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GESTERN IST HEUTE Vorwort

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Was kann denn neu sein, wenn man von Gestern schreibt?

Erstaunlich vieles. Denn die Geschichte bleibt nicht stehen an jenem Tag, an dem sich etwas Außergewöhnliches, auch spätere Generationen Bewegendes ereignet. Neue Erkenntnisse kommen hinzu, aktuelle Begebenheiten rücken historische Stunden ins Heute. Wenn, um ein Beispiel zu nennen, neunzig Jahre nach Sarajewo die Rückgabe jenes Autos bei Gericht eingeklagt wird, in dem Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie erschossen wurden – dann wird ein Stück Geschichte lebendig.

Noch dazu, wenn sich zu den damaligen Geschehnissen neue, bisher unbekannte Dokumente finden – wie im vorliegenden Fall die Aufzeichnungen des Grafen Harrach, der nicht nur der rechtmäßige Besitzer des Fahrzeugs, sondern auch Kronzeuge des Attentats war. Stand er doch auf dem Trittbrett des Wagens, nur wenige Zentimeter von den beiden Mordopfern entfernt, als die Schüsse fielen, die das 20. Jahrhundert verändern und ins Chaos stürzen sollten.

Neues findet sich auch, wenn in Wiens Kunsthistorischem Museum bei Nacht und Nebel die weltberühmte Saliera gestohlen wird, man aus diesem Grund dem Lebensweg ihres Schöpfers nachgeht – und dabei herausfindet, dass der geniale Künstler ein mehrfacher Mörder war.

In einem anderen Kapitel berichte ich von acht prominenten Personen, die eines gemeinsam haben: Sie alle wurden mehr als einhundert Jahre alt. In den Lebenswegen von Rose Kennedy, »Queen Mum«, Irving Berlin, George Burns, Liane Haid, Francis Lederer, Rosa Albach-Retty und Johannes Heesters findet sich manche Gemeinsamkeit, die vielleicht die eine oder andere Erklärung für das Erreichen ihres Methusalem-Alters liefern mag.

Ziemlich lebendig erschien mir die Geschichte auch, als ich auf Informationen stieß, die besagen, dass eine der berühmtesten Filmmelodien aller Zeiten – das Harry-Lime-Thema aus dem Dritten Mann – angeblich nicht vom Wiener Heurigenmusiker Anton Karas stammt, sondern von einem Musikalienhändler auf der Alser Straße. Ich ging dem »Fall« ebenso nach wie einem anderen aus der Musikgeschichte: Aus der Korrespondenz zwischen Richard Strauss und einem Gymnasialdirektor geht hervor, dass der Komponist nach dem Zweiten Weltkrieg eine ganze Oper komponiert hat – damit sein Enkelsohn in die nächsthöhere Klasse aufsteigen kann.

Neues zeigt die Geschichte im Fall des amerikanischen Nationalhelden Charles A. Lindbergh, aus dessen Leben jetzt erst Details auftauchten, die alle bisher geschriebenen Biografien auf den Kopf stellen.

Oder wenn man in Sachen Mayerling recherchiert und dabei ausnahmsweise einmal nicht auf die Baronesse Mary Vetsera stößt, sondern auf Mizzy Caspar, die tatsächliche letzte Geliebte des Kronprinzen Rudolf, deren freizügiges Privatleben von Detektiven der Polizeidirektion Wien minuziös durchleuchtet wurde.

In anderen Kapiteln zeigt sich die Geschichte auch von ihrer originellen Seite. So machte ich es mir zur Aufgabe, Österreichs wohl berühmtester Tante auf die Spur zu kommen: der Tante Jolesch. Friedrich Torberg hat ihr ein hinreißendes literarisches Denkmal gesetzt, doch galt es nun ein wenig von der Identität jener Tante zu lüften, die längst zum Synonym für den jüdischen Humor der Zwischenkriegszeit geworden ist.

Ich wusste zwar, um ein weiteres, eher erheiterndes Beispiel zu nennen, dass sich Poldi Waraschitz den Ehrentitel eines »Schnorrerkönigs« redlich und hart erarbeitet hat, doch wurde mir erst dreißig Jahre nach seinem Tod ein Manuskript zugespielt, in dem er die Geheimnisse seines einst vielbeachteten Schnorrerdaseins kundtat.

Zu guter Letzt hat es das Schicksal zugelassen, dass ich drei Monate vor seinem Tod Gelegenheit hatte, mit Österreichs großem Kirchenfürsten, Franz Kardinal König, ein ausführliches, sehr persönliches Gespräch zu führen. Der langjährige Erzbischof von Wien erinnert sich an sein 98 Jahre währendes Leben, er kommt in dem Kapitel aber auch auf die geheimnisvolle Welt des Vatikans, auf sein hohes Alter und auf das Abschiednehmen zu sprechen. Schließlich verrät er noch manch interessantes Detail aus dem Konklave, an dem er bei drei Papstwahlen teilgenommen hat.

Neben den bisher beschriebenen Kapiteln findet sich auch Neues/Altes aus der Welt des Theaters und der Liebe, aus dem Kaiserhaus, der Kriminalgeschichte, von Forschern, Pionieren und Lebenskünstlern, von Typen und Originalen. Ein Bericht befasst sich schließlich mit jenen Ländern, die bis 1918 Teil der Donaumonarchie waren und seit kurzem – durch ihren Beitritt zur Europäischen Union – wieder in enger Verbindung mit Österreich stehen.

Zwei tragische Abschnitte sind Anne Frank und ihrem Tagebuch sowie dem Leben und Sterben des großen Tenors Joseph Schmidt gewidmet.

Deren Schicksale hätten ganz anders verlaufen können, wäre es tatsächlich zu dem fiktiven Treffen gekommen, das im letzten Kapitel beschrieben wird: Adolf Hitler begibt sich in Sigmund Freuds Ordination in die Wiener Berggasse.

Dieses Buch will aufzeigen, dass es in der Geschichte nicht um trockene Daten aus fernen Zeiten geht, sondern um die Lebenswege vieler einzelner Menschen. Und damit um unsere eigene Vergangenheit, um das Geschehen, das ins Heute führt.

Gestern ist heute.

GEORG MARKUS

Wien, im Juli 2004

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