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ZUM GELEIT

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Zwei- oder dreimal bin ich ihm begegnet, dem großen Friedrich Torberg. Es war in seinen letzten Lebensjahren, er war Ende sechzig, ich Mitte zwanzig. Da saß er also, der Kronzeuge einer untergegangenen Epoche, in der er Giganten wie Karl Kraus, Franz Molnár, Anton Kuh und Egon Friedell nahe stand. Und ich daneben, ein junger Reporter, der gar nicht erfassen konnte, wer sein Gegenüber eigentlich war.

»Ich gehe nicht mehr ins Kaffeehaus«, sagte Torberg, »denn es gibt kein Kaffeehaus mehr.«

»Es gibt kein Kaffeehaus?«, wagte ich leise Zweifel anzumelden, zumal unser Gespräch an einem runden Marmortisch im Café Landtmann neben dem Burgtheater in Wien stattfand.

»Ja, ja, es gibt Lokale, in denen man Kaffee ausschenkt«, erklärte er, nahm einen Schluck vom Großen Braunen und zog fast gleichzeitig an seiner Zigarette. »Es gibt noch solche Lokale. Aber das, was ich einmal unter einem Kaffeehaus verstanden habe, das gibt es nicht mehr.«

Torberg sprach von der Spezies jener Literatencafés, die tatsächlich 1938, mit dem Einmarsch der Nazis in Österreich, ihrer Stammgäste und damit auch ihrer Funktion beraubt worden waren. Er sprach vom Café Reichsrat, vom Colosseum, vom Herrenhof und dem Central. Von jenen Cafés, deren »Bewohner« (wie Alfred Polgar die darin tätigen Literaten nannte) zu den Hauptdarstellern seiner »Tante Jolesch« zählten.

Torberg hatte mit diesem Buch aber auch zahllosen anderen Typen und Käuzen – berühmten und unbekannten –, denen er in den Jahren zwischen dem Untergang der Monarchie und dem »Anschluss« an Hitlerdeutschland begegnet war, ein unvergleichliches Denkmal gesetzt.

»Dienstag, 11. Mai 1976«, stand, als ich mit Torberg im Landtmann saß, auf den Tagesblättern, die auf den hölzernen Zeitungsständern des ehrwürdigen Ringstraßencafés hingen. Er erzählte mir auch von dem Plan, seiner im Jahr davor veröffentlichten »Tante Jolesch« einen zweiten Band folgen zu lassen. »Die Erben der Tante Jolesch« sollte er heißen – und er ist dann tatsächlich unter diesem Titel erschienen. Denn als er die fertige »Tante Jolesch« in Händen hielt, erklärte mir Torberg, sei ihm immer wieder etwas eingefallen: »Um Gottes willen, damals hat ja der Friedell gesagt …«

Abgesehen von den Erinnerungen an die wenigen persönlichen Begegnungen bin ich im Besitz einer Ansichtskarte, die Torberg mir von der Frankfurter Buchmesse 1973 schickte, auf der sich nur ein paar Dankesworte für einen über ihn veröffentlichten Artikel finden. Und doch habe ich die Karte aufgehoben, enthält sie doch die Handschrift eines von mir Verehrten, der mit der »Tante Jolesch« ein »Buch der Wehmut« geschrieben hat. Ein Buch der Wehmut, in dem man von der ersten bis zur letzten Seite lächeln und sehr oft auch lachen kann.

Zur Berechtigung – oder nennen wir’s lieber: Frechheit –, die »Tante Jolesch« um einen dritten Teil zu erweitern, hinterlässt uns Friedrich Torberg auf Seite 275 der »Erben« einen Satz, den er im Anschluss an eine Schwejk’sche Geschichte, ganz in der Diktion von Jaroslav Hašeks »Bravem Soldaten«, formulierte: »Wenn ich jetzt nicht bald Schluss mache, bleibt mir noch übrig auf eine dritte ›Tante Jolesch‹.«

Die Worte zeigen, dass Torberg einen dritten Band nicht ausschloss. Dieser sollte ihm und uns nicht vergönnt sein, denn er starb 1979, wenige Monate nach dem Erscheinen der »Erben«.

Hatte er im ersten Band von den Originalen und dem jüdischen Bürgertum des versinkenden Kaiserreichs und der Ersten Republik – um die Zeit ganz grob zu umreißen – erzählt, so ist der zweite um deren Töchter und Söhne erweitert, die emigriert waren oder hier dem Tod entkamen. »Die Erben«, das waren Max Reinhardt und die Werbezirk, Alma Mahler-Werfel und Armin Berg, man findet aber auch Geschichten, die ebensogut im ersten Teil hätten stehen können, Torberg jedoch erst später einfielen.

Fest steht, dass uns die Tante Jolesch nicht nur »Erben« der ersten, sondern auch der zweiten Generation hinterlassen hat. Jene »Enkel« also, die einen grausamen Krieg und die Gaskammern der Nazis überlebten. Die es nach London, Shanghai, Genf, Buenos Aires oder Los Angeles verschlagen hatte. Und von denen viele, als der Spuk vorbei war, zurückkehrten und Österreich wieder aufzubauen halfen.

Da gab’s keine Köchinnen und keine Kinderfräuleins mehr, keinen Pferde-Omnibus und keine Gutshöfe der böhmischen Verwandtschaft, wie Torberg sie auf unnachahmliche Weise beschrieben hatte. Und es gab keinen Friedell und keinen Karl Kraus, keinen Anton Kuh und all die anderen, die Wien um jene heiter-besinnliche Atmosphäre jüdischen Geisteslebens bereichert hatten. Und das war auch der Grund, warum Torberg »Die Tante Jolesch« mit dem Untertitel »Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten« versehen hatte.

Teile dieses Abendlandes sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder auferstanden. Und von dieser Zeit – um auch sie wieder nur ganz grob zu umreißen – und ihren Originalen handelt dieses Buch. Bad Ischl, St. Gilgen, der Semmering, Reichenau, Baden, Vöslau, Gastein und Aussee wurden wieder Sommerfrischen, und Wien blieb wieder Wien (auch wenn ihm das, laut Hans Weigel, ganz recht geschieht). Ja, und da sind oder waren noch Karl Farkas und Hugo Wiener, Maxi Böhm, Ernst Waldbrunn, Helmut Qualtinger, Gerhard Bronner, Attila und Paul Hörbiger, Friedrich Hacker, Ernst Haeusserman, Billy Wilder, Marcel Prawy, Otto Schenk, Fritz Muliar und viele, viele andere, auch mit weniger klangvollen Namen, aber nicht minder ausgeprägtem Sinn für die Kunst des geistvollen Pointensetzens. Was sie uns diesbezüglich hinterließen – und ihre Erinnerungen reichen bis an den Beginn des Jahrhunderts zurück – darf nicht verloren gehen.

Darum hab ich’s jetzt niedergeschrieben, wissend, dass mir der eine oder andere die Anlehnung an Torbergs »Tante Jolesch« zum Vorwurf machen wird. Es ändert nichts daran, dass ich’s ewig schad fände, die Sprüche und Anekdoten ihrer Enkel und Urenkel in Vergessenheit geraten zu lassen.

Was immer uns die Tante Jolesch Zitierenswertes hinterlassen hat, ist längst sprichwörtlich geworden. »Was ein Mann schöner is wie ein Aff, is ein Luxus« ebenso wie »Ein Gast ist ein Tier« oder »Alle Städte sind gleich, nur Venedig is e bissele anders«. Und das, obwohl sie genau genommen gar nicht die Hauptdarstellerin der Torberg’schen Erinnerungen ist, sondern – wie er selbst es schreibt – »sozusagen die Gallionsfigur des Narrenschiffes ›Abendland‹, als es Kurs auf Untergang nahm«. Im Mittelpunkt seines Buches stehen ganz andere Käuze dieser Zeit, die Redakteure des »Prager Tagblatts«, Schauspieler, Schriftsteller, Kaffeehaus-Gäste und Oberkellner, Advokaten und Seelenärzte, Meisterschwimmer und Kartenspieler …

Torberg in jeder Weise treu bleibend, will ich den Ablauf ähnlich gestalten, und bei der mir bekannten Tante Jolesch beginnen, um später dann auf die Käuze und Originale unserer Zeit – seien sie berühmt geworden oder nicht – zu sprechen zu kommen.

Ich hatte das Glück, vielen von ihnen begegnet zu sein. Ihre Geschichten haben mein Leben bereichert. Ich hoffe, mit diesem Buch ein wenig von dieser Bereicherung weitergeben zu können.

GEORG MARKUS

Wien, im Juli 2001

Die Enkel der Tante Jolesch

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