im Kopf als wir. Rechtzeitig war sie vom Markt in der Spandauer Straße zurück, um unsere Ankunft zu kontrollieren. Den Hund führte Anneli aus. Sie bekam sogar ein Extrataschengeld dafür. Wir hatten das, wie Joachim es wütend formulierte, »gratis und franko« getan.
Anneli spielte Hundefamilie. Ein Stoffhund, weiß mit schwarzen Ohren und hartem Holzwollebauch, war das Kind, wurde in Puppenkleider gehüllt, im Puppenwagen umhergeschoben. Zeppelin war der Vater, Anneli die Mutter. »Dir wird ‘ne Hundeschnauze wachsen«, spottete ich.
»Leck mich«, sagte Anneli, sie lernte solche Ausdrücke von Lieschen, der Portierstochter in unserem Haus.
Zeppelin wußte wenig mit seiner Vaterrolle anzufangen, er beschnüffelte den Puppenwagen, in dem der Stoffhund lag, stellte jedoch per Duftsynthese fest, daß er sich zur Vaterschaft nicht bekennen mußte. »Du blöder Zellepin«, rief Anneli, »siehst du nicht, daß hier dein Kind liegt?« Zeppelin sah es nicht. Er kroch unters Bett, sobald unser Vater sich hineinlegte, und steckte die Schokonase hervor.
Joachim meinte, wir müßten die Schule schwänzen. »Was hast du Mittwoch in der letzten Stunde?«
Ich sah auf den Stundenplan: »Geschichte. Die Reichsgründung durch Bismarck. Habe ich schon gelesen.«
»Knorke. Ich habe Musik. Fällt auch nicht auf, kombiniere ich. Wir hauen nach der vierten Stunde ab und holen die Filme.«
»Wir haben keinen Schlüssel fürs Schützenhaus«, sagte ich.
»Schnurz und piepe. Wir lösen ein Brett vorm Fenster. Zur Not schlagen wir eine Scheibe ein.«
Ich steckte die Hände in die Taschen. »Nicht unser Stil, eigentlich.«
»Was heißt hier eigentlich?« sagte Joachim. »Not kennt kein Gebot.«
Doch als wir am Mittwoch beim Schützenhaus ankamen, war alles verändert. Die Bretter vor den Fenstern waren entfernt worden, vor dem Haus lag ein Haufen Kies. Ein Lastwagen fuhr Mörtel an. Die Tür stand offen, auf die Terrasse trat ein Mann in Maurerkleidung, einen grünen Hut auf dem Kopf. »Wat wollt ihr hier?« fragte er.
»Wir sind die Söhne von Herrn Pommrehnke«, sagten wir. »Wir wollen mal gucken.«
»Ach so«, sagte der Mann. Er ging zum Lastwagen. Wir liefen ins Haus, die Treppe hoch, die nun keine düstere Stiege ins Nichts mehr war. Auch durch die Treppenhausfenster drang das Tageslicht. Allerdings waren alle Möbel und Gegenstände aus den Räumen verschwunden und mit ihnen der Karton, in dem die Filmrollen lagen. »Zu spät«, sagte ich. »Jemand ist uns zuvorgekommen.«
»Wer braucht so was? Und wer hat das erlaubt?« Joachim wunderte sich. Er war nicht eigentlich enttäuscht, er wunderte sich. Hatte es nicht für möglich gehalten, daß eine Veränderung derart schnell eintreten könnte.
Wir fragten den Maurer, wo die Möbel hingekommen seien. »Abjeholt«, sagte er. »Von de Müllabfuhr. Heute früh. Jleich kommen die Maler für oben. Und wir, wir fangen mit det Mauern an. Die Küche wird nach oben verlegt.«
Wir standen ratlos herum, bis der Mann sagte: »Jeht uff die Seite, der Kalk spritzt.« Joachim verstand die Welt nicht mehr. Die Filme waren für ihn ein Schatz gewesen, so was wie ein Topf voll Goldstücke, und nun einfach weggeworfen. Auf den Müll.
»Das Vertiko ist auch auf dem Müll«, sagte ich. »Man hätte es zerhacken und Feuer damit anmachen können. Schließlich war es gutes, trockenes Holz. Was meinst du, wie das gebrannt hätte.«
»Du Klammtüte! Ich will versuchen, dir zu erklären, was relativ ist«, sagte Joachim. So sprach er selten mit mir, an sich hielten wir zusammen.
»Relativ?« fragte ich.
»Relativ ist, daß die Filme für uns, für mich wenigstens, einen großen Wert hatten, und für andere Leute hatten sie gar keinen. Schwupp und weg. Was hätte ich alles mit den Filmen anfangen können.«
»Vorausgesetzt, es war was Vernünftiges drauf«, sagte ich. »Vielleicht wieder nur Seelöwen und Pinguine.«
Wir bummelten, weil wir früh dran waren. Schließlich mußten wir zu Hause eintreffen, als wenn wir von der Schule kämen. Der Akazienweg war sicher, Wumme arbeitete um die Zeit, er war Lehrling bei einem Schlosser. Mit den anderen Laubenkindern nahmen wir es jederzeit auf. Wir liefen über die Brücke. Tief saß die Schmach in uns.
Wir stahlen uns in die Wohnung, die Tante guckte auf den Stundenplan und auf die Uhr, in der Ecke vom Eßzimmer stand eine Standuhr. So eine, die alle Viertelstunde gongte. Wir waren davongekommen.
Unser Ausflug ins Schützenhaus hatte jedoch ein Nachspiel. Am nächsten Tag, als wir aus der Schule kamen, saß am Tisch dieser Maurer. Er saß mit meinem Vater da und hatte seinen grünen Hut auf das grüne Tischtuch gelegt. Es waren zwei verschiedene Grüns. Der Maurer schwitzte und wischte sich mit einem karierten Taschentuch die Stirn.
»Wollen Sie Kaffee?« fragte ihn Tante Deli.
»Lieber einen Schnaps«, sagte der Maurer.
Wir wollten vorbeiwischen, aber unser Vater sagte: »Halt!«
Wir blieben stehen, Joachim schielte fürchterlich, die Brille war in der Reparatur. Unser Vater sagte: »Dies ist Herr Klobinski, der Polier. Herr Klobinski sagt mir, ihr hättet ihn besucht?«
»Nicht direkt«, sagte ich. »Wir waren im Schützenhaus, ja.«
Joachim trat mir blitzschnell ans Schienbein.
»Ich denke, ihr habt Stubenarrest?« fragte mein Vater.
Bevor wir antworten konnten, sagte Herr Klobinski, der Polier:
»Es war nett. Sie interessieren sich.«
»Den Teufel«, sagte mein Vater. »Raus!«
Er meinte nicht Herrn Klobinski, sondern uns. Wir machten, daß wir in unser Zimmer kamen. Durch die offene Tür hörten wir, daß mein Vater Grund gehabt hätte, auch Herrn Klobinski rauszuwerfen. Die Maurer waren nämlich nicht gekommen. »Es ist mir sehr unangenehm«, sagte Herr Klobinski, »sie waren bestellt. Die Partie. Keiner ist gekommen. Ich werde mich kümmern. Vor dem Winter ist alles unter Dach und Fach. Das schwöre ich.«
»Schwören Sie nicht«, sagte mein Vater, »sputen Sie sich. Ran an die Ramme. Prost!«
Wahrscheinlich tranken sie jetzt Schnäpse. Herr Klobinski ging. Mein Vater kam in unser Zimmer. Er setzte sich auf die Ecke von dem Tisch, der vor dem Fenster stand. »Wieso?« fragte er.
»Was, wieso?«
»Wieso wart ihr im Schützenhaus?«
Mein Bruder erklärte: »Damals, bei unserer ersten Besichtigung, haben wir ein paar olle Filmspulen gefunden. Für Heimkino. Nichts Besonderes, Eisbären und so. Aber auf einer war Chaplin mit einem kleinen Hund. Ich dachte, wir könnten einen Apparat bauen und die Filme laufen lassen. Ich dachte, wir könnten Kino machen, in dem kleinen Saal im Schützenhaus. Für die Kinder. Ich dachte, später, wenn ich erwachsen bin, könnten wir im großen Saal Kino machen für die Großen. Richtiges Kino. Wie das Heli. Dort spielten sie ›Jettchen Gebert‹, aber das ist nicht jugendfrei.«
»Eigentlich«, sagte mein Vater, »sollte ich euch ein paar lakkieren, daß ihr denkt, Ostern und Pfingsten fallen auf einen Tag. Als ich Leibgarde-Husar war, mußten wir auch tun, was befohlen war. Zu Befehl, und basta.«
»Der Krieg ist vorbei«, murmelte ich.
»Halt die Klappe«, sagte mein Vater. Und zu Joachim gewandt: »Du willst also Filme vorführen?«
Joachim nickte und plierte mit seinem Auge.
»Und euer Apparat? Funktioniert der?«
»Wir haben technische Probleme«, sagte Joachim. »Mal fördert der Film nicht, und dann haben wir keine Ahnung, was für eine Lampe wir brauchen.«
»Wie lange bastelt ihr schon dran?«
»Seit wir die Filme gefunden haben.«
»Seit ihr sie geklaut habt.«
»Es war Müll«, sagte Joachim. »Wir wollten die anderen Filme holen, aber die Müllmänner hatten sie abgeholt. Das Vertiko auch und alles. Herr Klo…, der Polier, hat gesagt, alles ist abgeholt. Vom Müll.«
Mein Vater stand auf. »Einwandfrei ist das nicht«, sagte er. »Aber gut, ihr braucht einen richtigen Apparat. Einen, der funktioniert. Und natürlich Filme. Wollt ihr euch das Geld dafür verdienen?«
»Ehrlich?« sagte Joachim.
Mein Vater nickte. »Der Schießstand muß gesäubert werden. Alle Disteln raus. Dann die Kegelbahn. Ihr könnt jeden Nachmittag antreten. Ab morgen. Der Stubenarrest ist aufgehoben. Die Stunde fünfzig Pfennig. Alles klar?«
Tante Deli kam. »Deine Brille«, sagte sie zu Joachim.
Joachim setzte die Brille auf. Er schielte weniger.
Am Nachmittag besuchten wir Benjamin und erkundigten uns, wo er seinen Projektor herhatte. »Ihr wollt so ’n Ding kaufen?« erkundigte er sich hochmütig. Wir erklärten ihm, daß wir jetzt Geld verdienten. Er sah uns ungläubig an, aber da er uns nicht traute, nie getraut hatte und es auch fürderhin nicht tun würde, ging er auf uns ein. »Eine Firma in der Stadt verkauft so ’ne Apparate«, sagte er und wühlte in Katalogen. »Hier. Heimkino. Kolonnenstraße. Ich hab’ damals die Anzeige gesehen, und dann hab’ ich mir so ’n Ding gewünscht.«
So einfach war das. Benjamins Vater war Inhaber einer Zigarrenfabrik, mein Vater rauchte seine Marke, bezog sogenannte Fehlfarben, die waren billiger, weil das Deckblatt nicht einwandfrei gefärbt war.
Auf der Anzeige starrten eine elegante Mutter und ein kleines Mädchen auf die Leinwand. Dort schritt ein Herr mit einem Hund durch einen Park. »Vati«, rief das Mädchen. Die Annonce setzte voraus, daß man seine eigenen Filme kurbelte und die dann mit einem Projektor Marke »Heimkino« zu Hause spielte. Wollten wir das?
»Wollen wir so was?« fragte ich Joachim. Der hatte die Brille hochgeschoben und prüfte Benjamins Apparat. »Vielleicht ’ne Nummer zu klein. Verstehst du, Benjamin, wir wollen richtiges Kino machen, in dem kleinen Saal vom Schützenhaus.«
»Ihr habt nicht alle Tassen im Schrank«, sagte Benjamin.
An die nächsten Wochen und Monate erinnere ich mich als eine Zeit der Hektik. Mein Vater fand das Motto für diese Situation, aus seiner Perspektive: »Kinder, ich komme ja kaum noch ins Bett.« Wir rodeten die Disteln von den Böschungen des Schützenhaus-Schießstandes, rupften die Brennesseln rings um die Kegelbahn. Sie wurde zuerst in Betrieb genommen, während am Haupthaus noch gebaut wurde. Diesen Herbst blieb es lange schön, und eine Menge Leute kamen zum Kegeln hinaus. Daß im Schützenhaus wieder »was los« war, sprach sich herum.
Sternchen Siegel rollte ein Faß heran und eröffnete eine provisorische Schank, damit die Leute ihren Durst stillen konnten. Wir machten abwechselnd die Kegelburschen, stellten die Kegel wieder auf. Wer alle Neune schob, schmiß eine Lage, das war Tradition. Manchmal kam unser Vater und schob ein paar Kugeln mit, er mochte sich gern mit den Leuten unterhalten. War wohl auch neugierig, was sie hierherzog, ob sie wiederkommen, ob sie Freunde mitbringen würden.
Einmal kam Wilfried Wumme mit einer Schar von Freunden, die nicht ungefährlicher aussahen als er. Sie tranken eine Unmenge Bier und brachten Joachim und mich in Trab. Das Kegelaufstellen ging ihnen nie schnell genug. Am Schluß, als sie aufbrachen, stellte Wumme sich ganz nahe vor uns, so daß wir seinen Bieratem riechen konnten, und fragte:
»War’s schön an der Brücke?«
Joachim plierte durch seine Brille und sagte nichts. Da ich in der Nähe Sternchen hantieren sah, riskierte ich eine große Klappe und sagte: »Die Gegend hat noch stundenlang nach dir gestunken, Wumme.« Ich dachte, jetzt klebt er mir eine, aber er lachte und zog mit seinen Freunden ab.
Weniges aus jenen Tagen ist mir dermaßen deutlich in Erinnerung. Eine Zeitlang saßen wir in der Königstraße zwischen Umzugskisten, was man brauchte, fand man nicht, das meiste war bereits verpackt. Eines Tages gab es nicht einmal mehr eine Bratpfanne. Dann kamen Möbelwagen von Thiele Witwe, gelb mit blauen Diagonalstreifen, auf denen weiß der Firmenname prangte, und luden ein. Zum Schluß stellten sie den Kronleuchter auf eine Kiste. Anneli hatte einem Möbelmann im letzten Augenblick den Puppenwagen mit dem Hundekind drin entrissen, sie bestand darauf, mit diesem Puppenwagen zum Schützenhaus umzuziehen, eine Mitfahrgelegenheit, durch Thiele Witwes Leute angeboten, verschmähte sie.
Was wurde aus der alten Wohnung in der Königstraße? Ich erinnere mich, daß sie von einem gewissen Herrn Rupprecht gemietet wurde, Rupprecht mit Nachnamen. Die Wohnung, bei uns einigermaßen hell, war nun mit dunklen Tapeten ausgestattet, an den Wänden standen schwere Möbel mit gedrehten Säulen, heute weiß ich: imitiertes flämisches Barock. Herr Rupprecht sah ein bißchen so aus, wie er hieß. Er trug einen weißen Vollbart wie heutzutage nur noch russische Dichter und schlurfte in Pantoffeln in seinem düsteren Reich umher. Er lebte allein, ohne Frau und ohne Kinder. Dafür gab es Lieschen im Haus, Lieschen, die Portierstochter.
Einmal lockte sie uns, als wir Herrn Rupprecht besuchten, in den Holzschuppen auf dem Hof. Es war dämmrig da drin, nur durch ein paar Ritzen fiel Licht. »Wißt ihr, was poussieren ist?« flüsterte Lieschen. Joachim sagte: »Klar.« Es schien ihm aber gar nicht klar zu sein, wahrscheinlich hatte er, genau wie ich, dieses Wort noch nie gehört. »Also. Erklär’s«, befahl Lieschen. »Poussieren ist«, stotterte Joachim, »w-wenn man …«
Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Na, egal«, sagte Lieschen großmütig. »Habt ihr ’n Groschen?«
»Wozu?«
»Wenn ihr mir ’n Groschen gebt, könnt ihr mein Ding sehen.«
Joachim wühlte in seiner Tasche und förderte einen Groschen zutage, den er Lieschen überreichte. Lieschen drehte sich um, schlug kurz den Rock hoch und wieder runter. Wir sahen ein weißes Höschen blitzen. Lieschen drehte sich um, das Weiß in ihren Augen blitzte ebenfalls. »Beschiß«, sagte ich, »du wolltest uns dein Ding zeigen.« Lieschen lachte. »Is denn ’ne Unterhose keen Ding?« fragte sie und rannte aus der Tür.
Genau weiß ich noch, daß Anneli nicht mit ihrem Puppenwagen durch den Sandweg karriolte. Mein Vater hatte eine Taxe bestellt, sein Regimentskamerad Ede Kaiser betrieb ein Taxengeschäft in der Kolonie Tausendschön. Herr Kaiser lud uns in seinen Adler. »Kinder uff die Klappsitze«, sagte er.
Mein Vater machte einen Witz, den wir öfter vorgeführt bekamen, nämlich immer, wenn Herr Kaiser kam. »Ich grüße meinen Kaiser«, sagte unser Vater und legte die Hand an den Kopf oder, falls er einen Hut trug, an den Hutrand wie zum militärischen Gruß. Herr Kaiser antwortete dann regelmäßig: »Wer schützt das Vaterland mit Macht, wenn’s blitzt und kracht? – Das macht Reserve neunzehnhundertacht.«
»Ungeheuer witzig«, flüsterte Joachim.
Tante Deli schaukelte neben meinem Vater im Rückpolster und hielt Zeppelin am Halsband. »Das gute Geld«, murmelte sie. »Wir hätten laufen sollen. Hoffentlich wird dem Hund nicht schlecht. Nachher kotzt er noch die Taxe voll. Wer soll das wegmachen? – Mein Gott, die Verschwendung.«
Mein Vater grinste, sog an seiner Zigarre und füllte den Adler mit blauem Rauch. »Regimentskamerad Kaiser muß auch was verdienen«, sagte er.
Im oberen Stockwerk des Schützenhauses verteilten sich unsere Möbel wie gewohnt. Ein paar Wände waren herausgerissen worden, so daß ein Raum ähnlich wie unser Eßzimmer in der alten Wohnung aussah, bald hing der Kronleuchter wieder über dem Tisch. Eine Tür führte zum Schlafzimmer meines Vaters. Neu war, daß Tante Deli das Zimmer gleich neben seinem bekommen hatte. Dann schloß sich die Küche an, und ganz am Ende des Flurs lagen die Kinderzimmer.
Alles war heller als in der alten Wohnung. Durch die Fenster sahen wir in die Kronen der alten Bäume, sie hatten, der Jahreszeit entsprechend, ihre Blätter verloren, die Sonne drang ungehindert in die Zimmer und erfüllte sie mit Licht. »Direkt bongforzjonös«, sagte Joachim. »Unterkunft für Luxus-Kegeljungs. Unserem Vater sei gedankt.« Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Und jetzt ins Kino«, sagte er.
Hinter der renovierten Gaststube lag der nun weiß ausgemalte kleine Saal. Nach und nach richteten wir ihn ein. Wir stellten Stuhlreihen auf und schließlich den Projektor. Ein gespanntes Bettlaken diente als Projektionsfläche. Einen Tag vor Weihnachten luden wir zur Kinderfilmpremiere ein: »Charlie Chaplin und der kleine Muck. Eintritt fünf Pfennige«.
Natürlich traten Charlie Chaplin und der kleine Muck nicht zusammen auf, es waren zwei Filme, unser gefundener Film »Hundeleben« und ein Märchenfilm.
An den Projektor waren wir im letzten Augenblick gekommen. Unser Vater hatte uns den Restbetrag zugeschossen – als Weihnachtsgeschenk. In der Kolonnenstraße gab es einen Heimkino-Laden, wie wir von Benjamin wußten. Die Inhaberin nannten wir »das Plumpsklo«. Wenn sie lachte, machte sie einen runden Mund wie das Loch im Brett der Klos auf dem Land oder in der Laubenkolonie. Und das Lachen kam aus ihr heraus – ich zitiere Joachim – »wie die Kötel aus einem Arschloch«. Aber eigentlich war sie eine ganz hübsche Frau, die uns bei unseren Dutzend Besuchen geduldig alles erklärte, was man über Projektoren und Filmerei wissen mußte.
Dank Vaters Weihnachtsspende entschieden wir uns für einen Bing-Projektor mit Elektromotorantrieb, Lichtbogenlampe und geschlossenem Kühlgebläse. Benjamin war um Längen geschlagen. Seinen Handkurbelapparat konnte er sich an den Hut stecken samt der langweiligen Filme, die es bei ihm zu sehen gab.
Erst jetzt, da ich unsere Geschichte erzähle, eine alltägliche Geschichte ohne Besonderheiten, fällt mir auf, daß wir keine Freunde hatten. Anneli spielte mit ihren Puppen und ausgestopften Hunden und mit Zeppelin, den sie nach wie vor »Zellepin« rief. Wir Jungs, Joachim und ich, waren in unseren Kinowahn verstrickt, Freundschaften hatten da nicht Platz. Nur mit Sternchen Siegel waren wir in einer besonderen Weise befreundet. Er übernahm immer mehr Aufgaben im Schützenhaus, und jeden Morgen fuhr er mit seinem blankgeputzten Rennrad vor. Aber er war älter als wir, eine Institution mehr als ein Freund, obwohl er uns half, wo er nur konnte.
Sternchen Siegel hatte auch mit uns zusammen den zerlegten Projektor von der Kolonnenstraße zum Schützenhaus herausgeschleppt und geholfen, ihn zusammenzubauen. Plumpsklo hatte uns geraten, Spulenaufsätze für mehrere Systeme zu nehmen, denn damals wurden Filme mit unterschiedlichen Spulen angeboten, fünfunddreißig Millimeter und neuneinhalb breit, und noch mehrere andere Formate.
Zur Kinopremiere hatten wir unsere Mitschüler eingeladen und überall Plakate angeschlagen. Ungefähr zwanzig Kinder saßen im Saal, manche begleitet von ihren Müttern. Wir hatten dreißig Stühle aufgestellt, der kleine Saal war voll.
»Ich glaube, ich habe ein bißchen Lampenfieber«, sagte Joachim. Dann knipste ich das Licht aus, unsere erste Vorführung begann. Der Projektor summte, auf der Leinwand erschienen schwärzliche Streifen. Sternchen Siegel, der neben uns stand, flüsterte: »Wie im Ruhrjebiet, wenn’t regnet.« Dann jedoch: heftiges Flackern, irgend etwas nicht Erkennbares, Joachim regulierte die Scharfeinstellung, und da war er: Charlie Chaplin. Unser Charlie aus dem Schützenhaus-Filmkarton.
Wir wickelten, ich bin heute noch stolz darauf, das Programm reibungslos ab. Die Kinder lachten, nach jeder Spule klatschten sie. Weil Weihnachten war, lud mein Vater anschließend sämtliche Kinder zu Faßbrause ein.
Die Schützenhaus-Lichtspiele waren eröffnet.
Nur Joachim schien nicht zufrieden. Am nächsten Morgen, als wir den Saal aufräumten, sagte er: «Weißt du, was fehlt?«
Ich schüttelte den Kopf. Joachim stützte sich auf den Besen, mit dem er den Boden kehrte. «Musik fehlt. Einer, der am Klavier sitzt und Musik macht. Und dann einer, der erklärt. Wie im richtigen Kino.«